Wie die Mutter, so die Tochter? Neuigkeiten vom EuGH zur kartellzivilrechtlichen „Konzernhaftung“

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Wie die Mutter, so die Tochter? Neuigkeiten vom EuGH zur kartellzivilrechtlichen "Konzernhaftung"

18. Juni 2021

Der Europäische Gerichtshof ("EuGH") hat sich mittlerweile in einer Vielzahl von Entscheidungen zu Fragen des Kartellschadensersatzrechts geäußert und dessen europarechtliche Akzentuierung stetig vorangetrieben. Was in konzerndimensionaler Hinsicht mit "Skanska" (C‑724/17) begonnen hatte, dürfte durch das Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache "Sumal" (C-882/19) eine weitere Konturierung erfahren und die private Rechtsdurchsetzung zu Gunsten von Geschädigten eines Kartells (vermutlich) weiter stärken. Die Rede ist von der Frage, wer nach den Grundsätzen des funktionalen Unternehmensbegriffs im Kartellschadensersatzprozess passivlegitimiert ist. Dies ist unproblematisch, wenn sich ein potentiell Geschädigter mit seinem Schadensersatzbegehren direkt an den Adressaten der kartellbehördlichen Bußgeldentscheidung wendet. Ungleich schwieriger ist die Frage nach der Passivlegitimation zu beantworten, wenn sich der Kläger nicht an den jeweiligen Adressaten, sondern an die am Kartellrechtsverstoß unbeteiligte Mutter- oder Tochtergesellschaft wendet. Mittlerweile liegen die Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in dem Vorabentscheidungsverfahren "Sumal" vor und liefern (zumindest vorläufige) Antworten auf diese Frage(n). Zusammengefasst votiert GA Pitruzzella sowohl für eine "aufsteigende" gesamtschuldnerische Haftung der Mutter- für die Tochtergesellschaft als auch für eine "absteigende" gesamtschuldnerische Haftung der Tochter- für die Muttergesellschaft im schadensersatzrechtlichen Kontext dann, wenn die Voraussetzungen für die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit vorliegen und die Tochter einen Beitrag zu dem Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft geleistet hat.

I. HINTERGRUND DES VORLAGEBESCHLUSSES

Der spanische Containerhersteller Sumal, S.L. (Sumal) verklagte Mercedes Benz Trucks España, S.L. (MBTE), eine spanische Tochtergesellschaft der deutschen Daimler AG (Daimler), auf Schadensersatz in Höhe von EUR 22.204,35. Ausgangspunkt des Schadensersatzbegehrs von Sumal bilden die am 19. Juli 2016 erlassenen Bußgeldbescheide im LKW-Kartell, wonach die Europäische Kommission aufgrund wettbewerbswidriger Preisabsprachen namhafter LKW-Hersteller, u.a. Daimler, Bußgelder i.H.v. EUR 2,93 Mrd. verhängte. Die Klage von Sumal wurde vom Gericht der ersten Instanz aufgrund fehlender Passivlegitimation von MBTE als unzulässig abgewiesen. Die Richter argumentierten, dass Daimler als Muttergesellschaft des Konzerns den Kartellrechtsverstoß begangen habe und nicht deren spanische Tochtergesellschaft MBTE. Aufgrund divergierender Urteile spanischer Gerichte zur Frage der Passivlegitimation, hat das Berufungsgericht dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens die Frage vorgelegt, ob auch die (unbeteiligte) Tochter- für den Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch hafte.

II. "AUFSTEIGENDE HAFTUNG" DER MUTTER- FÜR DIE TOCHTERGESELLSCHAFT?

Die gesamtschuldnerische Haftung einer Mutter- für den Kartellrechtsverstoß ihrer Toch-tergesellschaft ist im Kartellbußgeldverfahren seit langem anerkannt. Möglich ist die Zu-rechnung kartellrechtswidrigen Verhaltens durch die Feststellung der wirtschaftlichen Ein-heit, wonach mehrere rechtlich voneinander unabhängige Unternehmen als ein Unter-nehmen i.S.d. Art. 101 AEUV angesehen werden, wenn sie auf dem jeweils zu identifi-zierenden Markt einheitlich handeln. Damit weist das Kartellrecht einen eigenständigen Unternehmensbegriff auf, der unabhängig vom gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip besteht. Ausgangspunkt zur Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit ist der bestimmen-de Einfluss der Mutter- über die Tochtergesellschaft. Dieser führt letztlich dazu, dass die Tochtergesellschaft (trotz eigener Rechtspersönlichkeit) nicht als am Markt autonom agierendes Unternehmen angesehen wird, weil es im Wesentlichen die Weisungen der Muttergesellschaft befolgt. Unproblematisch kann der bestimmende Einfluss (widerleg-bar) vermutet werden, wenn die Muttergesellschaft direkt oder über eine ununterbroche-ne Kette (mittelbar) eine nahezu 100% ige Beteiligung an der Tochtergesellschaft oder sämtliche mit den Aktien der Tochtergesellschaft verbundene stimmberechtigte Anteile hält. Die Theorie der wirtschaftlichen Einheit wurde durch die Europäische Kommission seit den 1970er Jahren beständig fortentwickelt. Gleichzeitig wurden die Kriterien, die zur Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit herangezogen werden, erweitert. So ist im Rahmen des bestimmenden Einflusses als Grundvoraussetzung vor allem die Bewertung der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen den jeweiligen Gesellschaften entscheidend, wenn es um die Beurteilung geht, ob zwei (oder mehrere) Gesellschaften sich am Markt einheitlich verhalten (= wirtschaftliche Einheit).

In der Rechtssache "Skanska" (C-724/17) hat der EuGH die entscheidenden Wertungen in Bezug auf die Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit auf das Kartellschadensersatz-recht übertragen. Die Verantwortlichkeit für Kartellrechtsverstöße, sprich die Passivlegi-timation, werde unmittelbar durch Art. 101 AEUV determiniert. Folglich gelte sowohl im public enforcement als auch im private enforcement der funktionale Unternehmensbegriff gleichermaßen. Die wirtschaftliche Einheit, die rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen bestehen kann, ist nicht nur einheitlicher Urheber der Zuwiderhand-lung und damit bußgeldrechtlich gesamtschuldnerisch verantwortlich, sondern haftet auch zivilrechtlich für die entstandenen Schäden gegenüber den Geschädigten gemeinsam. Aufgrund der besonderen Sachverhaltskonstellation in "Skanska", bei der es im Kern um die Frage der Haftung des Rechtsnachfolgers eines Kartellteilnehmers ging, wurde eine allgemeine zivilrechtliche Haftung der Mutter- für die Tochtergesellschaft nicht expressis verbis festgestellt. Gleichwohl wurde das Urteil in der kartellrechtlichen Praxis vielfach in eben diesem Sinne interpretiert, da die Argumentation des EuGH maßgeblich darauf ba-sierte, dass die wirtschaftliche Einheit als Ganzes hafte. Über den Fall "Skanska" hinaus-gedacht läuft dies konsequenterweise auf eine gesamtschuldnerische, aufsteigende Haf-tung der Mutter- für die Tochtergesellschaft auch im schadensersatzrechtlichen Kontext hinaus. Dieser Leseart schließt sich nun auch GA Pitruzzella ausdrücklich mit der Fest-stellung an, "[…] dass die Tragweite des Begriffs der wirtschaftlichen Einheit, […], nicht nur dann gilt, wenn die Kommission den Umfang des für die Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verantwortlichen Unternehmens und Rechtsträger bestimmt, die in-nerhalb dieses Umfangs gesamtschuldnerisch für die verhängten Sanktionen haften, son-dern auch dann, wenn die durch ein wettbewerbswidriges Verhalten eines Unternehmens im Sinne des Wettbewerbsrechts geschädigten Einzelpersonen die zivilrechtliche Scha-densersatzklage erheben." Auf Basis der festgestellten Grenzen der wirtschaftlichen Ein-heit könne der Betroffene daher wählen, an welche rechtliche Einheit sich das Schadens-ersatzbegehr innerhalb der wirtschaftlichen Einheit richte.

III. "ABSTEIGENDE HAFTUNG" DER TOCHTER- FÜR DIE MUTTERGESELLSCHAFT?

Ausgehend von der Feststellung, dass innerhalb einer wirtschaftlichen Einheit eine aufsteigende gesamtschuldnerische Haftung für die private Rechtsdurchsetzung gelte, spricht sich GA Pitruzzella auch für eine absteigende Haftung innerhalb der wirtschaftlichen Einheit aus. Ausgangspunkt für die Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit sei dabei stets der bestimmende Einfluss der Mutter- auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft. Bezöge man sich jedoch ausschließlich auf den bestimmenden Einfluss zur Begründung der Haftung innerhalb einer wirtschaftlichen Einheit, wäre für eine Haftung der (unbeteiligten) Tochter- für das Verhalten der Muttergesellschaft kein Raum. Definitionsgemäß übe die Tochter- nämlich nie einen bestimmenden Einfluss auf ihre Muttergesellschaft aus. Anknüpfungspunkt könne daher nur das einheitliche Verhalten am Markt zwischen den Trägern der wirtschaftlichen Einheit sein, um eine absteigende Haftung (der Tochter- für die Muttergesellschaft) zu begründen. 

Damit ein Kartellrechtsverstoß der Mutter- ihrer Tochtergesellschaft zugerechnet werden könne, müsse sich die Tochtergesellschaft somit grundsätzlich an der wirtschaftlichen Tätigkeit des Unternehmens beteiligt haben, das von der kartellrechtswidrig handelnden Muttergesellschaft geleitet werde. Im Falle der absteigenden Haftung könne sich die Einheitlichkeit der wirtschaftlichen Tätigkeit im Wesentlichen nur daraus ergeben, dass "[…] die Tätigkeit der Tochtergesellschaft gewissermaßen für die Verwirklichung des wettbewerbswidrigen Verhaltens erforderlich ist (z. B. weil die Tochtergesellschaft die kartellbefangenen Güter verkauft)". Damit wird keine Notwendigkeit einer eigenen, originären Beteiligung der Tochter- an dem Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft gefordert. Ihr Verhalten müsse aber dazu beigetragen haben, dass der Wettbewerbsverstoß umgesetzt wurde, mit anderen Worten, "dass [die Tochtergesellschaft] durch ihr Marktverhalten die Konkretisierung der Auswirkung der Zuwiderhandlung ermöglicht hat." Erst wenn diese Voraussetzung erfüllt sei, haften Mutter- und Tochtergesellschaft als Gesamtschuldner.

Die Schlussanträge von GA Pitruzzella stellen ein Novum in der Haftungszurechnung dar. In absteigender Linie muss neben dem bestimmenden Einfluss eine Beteiligung der Tochter- am Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft dergestalt festgestellt werden, dass aufgrund des einheitlichen Verhaltens am Markt die Tochtergesellschaft die kartellbetroffenen Waren abgesetzt und dadurch den Kartellrechtsverstoß verwirklicht hat.

IV. EINORDNUNG UND AUSBLICK

Die Schlussanträge sind ein weiterer Beleg dafür, dass die private Rechtsdurchsetzung für die Sicherstellung der vollen Wirksamkeit des Art. 101 AEUV als integral angesehen wird. Sollte sich der EuGH den Ausführungen von GA Pitruzzella anschließen, würde sich die unmittelbar durch das Primärrecht determinierte zivilrechtliche Haftungsverantwortlichkeit grundsätzlich auf die wirtschaftliche Einheit und, im Falle einer Haftung in absteigender Linie, auf die Tochtergesellschaft innerhalb der wirtschaftlichen Einheit erstrecken, die einen Beitrag zu dem Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft geleistet hat.

Unterschiedliche wirtschaftliche Einheiten innerhalb eines Konzerns

In konsequenter Anwendung der Feststellungen des Generalanwalts könnte es innerhalb eines Konzerns damit unterschiedliche wirtschaftliche Einheiten geben. Während sich der Konzern nach den gesellschaftsrechtlichen Wertungen bestimmt, folgt die Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit dem kartellrechtlichen, funktionalen Unternehmensbegriff. Welche einzelnen Konzerngesellschaften zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammenzufassen sind, würde sich danach bestimmen, ob diese auf einem sachlich und geografisch zu bestimmenden Markt einheitlich auftreten.

Haftung aller Träger der wirtschaftlichen Einheit?

Da Ausgangspunkt für die Haftung nach der Vorstellung des Generalanwalts die Zugehörigkeit zu der wirtschaftlichen Einheit ist, müssen die vom Generalanwalt formulierten, die Haftung konstituierenden Voraussetzungen in absteigender Hinsicht in der Praxis konsequent angewandt werden, um einer ausufernden Haftung entgegenzuwirken. Danach bedarf es auch unter Zugrundelegung der Überlegungen des Generalanwalts der Feststellung, dass die Tochtergesellschaft wesentlich zu der Verwirklichung des mit dem Kartellrechtsverstoß verbundenen Ziels und dem Eintritt der Auswirkungen der Zuwiderhandlung beigetragen hat. Nach Ansicht des Generalanwalts soll hierfür etwa der Absatz kartellbetroffener Produkte als Kriterium in Betracht kommen.

Auch wenn die Sichtweise des Generalanwalts auf den ersten Blick einleuchten mag, ergeben sich auf den zweiten Blick doch erhebliche Zweifel, ob bereits der bloße Verwirklichungsbeitrag eine schadensersatzrechtliche Haftung der nicht am Kartellrechtsverstoß beteiligten Tochtergesellschaft auslösen kann. Dies gilt umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Tochtergesellschaft in dieser Situation ähnlich einem undolosen Werkzeug handelt, welches weder Wissen noch Wollen in Bezug auf den Kartellrechtsverstoß aufweist und darüber hinaus dem bestimmenden Einfluss der Muttergesellschaft unterliegt. Ein Blick auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache "VM Remonts" (C-542/14) zeigt zudem, dass die Sichtweise des Generalanwalts nicht zwingend ist. In "VM Remonts" setzte sich der EuGH mit der Frage auseinander, wann ein (unbeteiligtes) Unternehmen für die Beteiligung eines selbstständigen (nicht konzernverbundenen) Dienstleisters an einer abgestimmten Verhaltensweise nach Art. 101 AEUV verantwortlich gemacht werden kann. Insofern stellte der EuGH fest, dass, soweit keine Kontrolle über den kartellrechtswidrig handelnden Dienstleister besteht, eine Verantwortlichkeit für dessen Verhalten nur in Betracht komme, wenn das unbeteiligte Unternehmen Kenntnis von dem Kartellrechtsverstoß hatte, diesen bewusst gefördert oder zumindest hätte vorhersehen können. Überträgt man die Konstellation aus dem Verfahren "VM Remonts" auf die absteigende Haftung hätte dies zur Folge, dass eine Haftung nur dann in Betracht kommt, wenn die Tochtergesellschaft (i) die Muttergesellschaft kontrolliert (was definitionsgemäß ausgeschlossen ist, siehe oben), (ii) die Tochter- von dem Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft Kenntnis hatte bzw. diesen fördern wollte oder, wenn (iii) der Kartellrechtsverstoß der Mutter- für die Tochtergesellschaft vorhersehbar war. Sofern weder Wissen noch Wollen bzw. eine Vorhersehbarkeit auf Seiten der Tochtergesellschaft festgestellt werden kann, sprechen trotz bestehender Kontrolle der Mutter- über die Tochtergesellschaft vor allem auch Gesichtspunkte des Eigentums- und Investitionsschutzes gegen eine Haftung der Tochter- für den Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft, insbesondere wenn die Mutter- nicht zugleich 100% der Anteile an der Tochtergesellschaft hält. Andernfalls werden Minderheitsgesellschafter der haftenden Tochtergesellschaft erheblichen finanzielle Risiken für Handlungen ausgesetzt, von denen das haftende Rechtssubjekt selbst keine Kenntnis hatte und die zudem dem Einfluss der Anteilseigner gänzlich entzogen sind.  

Eine derartige "Beschränkung" der Haftung einer unbeteiligten Tochtergesellschaft ist auch mit dem Interesse potentieller Kläger vereinbar, möglichst umfassend und effektiv Rechtsschutz zu erlangen. Sofern die (eingeschränkten) Voraussetzungen einer absteigenden Haftung vorliegen, ist die Inanspruchnahme einer Tochtergesellschaft durch Geschädigte des Kartellrechtsverstoßes der jeweiligen Muttergesellschaft zwar grundsätzlich denkbar. Sind die Voraussetzungen hingegen nicht gegeben, sondern liegt lediglich ein isolierter Verwirklichungsbeitrag der Tochtergesellschaft vor, vermag die Sichtweise des Generalanwalts nicht plausibel zu begründen, wieso sich potentiell Geschädigte nicht primär an den Kartellanten (sprich die Muttergesellschaft) halten müssen. Dies gilt umso mehr, wenn berechtigte Eigentums- und Investitionsinteressen Dritter berührt werden. Vor diesem Hintergrund sprechen die gewichtigeren Gründe für eine weitergehende Einschränkung der Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft für Verstöße der Muttergesellschaft als sie der Generalanwalt aktuell vorschlägt.

In letzter Konsequenz bedeuten die Ausführungen des Generalanwalts, dass sich für die zivilrechtliche Haftung die wirtschaftliche Einheit durch den notwendigen "Verwirklichungsbeitrag" der Tochtergesellschaft situativ und marktbezogen bestimmen lassen muss. Für eine rein schematische Betrachtung dergestalt, dass grundsätzlich jeder Träger einer wirtschaftlichen Einheit stets und automatisch in kartellschadensersatzrechtlichen Fallgestaltungen haftet, ist damit kein Raum. 

Erstreckung der Haftung auf Schwestergesellschaften?

Auf Basis der Argumentation von GA Pitruzzella in der Rechtssache "Sumal" und der des EuGH in der Rechtssache "Skanska" lassen sich noch keine Aussagen zu der Frage der Haftung von Schwestergesellschaften innerhalb eines Konzerns treffen. Legt man die Überlegungen des Generalanwalts zugrunde, wäre eine gesamtschuldnerische Haftung in absteigender Linie jedenfalls dann abzulehnen, wenn eine Schwestergesellschaft in Anspruch genommen wird, die zwar ebenfalls unter dem bestimmenden Einfluss der Muttergesellschaft steht, aber gleichsam nicht auf dem gleichen sachlich und räumlich relevanten Markt tätig ist, etwa weil diese, auf den vorliegenden Fall übertragen, (nicht kartellbetroffene) PKW vertreibt. Dieses Ergebnis lässt sich ferner mit der Schlussfolgerung plausibilisieren, dass es innerhalb eines Konzerns mehrere wirtschaftliche Einheiten geben kann und es für die Bewertung jeweils auf die situativen und marktbezogenen Umstände des Einzelfalls ankommt.

Ausblick

Das Urteil des EuGH wird eine weitere Weichenstellung für das private enforcement bringen und wird daher von der Kartellrechtspraxis mit Spannung erwartet. Unterstellt, dass sich die Luxemburger Richter den Schlussanträgen anschließen, würde die private Rechtsdurchsetzung für Geschädigte eines Kartells durch die "Ausdehnung" der Passivlegitimation ein weiteres Mal gestärkt. Vor dem Hintergrund der Aussage des EuGH in der Rechtssache "Skanska", wonach "Schadensersatzklagen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Union […] einen integralen Bestandteil des Systems zur Durchsetzung dieser Vorschriften [bilden]", erscheint es zumindest wahrscheinlich, dass der EuGH sich der Sichtweise des Generalanwalts anschließen könnte. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass auch im Falle einer solchen Entscheidung die Passivlegitimation in Zukunft keinen Automatismus im Sinne einer unbesehenen Haftung der wirtschaftlichen Einheit darstellen wird. Vielmehr wird weiterhin anhand des konkreten Einzelfalls zu prüfen sein, wen ein potentiell Geschädigter, v.a. in absteigender Linie, tatsächlich im Zusammenhang mit kartellschadensersatzrechtlichen Forderungen in Anspruch nehmen kann.

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Update: Aktuelles zur deutschen Fusionskontrolle – Bundesgerichtshof stellt Untersagungsvoraussetzungen gemäß § 36 Abs. 1 GWB klar

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Update: Aktuelles zur deutschen Fusionskontrolle – Bundesgerichtshof stellt Untersagungsvoraussetzungen gemäß § 36 Abs. 1 GWB klar ("CTS/Eventim"): Ein Zuwachs an Marktmacht muss bei Marktbeherrschung nicht erheblich sein

31. Mai 2021

Seit Einführung des SIEC-Tests durch die 8. GWB-Novelle hatte der Bundesgerichtshof ("BGH") noch keine Gelegenheit, sich zu dessen konkreter Auslegung zu äußern. Nach § 36 Abs. 1 GWB ist "ein Zusammenschluss, durch den wirksamer Wettbewerb erheblich behindert würde", zu untersagen. Dies gilt insbesondere, wenn "zu erwarten ist, dass er eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt". Offen war vor allem, ob damit jede Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung eine Untersagung erfordert oder ob die Verstärkungswirkung auch erheblich sein muss. Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des OLG Düsseldorf in Sachen CTS Eventim/Four Artists (Az. VI-Kart 3/18 (V)) ermöglichte dem BGH nun die Beantwortung dieser umstrittenen Frage. Die mit Spannung erwartete Entscheidung (Az. KVR 34/20) stellt den strengen Maßstab in Übereinstimmung mit der wohl ähnlich zu verstehenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichts ("EuG") in Sachen "CK/Telecoms" (Az. T-399/16) klar: Jeder Zusammenschluss, der eine marktbeherrschende Stellung verstärkt, ist nach § 36 Abs. 1 GWB zu untersagen.

I. HINTERGUND DES VERFAHRENS

CTS Eventim beabsichtigte, jeweils 51% der Anteile an der Four Artists Booking Agentur GmbH und der Four Artists Events GmbH zu erwerben. Dies untersagte das Bundeskartellamt mit der Begründung, dass es durch die mit dem Zusammenschluss einhergehende vertikale Integration von Four Artists in den CTS-Konzern zu einer Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung von CTS Eventim auf dem nationalen Markt für Ticketsystemdienstleistungen käme. Die Anfechtungsbeschwerde von CTS Eventim wies das OLG Düsseldorf mit Beschluss am 5. Dezember 2018 zurück (Az. VI-Kart 3/18 (V)). Es bestätigte die Untersagungsentscheidung des Bundeskartellamts und betonte, dass bei Märkten mit einem hohen Konzentrationsgrad bereits eine geringfügige Beeinträchtigung des Wettbewerbs die Untersagungskriterien erfülle. CTS Eventim legte Rechtsbeschwerde ein.

II. DIE ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Am 12. Januar 2021 wies der BGH die Rechtsbeschwerde von CTS Eventim zurück. Der Kartellsenat nahm die Entscheidung zum Anlass, sich näher mit dem Tatbestandsmerk-mal der Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung auseinanderzusetzen, um daran anknüpfend die zentrale Rechtsfrage zu beantworten, ob die Begründung oder Verstär-kung einer marktbeherrschenden Stellung nach § 36 Abs. 1 GWB für eine Untersagung per se erheblich ist oder ob die Erheblichkeit gesondert festgestellt werden muss.

1. Marktbeherrschende Stellung von CTS Eventim

Der BGH bestätigte zunächst die Abgrenzung eines bundesweiten Angebotsmarkts für Ticketvertriebsdienstleistungen. Auf diesem habe CTS Eventim mit Marktanteilen von 50%-60% eine marktbeherrschende Stellung. 

2. Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung

Der Begriff der Verstärkung sei vor dem Hintergrund des Normzwecks von § 36 Abs. 1 GWB, also dem Schutz funktionsfähigen Wettbewerbs vor nachteiligen Veränderungen struktureller Wettbewerbsbedingungen, eng auszulegen. So sei die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung nach ständiger Rechtsprechung anzunehmen, wenn "rechtliche oder tatsächliche Umstände dem marktbeherrschenden Unternehmen mit einiger Wahrscheinlichkeit eine günstigere Wettbewerbsposition verschaffen würden". Davon müsse insbesondere ausgegangen werden, wenn die Fähigkeit des beherrschenden Unternehmens gestärkt werde, "nachstoßenden Wettbewerb abzuwehren und den von aktuellen und potentiellen Wettbewerbern zu erwartenden Wettbewerbsdruck zu mindern". Auf einen bestimmten Grad an Spürbarkeit der Verstärkung komme es hingegen nicht an. Gerade bei Märkten mit einem hohen Konzentrationsgrad reiche daher schon eine "geringfügige Beeinträchtigung des verbliebenen oder potentiellen Wettbewerbs für eine Verstärkungswirkung". Voraussetzung hierfür sei jedoch, dass sich überhaupt "Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen erwarten lassen und in diesem Sinne qualitativ oder quantitativ marktrelevant sind." Die Bewertung der Wettbewerbsbedingungen habe dabei die Gesamtheit aller strukturellen Wettbewerbsparameter in den Blick zu nehmen. 

Entsprechend habe das OLG Düsseldorf rechtsfehlerfrei angenommen, dass die Übernahme von Four Artists in den CTS-Konzern die Wettbewerbsstellung von CTS Eventim verbessert und die marktbeherrschende Stellung des Unternehmens verstärkt hätte. Zwar hätte der Zusammenschluss nicht zu einer horizontalen Marktanteilsaddition geführt. Four Artists wäre aber als bedeutender Abnehmer von Ticketsystemdienstleistungen weggefallen und der jährliche Vertrieb von ca. 700.000 Tickets durch Four Artists exklusiv an CTS Eventim gebunden worden, was wiederum einem Marktanteilszuwachs von ca. 1% bedeutet hätte. Durch die vertikale Integration, fehlenden Substitutionswettbewerb sowie einer geringen Nachfragemacht auf der stark zersplitterten Marktgegenseite der Veranstalter wäre CTS Eventim vor nachstoßendem Wettbewerb geschützt und hätte seinen bereits bestehenden (erheblichen) Vorsprung vor Wettbewerbern weiter ausbauen können. Hierdurch ergebe sich bereits eine qualitative Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung von CTS Eventim.

3. Muss die Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung auch erheblich sein?

Diese Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung von CTS Eventim genügte nach den Feststellungen des Kartellsenats für die Untersagung nach § 36 Abs. 1 GWB. Vor allem habe das OLG Düsseldorf es nicht rechtsfehlerhaft versäumt zu prüfen, ob der Zusammenschluss wirksamen Wettbewerb erheblich behinderte. 

Nach der Rechtsprechung des BGH zur Rechtslage vor der 8. GWB-Novelle war ein Zusammenschluss stets zu untersagen, wenn dieser zu einer Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung führte, die dem marktbeherrschenden Unternehmen mit einiger Wahrscheinlichkeit eine günstigere Wettbewerbsposition verschaffte (vgl. bereits den Wortlaut des § 36 Abs. 1 GWB aF sowie BGH, Beschluss vom 11. November 2009, KVR 60/07, Rn. 61 "E.ON und Stadtwerke Eschwege" sowie BGH, Beschluss vom 7. Februar 2006, KVR 5/05, Rn. 49 

"DB Regio/üstra" jeweils m.w.N.). Zur Frage, ob die Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung immer auch eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs i.S.d. SIEC-Tests darstellt, ohne dass es insoweit einer besonderen Prüfung der Erheblichkeit bedarf, stellte der BGH nun fest, dass eine zusammenschlussbedingte Verstärkung einer "bereits bestehenden marktbeherrschende Stellung im Sinne einer qualitativ oder quantitativ marktrelevanten weiteren Verschlechterung der Gesamtheit der strukturellen Wettbewerbsbedingungen, (...) eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs im Sinne von § 36 Abs. 1 Satz 1 GWB dar(stellt). (…) Einer weiteren gesonderten Feststellung der Erheblichkeit der Behinderung wirksamen Wettbewerbs bedarf es nicht."

Ausgehend vom Wortlaut des § 36 Abs. 1 GWB ergebe sich schon kein Anhaltspunkt für eine gesonderte Prüfung der Erheblichkeit, wenn ein Zusammenschluss die Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung erwarten lasse. Eine Untersagung sei bei Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung vielmehr "insbesondere" gerechtfertigt. Der Wortlaut des § 36 Abs. 1 GWB weiche insofern von Art. 2 Abs. 3 FKVO ab, wonach Zusammenschlüsse zu untersagen seien "durch die wirksamer Wettbewerb […] erheblich behindert würde, insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung". Aufgrund des unterschiedlichen Wortlauts beider Normen lasse Art. 2 Abs. 3 FKVO folgerichtig eine andere Auslegung der Untersagungsvoraussetzungen zu, nach der anders als im deutschen Recht ggf. auch nicht jede Verstärkung genügen könne. 

Die mit der Reform des § 36 Abs. 1 GWB verbundene gesetzgeberische Intention spreche ebenfalls für dieses Ergebnis. Die Implementierung des SIEC-Tests erfolgte zu dem Zweck, den Beurteilungsmaßstab zu erweitern. Hierbei habe der Gesetzgeber Konstellationen im Blick gehabt, bei denen die Voraussetzungen einer Einzelmarktbeherrschung gerade nicht erfüllt seien, Zusammenschlüsse jedoch gleichwohl negative Folgen für den Restwettbewerb haben. Aus diesem Umstand könne jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs stets gesondert festzustellen sei, was einer Beschränkung der Zusammenschlusskontrolle gleichkäme.

Der BGH stellt ferner klar, dass die Prüfung nicht bei Marktanteilen stehen bleiben könne. Es sei vielmehr zu prüfen, ob die strukturellen Veränderungen infolge rechtlicher oder tatsächlicher Umstände dem marktbeherrschenden Unternehmen eine günstigere Wettbewerbssituation verschaffen. Konkret bezogen auf die Frage der Erheblichkeit bedeute dies: "Sind bestimmte Veränderungen der die Marktmacht bestimmenden Größen so gering, dass sie den Schluss auf eine Verschlechterung der Wettbewerbsverhältnisse in dem dargelegten Sinne nicht rechtfertigen, ist bereits das Tatbestandsmerkmal der Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung nicht erfüllt. Ist hingegen - insbesondere wegen noch ungünstigerer Bedingungen für einen nachstoßenden Wettbewerb - eine weitere Verringerung der die Marktmacht ausgleichenden Wirkung des Wettbewerbs zu besorgen, ergibt sich aus der Verstärkung der marktbeherrschenden Stellung notwendigerweise eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs."

III. EINORDNUNG UND AUSBLICK

Die Entscheidung des BGH stellt eine zentrale Frage der Anwendung des SIEC-Tests klar. Der Kartellsenat macht deutlich, dass es sich bei der Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung nach § 36 Abs. 1 GWB um den Regelfall einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs handelt. Das Bundeskartellamt muss einen Zusammenschluss untersagen, wenn "zu erwarten [sei], dass er eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt". Einer gesonderten Prüfung der Erheblichkeit bedarf es nicht. 

Die Entscheidung des BGH steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuG in "CK/Telecoms", in der das EuG für das Verständnis des SIEC-Tests im Kern auf Erwägungsgrund 25 FKVO rekurriert und den Anwendungsbereich des SIEC-Tests auf den spezifischen Kontext koordinierter bzw. unilateraler Effekte auf oligopolistischen Märkten bezieht. Der SIEC-Test dient demnach der Erweiterung der Zusammenschlusskontrolle sowie der Stärkung des Begriffs der beherrschenden Stellung. Vor diesem Hintergrund ist dem BGH in seiner Auslegung zuzustimmen, dass es für die Verstärkungswirkung bei Marktbeherrschung nicht auf die gesonderte Frage der Erheblichkeit ankommt, sondern darauf, ob eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt wird. Wichtig ist aber die Klarstellung, dass nicht schon jede, auch nur geringfügige Verstärkung dieser Art eine Untersagung rechtfertigt. Alles andere, also eine Untersagung ohne tatsächliche Auswirkungen, wäre nicht zu rechtfertigen. Entsprechend setzt § 36 Abs. 1 GWB auch eine "Verstärkung" voraus. Somit muss ein Zusammenschlussvorhaben die Wettbewerbsverhältnisse derart verschlechtern, dass nachstoßender Wettbewerb tatsächlich geschwächt ("Auswirkungen auf die Wettbewerbsbedingungen, die qualitativ oder quantitativ marktrelevant" sind) und umgekehrt die Verhaltensspielräume des marktbeherrschenden Unternehmens tatsächlich erweitert werden (Stärkung der Fähigkeit, "nachstoßenden Wettbewerb abzuwehren und den von aktuellen und potentiellen Wettbewerbern zu erwartenden Wettbewerbsdruck zu mindern"). Die Herausforderung wird nun sein, relevante von nicht relevanten Auswirkungen – oder erhebliche von unerheblichen Auswirkungen? – auf die Verhaltensspielräume des Marktbeherrschers zu unterscheiden.

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(Un-)Möglichkeit von Aktientauschangeboten – Anmerkung zu OLG Frankfurt – BeckRS 2021, 2598

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(Un-)Möglichkeit von Aktientauschangeboten – Anmerkung zu OLG Frankfurt – BeckRS 2021, 2598

30. April 2021

Gerichtliche Entscheidungen im Anwendungsbereich des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes (WpÜG) ergehen selten. Umso höhere Aufmerksamkeit erfahren daher die Sachverhalte, die einer gerichtlichen Entscheidung zugeführt werden. Vielfach klären sie jahrelang streitige Rechtsfragen. Eine dieser Gelegenheiten hat zuletzt das OLG Frankfurt a.M. in seinem Beschluss vom 11. Januar 2021 (Az.: WpÜG 1/20 = BeckRS 2021, 2598) genutzt und konkretisiert, wann im Rahmen eines öffentlichen Übernahmeangebots als Gegenleistung angebotene Aktien als "liquide" i.S.d. § 31 Abs. 2 Satz 1 WpÜG einzustufen sind.

In diesem Beitrag beleuchten wir die Entscheidung, die eine bislang umstrittene Rechtsfrage klärt und erhebliche Auswirkungen auf die Übernahmepraxis haben dürfte.

1. Einführung

§ 31 WpÜG legt die Mindestanforderungen der den Aktionären der Zielgesellschaft bei Übernahme- und Pflichtangeboten anzubietenden Gegenleistung der Art und Höhe nach fest. Zum einen darf der Bieter eine auf Basis der in § 31 Abs. 1 WpÜG (i.V.m. §§ 3-7 WpÜG-Angebotsverordnung) aufgestellten Grundsätze zu bestimmende Gegenleistungshöhe nicht unterschreiten. 

Über § 31 Abs. 3 bis 6 WpÜG wird dabei sichergestellt, dass die Aktionäre auch an außerhalb des Angebots erfolgenden Vor-, Parallel- oder Nacherwerben partizipieren. Zum anderen hat gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 WpÜG die vom Bieter angebotene Gegenleistung an die Aktionäre der Zielgesellschaft jedenfalls in einer Geldleistung in Euro oder in liquiden Aktien, die zum Handel an einem organisierten Markt zugelassen sind, zu bestehen. Der Bieter muss den Aktionären zwingend eine dieser beiden (Pflicht-)Gegenleistungen anbieten. Er ist jedoch nicht gehindert, den Aktionären darüber hinaus auch eine andere Gegenleistung anzubieten, deren Beschaffenheit keinen gesetzlichen Einschränkungen unterliegt (Wahlgegenleistung). In Betracht kommen beispielsweise Geldleistungen in einer anderen Währung oder an nicht organisierten Märkten zugelassene Aktien. 

Wenn der Bieter als Gegenleistung für die Annahme seines Angebots eigene Aktien anbietet, spricht man von einem Aktientauschangebot. Stellen diese Aktien die Pflichtgegenleistung dar, so muss es sich gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 WpÜG um liquide Aktien handeln. Bislang war ungeklärt, was hierunter zu verstehen ist.

Das OLG Frankfurt a.M. hat nun entschieden, dass eine Aktie nur dann liquide und damit als Pflichtgegenleistung i.S.d. § 31 Abs. 1 Satz 2 WpÜG ausreichend ist, wenn sie als Vermögensgegenstand – jedenfalls fast – so gut wie ein Geldbetrag in Euro ist, also ohne weiteres und jederzeit verkauft ("liquidiert") werden kann. Daher sei die ausreichende Liquidität unter Heranziehung der Kriterien des Art. 22 Abs. 1 der Finanzinstrumente-Aufzeichnungspflicht-DVO (VO [EG] 1287/2006 vom 10. August 2006) zu bestimmen. Danach ist eine Aktie liquide, wenn sie täglich gehandelt wird, der Streubesitz nicht weniger als EUR 500 Mio. beträgt und entweder die durchschnittliche tägliche Zahl der Geschäfte mit dieser Aktie nicht unter 500 liegt oder der durchschnittliche Tagesumsatz in dieser Aktie nicht unter zwei Millionen Euro liegt. 

Das Gericht hat die Maßstäbe für Aktientauschangebote damit sehr hoch angesetzt, sodass sie nur von wenigen Unternehmen erfüllt werden können. Diese erheblichen Auswirkungen auf die Übernahmepraxis in Kombination mit der Klärung einer bislang umstrittenen Rechtsfrage bieten Anlass, die Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. näher zu beleuchten.

2. Argumentationsstruktur des OLG Frankfurt a.M.

Das OLG Frankfurt a.M. stellt zuerst heraus, dass es sich bei dem Liquiditätserfordernis des § 31 Abs. 2 S. 1 WpÜG um ein eigenständiges Tatbestandsmerkmal und nicht nur um eine reflexartige Folge der Börsenzulassung handle. Hierfür sprächen die Entstehungsgeschichte des Gesetzes sowie ein systematischer Vergleich zu § 1 Abs. 1 WpÜG, der in Bezug auf die dem Anwendungsbereich des WpÜG unterfallenden Wertpapiere ebenfalls den Begriff "Handel an einem organisierten Markt" verwende, ohne auch dort die "Liquidität" zu erwähnen. 

Zur inhaltlichen Bestimmung des Liquiditätsbegriffs wendet es sich dann zunächst dem Schutzziel der Gegenleistungsvorschriften zu. Dabei stellt es den intendierten Schutz des Vermögens der Aktionäre in den Vordergrund. Dieser werde durch die Gewährung eines angemessenen Wertersatzes für die abgegebenen Aktien verwirklicht. Aus diesem Grunde müsse es den Aktionären möglich sein, die erhaltenen Tauschaktien umgehend und ohne Schwierigkeiten gegen einen Geldbetrag zu veräußern. Die Gewährleistung eines Ersatzes der bisherigen Investition in die Aktien der Zielgesellschaft sieht das OLG dagegen nicht als Schutzziel der Gegenleistungsvorschriften. Daraus folgert es, dass auch die Bestimmung der notwendigen Liquidität der angebotenen Tauschaktien nicht von der Liquidität der Aktien der Zielgesellschaft abhängen könne. 

Zur weiteren Begriffskonkretisierung befasst es sich im Anschluss mit den in der Literatur diskutierten Ansätzen. Teilweise wird dort vorgeschlagen, die Wertung des § 5 Abs. 4 WpÜG-Angebotsverordnung (Feststellung von Börsenkursen an weniger als einem Drittel der Börsentage in den letzten drei Monaten vor Veröffentlichung der Entscheidung zur Angebotsabgabe oder Abweichung mehrerer nacheinander festgestellter Börsenkurse um mehr als fünf Prozent) als Negativkriterium heranzuziehen, um zu definieren, ab wann eine Aktie nicht mehr liquide sein soll. Nach der Negativabgrenzung wird überwiegend noch eine Einzelfallbetrachtung gefordert. Danach solle Liquidität vorliegen, wenn nach den konkreten Umständen des Einzelfalls als gesichert gelten kann, dass nach Durchführung des Angebots ein genügender Börsenhandel in den zum Tausch angebotenen Aktien tatsächlich stattfindet, was anhand der – nach einer Vielzahl von Einzelkriterien zu bestimmenden – Aufnahmefähigkeit des Kapitalmarkts zu ermitteln sei.

Eine weitere Ansicht stellt auf die Definition des Art. 22 Abs. 1 Finanzinstrumente-Aufzeichnungspflicht-DVO ab. Dieser Auffassung schließt sich das OLG an. Ganz maßgeblich stützt es sich dabei auf die Schutzrichtung des § 31 WpÜG. Weil die Vorschrift dem Vermögensschutz des einzelnen Aktionärs diene, müsse sichergestellt werden, dass – wenn als Gegenleistung Aktien angeboten werden – der ein Tauschangebot annehmende Aktionär den angemessenen Gegenwert der erhaltenen Gegenleistungsaktien tatsächlich erzielen kann. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn er künftigen allgemeinen Kursrisiken durch deren zeitnahen Verkauf entgehen kann. Bei Aktien, welche die (strengen) Kriterien von Art. 22 Abs. 1 Finanzinstrumente-Aufzeichnungspflicht-DVO erfüllen, könne hiervon ohne Weiteres ausgegangen werden. Durch solch ein formales Kriterium werde sowohl für den Bieter als auch für die Minderheitsaktionäre die vom WpÜG beabsichtigte Rechtssicherheit geschaffen und die Erreichung der mit den Gegenleistungsvorschriften verfolgten Schutzzwecke gewährleistet.

3. Einordnung der Entscheidung

Die Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. steht rechtlich im Einklang mit der Regelungskonstruktion des Übernahmeverfahrens nach dem WpÜG. 

Der Gesetzgeber wollte bei seiner Konzeption des WpÜG insbesondere der komplizierten Situation der Aktionäre der Zielgesellschaft Rechnung tragen. Eine Übernahme beeinflusst die Aktionäre als Anteilseigner der Gesellschaft in erheblichem Maße. Erlangt ein einzelner Aktionär die Kontrolle über eine in Streubesitz befindliche Gesellschaft, so bedeutet dies für alle anderen Anteilseigner, dass ihre Beteiligung von einem anderen Aktionär kontrolliert wird und sie daher nicht mehr an einem von Individualinteressen freien Unternehmen beteiligt sind. Um diesem Dilemma Rechnung zu tragen, wollte der Gesetzgeber den Aktionären der Zielgesellschaft die Entscheidungsmöglichkeit geben, entweder in der (ggf. nach Erfolg des Angebots fremdkontrollierten) Zielgesellschaft zu verbleiben oder aber ihre Beteiligung zeitnah und zu einem angemessenen Preis veräußern zu können.

Diese Zielsetzung wird von § 31 WpÜG insbesondere über die Regelungen zur Angemessenheit der Gegenleistung, aber auch durch die Einschränkung der Angebotsgestaltungsfreiheit des Bieters, wonach dieser verpflichtend mindestens eine der in Abs. 2 Satz 1 aufgeführten Gegenleistungen anbieten muss, umgesetzt. Bei Übernahme- und Pflichtangeboten bezweckt die Vorschrift hiermit den Schutz der Minderheitsaktionäre. Diese sollen entweder unmittelbar durch den Verkauf ihrer Anteile an den Bieter oder im Wege eines Aktientauschs eine Austrittsmöglichkeit erhalten. Diese Austrittsmöglichkeit besteht in dem Angebot einer Gegenleistung, die durch die Übernahme nicht nachteilig beeinflusst ist, weil sie dem Börsenkurs oder dem höchsten Vorerwerbspreis entspricht. Dadurch sollen die Aktionäre vor negativen Vermögensauswirkungen geschützt werden. Dieses Schutzziel wird bei einem Aktientausch aber nur dann erreicht, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die (angemessene) Gegenleistung dem Vermögen das Aktionärs auch tatsächlich zufließt und schnell verfügbar ist, er also die erhaltenen Aktien kurzfristig weiterveräußern kann. 

Vor dem Hintergrund dieser Zielrichtung erscheint die vom OLG Frankfurt a.M. vorgenommene Einordnung des Liquididätserfordernisses als eigenständiges Tatbestandsmerkmal überzeugend. Auch der Wortlaut des § 31 Abs. 2 Satz 1 WpÜG der – im Gegensatz zu § 1 Abs. 1 WpÜG – eben nicht nur auf den Handel an einem organisierten Markt abstellt stützt diese Deutung. Jedenfalls konsequent ist die Ablehnung einer Dependenz zwischen der Liquidität der angebotenen Tauschaktien und den Aktien der Zielgesellschaft. Wenn man – wie das OLG – den Gegenleistungsvorschriften lediglich eine Wertersatzfunktion zubilligt, müssen eben auch nur die Tauschaktien ausreichend liquide sein, um (theoretisch) auch schnell weiterveräußert werden zu können.

Schlussendlich steht die Position des OLG, die Frage der Liquidität der als Gegenleistung angebotenen Aktien anhand eines formalen Kriteriums zu bestimmen und auf diesem Wege Rechtssicherheit im Übernahmeverfahren zu gewährleisten, im Einklang mit der Systematik des Übernahmeverfahrens. Denn der Gesetzgeber hat – wie auch schon der BGH in seiner "Postbank"-Entscheidung (NZG 2014, 985) festgestellt hat – der rechtssicheren Abwicklung öffentlicher Übernahmen aufgrund ihrer erheblichen Konsequenzen einen entscheidenden Stellenwert eingeräumt. Aus diesem Grunde muss für die am Übernahmeverfahren Beteiligten rechtssicher feststellbar sein, wann als Gegenleistung angebotene Aktien den Aktionär der Zielgesellschaft in die Lage versetzen, diese kurzfristig weiterzuveräußern und seine Beteiligung damit "zu Geld zu machen". Eine solche Rechtssicherheit kann durch die Aufstellung formaler Kriterien in jedem Fall erreicht werden. Bei Aktien, die den Anforderungen von Art. 22 Abs. 1 Finanzinstrumente-Aufzeichnungspflicht-DVO genügen, kann unzweifelhaft angenommen werden, dass ausreichende Möglichkeiten zur zeitnahen Weiterveräußerung bestehen.

4. Fazit und Ausblick

Jenseits der rechtlichen Bewertung sind aber vor allem die praktischen und wirtschaftlichen Konsequenzen im Blick zu behalten. Insoweit dürfte sich der (rechtskräftige) Beschluss des OLG Frankfurt a.M. nicht unerheblich auswirken. Auf Basis der Anforderungen des Art. 22 Abs. 1 Finanzinstrumente-Aufzeichnungspflicht-DVO könnten in Deutschland derzeit nur rund 80 börsennotierte Unternehmen ein den festgelegten Anforderungen genügendes Tauschangebot abgeben, was die Beschwerdeführerin im zugrundeliegenden Verfahren (erfolglos) vorgetragen hatte. 

Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, die nicht über eine ausreichende Finanzausstattung verfügen, um eine Gegenleistung in Geld anzubieten, werden zukünftig von öffentlichen Übernahmen eher absehen. Diese Problematik hat auch das OLG gesehen, aber unter Verweis auf die Historie argumentiert, es sei nicht Ziel des Gesetzes, auch kleinen Unternehmen die Möglichkeit des Aktientauschs zu bieten. Die BaFin, die noch im Verfahren die Liquidität von Aktien nicht auf Basis des Art. 22 Abs. 1 Finanzinstrumente-Aufzeichnungspflicht-DVO beurteilt hatte, hat im Nachgang bereits ein erstes Angebot mangels ausreichenden Streubesitzes untersagt. 

Die Strukturierung und Finanzierung von öffentlichen Übernahmen dürfte sich damit zukünftig noch komplexer gestalten, als es derzeit bereits der Fall ist. Ein möglicher Weg für Unternehmen, deren Aktien die Anforderungen von Art. 22 Abs. 1 der Finanzinstrumente-Aufzeichnungspflicht-DVO nicht erfüllen, wäre die Entscheidung für ein Kombinationsangebot. Zwar müsste auch hier zwingend die Pflichtgegenleistung in Geld angeboten werden. Werden die daneben als Wahlgegenleistung angebotenen Aktien des Bieters aber von den Aktionären der Zielgesellschaft als ausreichend attraktiv erachtet und daher als Gegenleistung akzeptiert, so wäre dies zumindest eine – wenngleich schwerer planbare – Option zur Minderung der finanziellen Belastung bei öffentlichen Übernahmeangeboten. Es wird spannend sein zu sehen, wie die Entscheidung sich auf die Gestaltung von zukünftigen Übernahmeangeboten auswirkt. 

Der Beitrag steht hier für Sie zum Download bereit: (Un-)Möglichkeit von Aktientauschangeboten – Anmerkung zu OLG Frankfurt – BeckRS 2021, 2598

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Leerverkaufsattacken – Hintergründe und Prävention

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTS­ENTWICK­LUNGEN

Leerver­kaufs­attacken – Hintergründe und Prävention

16. April 2021

Leerverkäufe und damit zusammenhängende Handelsstrategien gehören inzwischen zum Alltag an den internationalen Finanzmärkten. Tesla ist ein besonders beliebtes Ziel und vor Kurzem hat es auch die US-amerikanische Einzelhandelskette GameStop getroffen. 

Auch deutsche börsennotierte Unternehmen sehen sich seit einigen Jahren zunehmend der Gefahr sog. Leerverkaufsattacken ausgesetzt. So waren in jüngster Vergangenheit etwa Unternehmen wie Wirecard, Grenke, Aurelius und Ströer im Visier von Short Sellern. In diesem Beitrag beleuchten wir die Hintergründe von Leerverkaufsattacken und zeigen Verteidigungsstrategien für Emittenten auf.

1. Vorgehensweise bei strategischen Leerverkaufsattacken

Bei gezielten Leerverkaufsattacken decken sich Short Seller (wie zum Beispiel Gotham City Research LLC) mit Leerverkaufspositionen an zuvor nach bestimmten Kriterien ausgewählten Unternehmen ein. Anschließend veröffentlichen sie Finanzanalysen (sog. Research-Berichte), um die Bewertung oder das Geschäftsmodell dieser Unternehmen infrage zu stellen. Dabei wird in der Regel ausdrücklich oder implizit behauptet, die Aktien des betroffenen Unternehmens seien überbewertet.

In der Folge kommt es regelmäßig zu – mehr oder weniger nachhaltigen – Kursverlusten bei dem betroffenen Unternehmen. Die Short Seller nutzen den Abwärtstrend, um die von ihnen zuvor leer verkauften Aktien zu einem niedrigeren Preis zurück zu erwerben und streichen – wenn der Plan aufgeht – auf diese Weise Spekulationsgewinne ein (sog. "Short and Distort"). Für die betroffenen Emittenten und dessen Stakeholder kann die Leerverkaufsattacke schwerwiegende wirtschaftliche Folgen haben. 

Die mit Leerverkaufsattacken zusammenhängenden Rechtsfragen sind vielfältig und Gegenstand unzähliger wissenschaftlicher Abhandlungen. In diesem Beitrag sollen insbesondere die für die Praxis relevanten Fragen beleuchtet werden: Für welche Emittenten besteht typischerweise ein besonders hohes Risiko, Ziel einer Leerverkaufsattacke zu werden und welche Maßnahmen können ergriffen werden können, um sich gegen derartige Angriffe zu schützen?

2. Typische Angriffspunkte

Aufgrund der hohen Volatilität im Markt, der zunehmenden Digitalisierung der Finanzbranche, dem Investitionsdruck vieler Marktteilnehmer und zahlreichen weiteren Faktoren kommt es immer häufiger zu Leerverkaufsattacken. Dabei sind einige Emittenten gefährdeter als andere. Im Folgenden werden einige Faktoren aufgeführt, bei deren Vorliegen Emittenten einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, in das Visier von Leerverkäufern zu geraten:

Geschäftsmodell

Besonders beliebte Ziele für Leerverkaufsattacken sind Unternehmen mit komplexen, intransparenten oder neuartigen Geschäftsmodellen, die von den Marktteilnehmern nur schwer im Detail nachvollzogen werden können. Vorwürfe, die vom Emittenten oder Analysten nicht kurzfristig widerlegt werden können, führen zu Unsicherheiten, durch die der Aktienkurs unter Druck geraten kann. Auch Unternehmen mit erhöhter M&A-Aktivität können in das Visier von Short Sellern geraten, wenn im Zusammenhang mit erfolgten Unternehmenstransaktionen die Bewertung der Zielunternehmen nicht eindeutig nachvollziehbar ist.

Rechnungslegung

Weiterhin sind auch Emittenten, deren Bilanzierungsmethoden intransparent oder unkonventionell sind, einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Ein typischer Vorwurf im Zusammenhang mit Leerverkaufsattacken ist die Behauptung, der betreffende Emittent habe seine Bilanz gefälscht bzw. falsch bilanziert.

Corporate Governance

Auch die Corporate Governance-Struktur kann Angriffspunkte für eine Leerverkaufsattacke bieten. So können Risiken etwa aus einer fehlenden Unabhängigkeit einzelner Aufsichtsratsmitglieder, unbegründeten Abweichungen vom Deutschen Corporate Governance Kodex, Compliance-Defiziten oder Related Party-Transactions resultieren. 

Marktumfeld

Im Übrigen kann auch das jeweilige Marktumfeld einen wichtigen Indikator für die Anfälligkeit eines Emittenten darstellen. Während Ankeraktionäre und eine hohe Anzahl von Kleinanlegern einen gewissen Schutz bieten können, erhöhen insbesondere Hedgefonds und spekulative Investoren in der Aktionärsbasis tendenziell das Risiko, Ziel einer Leerverkaufsattacke zu werden. Für Märkte und Finanzinstrumente mit einer hohen Volatilität besteht grundsätzlich auch ein erhöhtes Risiko, das Interesse von Short Sellern zu wecken. Angriffspunkte können sich ferner auch aus einem zuletzt starken Kursanstieg ergeben, da in diesem Falle die Gefahr steigt, dass Short Seller mit dem Vorwurf der Überbewertung leichter bei den Anlegern durchdringen.

3. Prävention und Krisenkommunikation

Emittenten können und sollten sich gegen Leerverkaufsattacken schützen – sowohl präventiv als auch durch reaktive Maßnahmen im Fall einer konkreten Leerverkaufsattacke.

Präventive Maßnahmen

Als präventive Maßnahmen kommen unter anderem in Betracht:

  • Regelmäßige und transparente Kommunikation mit Ankeraktionären, Journalisten, Analysten und im Rahmen von Social Media etc. (Stichwort "One-Voice-Policy")
  • Fortwährende Analyse der veröffentlichten Stimmrechtsmitteilungen und Leerverkaufspositionen in Bezug auf das eigene Unternehmen
  • Einrichtung eines Notfallteams sowohl bestehend aus internen Mitarbeitern (z.B. Vorstand, IR, Rechtsabteilung, Controlling) als auch externen (Kommunikations- und Rechts-) Beratern mit Erfahrung in Krisenkommunikation
  • Erarbeitung eines Notfallplans (Defence-Manual) und Vorbereitung öffentlicher Stellungnahmen im Fall von Vorwürfen durch Leerverkäufer
  • Ermächtigungsbeschlusses gemäß § 71 Abs. 1 Nr. 8 AktG durch die Hauptversammlung, der es dem Unternehmen erlaubt, im Falle künftiger Leerverkaufsattacken Stützungskäufe (i.S.d. § 71 Abs. 1 AktG) zu tätigen
  • Benachrichtigung der BaFin bei Verdacht künftiger Leerverkaufsattacken

Reaktive Maßnahmen

Sollte es bereits zu einer Leerverkaufsattacke gekommen sein bzw. steht eine solche unmittelbar bevor, kommen unter anderem folgende weitere Maßnahmen in Betracht:

  • Ankündigung sowie die zeitnahe Veröffentlichung einer ausführlichen und faktenba-sierten Gegendarstellung über möglichst viele Kanäle (DGAP, Internetseite, Wirt-schaftspresse, weitere Medien)
  • Gegebenenfalls Bestätigung der Gegendarstellung durch eine unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
  • Conference-Calls mit (Anker-)Investoren wie auch die gezielte Kommunikation mit Journalisten und Aktienanalysten
  • Stützungskäufe (§ 71 Abs. 1 S. 1 AktG) und/oder Managers' Transactions (unter Berücksichtigung der Closed Periods, vgl. Art. 19 Abs. 11 MAR) als zusätzliche vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Aktionären
  • Prüfung von Schadensersatzansprüchen und ggf. Strafanzeige wegen Marktmanipulation

Dabei gilt sowohl für die präventiven als auch für die reaktiven Maßnahmen, dass stets im Einzelfall zu beurteilen ist, welche Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen sind. Da Leerverkaufsattacken sich häufig in einer rechtlichen Grauzone bewegen, empfiehlt es sich, frühzeitig mit rechtlichen Beratern Kontakt aufzunehmen.

4. Fazit

Leerverkaufsattacken haben in den letzten Jahren spürbar zugenommen. Volatile Finanzmärkte und eine hohe Spekulationsbereitschaft vieler Anleger werden voraussichtlich auch in den kommenden Monaten dafür sorgen, dass dieser Trend anhält.

Leerverkaufsattacken können bei den betroffenen Emittenten und den Stakeholdern hohe Schäden anrichten. Emittenten sind aber nicht schutzlos gestellt. Rechtzeitige Risikoanalysen, präventive Maßnahmen und die Ergreifung von Abwehrstrategien im Fall eines anstehenden oder laufenden Angriffs sind geeignet, um potentielle Schäden möglichst gering zu halten. Im Fall von GameStop war es sogar so, dass sich Kleinanleger gegen die Leerverkäufe gestemmt (Short Squeeze) und den Aktienkurs des Unternehmens dadurch nicht nur stabilisiert, sondern zu neuen Höhen getrieben haben.

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Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (MoPeG)

#GMW-BLOG: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Der Regierungs­entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Personen­gesellschafts­rechts (MoPeG)

2. März 2021

Mit der Veröffentlichung des Regierungsentwurfs am 20. Januar 2021 wurde die finale Phase des Gesetzgebungsvorhabens zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts beschritten. Das Vorhaben basiert auf dem Gesetzesentwurf der von dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) eingesetzten Expertenkommission von April 2020, dem sog. "Mauracher Entwurf". Der im Herbst veröffentlichte Referentenentwurf hatte einige der wesentlichen Kritikpunkte zum Mauracher Entwurf aufgenommen, worüber wir bereits in einem Beitrag am 25. November 2020 berichtet haben. Der nun veröffentlichte Regierungsentwurf enthält gegenüber dem Referentenentwurf keine großen Neuerungen. 

Nachfolgend sollen die wesentlichen Kernpunkte des Regierungsentwurfs zum Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz (MoPeG) aufgegriffen werden, die sicherlich in dieser Legislaturperiode noch Gesetz werden. Das Inkrafttreten ist indes erst für den 1. Januar 2023 vorgesehen, um für die Betroffenen genügend Vorlauf zu haben, sich auf die neuen Regelungen einzustellen.

I. Die Reform der GbR

Kernpunkt der Gesetzesreform bildet die Neuregelung der Vorschriften über die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Leitmotiv des Reformvorhabens ist die Abkehr von der ursprünglichen Vorstellung der GbR als Gelegenheitsverbund hin zu einer auf Dauer angelegten, am Wirtschaftsleben teilnehmenden Gesellschaft. Ziel ist es, die Gesetzeslage der mittlerweile deutlich abweichenden Rechtspraxis anzugleichen. Das Reformvorhaben beinhaltet daher eine grundlegende Neuregelung der Vorschriften zur BGB-Gesellschaft. Entsprechend werden die Regelungen in den §§ 705 bis 740c BGB-RegE umfassend neu gefasst und neugestaltet.

1. Rechtsformvarianten der GbR – rechtsfähig und nicht rechtsfähig

Das Gesetz unterscheidet gem. § 705 Abs. 2 BGB-RegE künftig zwischen den sich gegenseitig ausschließenden Rechtsformvarianten der nicht rechtsfähigen GbR (Innen-GbR) und der rechtsfähigen GbR (Außen-GbR).

Für die rechtsfähige GbR kodifiziert der Entwurf die in der Rechtsprechung bereits seit langer Zeit anerkannte Fähigkeit, selbst Trägerin von Rechten und Pflichten zu sein. Insgesamt führen die Neuregelungen hier zu einer Angleichung an die Regelungen für Personenhandelsgesellschaften. So zählen die von der Gesellschaft begründeten Verbindlichkeiten fortan – in Anlehnung an das Recht der Personenhandelsgesellschaften – zum Vermögen der Gesellschaft. Vergleichbar der Haftung des Gesellschafters einer Offenen Handelsgesellschaft (OHG) sieht der Gesetzesentwurf künftig auch eine persönliche und unbeschränkte akzessorische Haftung des GbR-Gesellschafters in §§ 721 ff. BGB-RegE vor.

Für die nicht rechtsfähige GbR stellt § 740 Abs. 1 BGB-RegE nochmals klar, dass sie aufgrund der fehlenden Rechtsfähigkeit auch kein Vermögen haben kann, sodass entsprechend des Abs. 2 dieser Norm auch nur einzelne Regelungen zur rechtsfähigen GbR entsprechende Anwendung finden sollen. Bei der Schaffung dieser nichtrechtsfähigen GbR stand nach der Begründung des Regierungsentwurfs die "rechtstatsächliche Variationsbreite […] von Beteiligungs- und Stimmrechtskonsortien über Ehegatteninnengesellschaften bis hin zur Tippgemeinschaft" im Blick.

2. Möglichkeit zur Registrierung der GbR im Gesellschaftsregister

Zurückgehend auf den Mauracher Entwurf besteht für die GbR künftig die Möglichkeit, die Gesellschaft in einem an das Handelsregister angelehnten Gesellschaftsregister freiwillig registrieren zu lassen, was die §§ 707 ff. BGB-RegE regeln. Die Registrierung ist mithin nicht an die Rechtsfähigkeit der GbR geknüpft, sondern die Gesellschafter können selbst entscheiden, ob sie die Gesellschaft wegen intensiver Teilnahme am Rechtsverkehr eintragen lassen wollen, um sich so die gesetzlichen Vorteile der Subjektpublizität zunutze zu machen. 

Künftig wird die GbR als solche nur durch ihre Eintragung in das Gesellschaftsregister die Registerfähigkeit für die Eintragung in andere Register (bspw. Grundbuch, Handelsregister, Aktienregister) erlangen können. Insbesondere betrifft dies die Veräußerung oder den Erwerb eines Grundstücks, da hierdurch für die von diesen Rechtsvorgängen betroffene GbR ein verfahrensrechtliches Voreintragungserfordernis ausgelöst wird. Gleiches gilt z.B. auch für die Beteiligung einer GbR an Statuswechseln – eine neue Rechtsfigur für den registerrechtlichen Vollzug eines Wechsels der Rechtsform einer eingetragenen Personengesellschaft in eine andere eingetragene Personengesellschaft nach § 707c BGB-RegE, §§ 106 und 107 HGB-RegE – und Umwandlungsvorgängen.

Bei der Registrierung werden zum Zweck der Prüfung der Identität der Anmeldenden und der Eintragungsfähigkeit Notare eingebunden (§ 707b Nr. 2 BGB-E i.V.m. § 12 HGB). 

Mit dem Zeitpunkt der Registrierung ist die GbR verpflichtet, den kennzeichnenden Namenszusatz "eingetragene Gesellschaft bürgerlichen Rechts" oder "eGbR" zu führen (§ 707a Abs. 2 BGB-RegE).

II. Kodifizierung des Beschlussmängelrechts nur für Personenhandelsgesellschaften

Erstmalig wird künftig auch ein Beschlussmängelrecht für Personenhandelsgesellschaften kodifiziert. In Übereinstimmung mit dem Referentenentwurf wird dieses aufgrund der vorgesehenen Integration im HGB allerdings nur für Offene Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften (KG) anwendbar sein. Das Gesetz unterscheidet in §§ 110 ff. HGB-RegE nach dem Vorbild des aktienrechtlichen Beschlussmängelsystems zwischen solchen Gesellschafterbeschlüssen, die aus sich heraus nichtig sind und solchen, die im Wege der Anfechtungsklage binnen drei Monaten ab Beschlussbekanntgabe angefochten werden müssen. 

III. Personenhandelsgesellschaften werden für Freiberufler möglich

Ebenso ist die Öffnung der Personenhandelsgesellschaft für freie Berufe eine weitere wesentliche Neuerung des Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetzes. Nach der geltenden Rechtslage stehen die Rechtsformen der OHG und KG Angehörigen freier Berufe – wie etwa Rechtsanwälten, Ärzten, Heilpraktikern oder Architekten – nicht zur Verfügung, da deren Gesellschaftszweck nicht auf den Betrieb eines Handelsgewerbes gerichtet ist und sich auch deren Firma nicht im Handelsregister eingetragen lässt. 

Damit war ihnen bisher die Wahl dieser Rechtsformen und die damit verbundene mögliche Haftungsbeschränkung (z.B. eines Kommanditesten) versperrt. Eine Ausnahme war in der Rechtsprechung bisher nur für Wirtschaftsprüfer und Steuerberater anerkannt. Haftungsbeschränkungen ließen sich im Übrigen für Zusammenschlüsse von Angehörigen freier Berufe nur durch die Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung (PartmbB) erzielen. 

Die Gestaltungsmöglichkeiten gesellschaftsrechtlicher Haftungsverhältnisse für Freiberufler sollen mit dem MoPeG aber flexibilisiert werden. Der Gesetzesentwurf erlaubt in § 107 Abs. 1 S. 2 HGB-RegE künftig auch die Eintragung von Gesellschaften, deren Zweck die gemeinsame Ausübung freier Berufe durch die Gesellschafter ist, soweit das anwendbare Berufsrecht eine Eintragung gestattet. Hierdurch wird für Freiberufler insbesondere die Möglichkeit geschaffen, die Rechtsform der GmbH & Co. KG zu wählen und so die Haftung der Gesellschafter auf diejenige eines Kommanditisten zu beschränken. Die Haftungsbeschränkungen des Kommanditisten gehen deutlich über die Möglichkeiten der Haftungsbeschränkungen in der Partnerschaftsgesellschaft, die nur für Verbindlichkeiten der Partnerschaftsgesellschaft aus Schäden wegen fehlerhafter Berufsausübung bei Bestehen einer entsprechende Berufshaftpflichtversicherung greift, hinaus. Denn die Haftung des Kommanditisten ist gerade unabhängig von dem zugrundeliegenden Sachverhalt allein auf die Höhe seiner Einlagen beschränkt. 

Zu berücksichtigen ist indes, dass die Neuregelungen unter einem allgemeinen berufsrechtlichen Vorbehalt stehen (vgl. § 107 Abs. 1 S. 2 HGB-RegE). Eine Eintragung in das Handelsregister ist nur zulässig, soweit das anwendbare Berufsrecht diese zulässt. Hintergrund ist, dass teilweise das Berufsrecht von Freiberufler (z.B. von Rechtsanwälten, Notaren oder Wirtschaftsprüfer) bundesrechtlich geregelt ist, wohin gegen das Berufsrecht beispielsweise der Heilberufe, Architekten oder Ingenieuren landesrechtlichen Regelungen unterliegt. Es soll sichergestellt werden, dass sowohl Bundes- als auch Landesgesetzgeber die spezifischen Schutzbelange, die im Zusammenhang mit der Ausübung des jeweiligen Berufsbildes einhergehen, in ihre Gesetzgebung aufnehmen können. Denn künftig wird auch eine rein kapitalistische Beteiligung an "Freiberufler-Gesellschaften" möglich sein, sodass auf dem Schutz vor Einfluss auf die Unabhängigkeit der Berufsausübung ein besonderer Fokus liegen wird. Hiermit sind die berufsrechtlichen Vorgaben der verschiedenen freien Berufe zunächst in Einklang zu bringen. 

Für die Berufsstände der Rechtsanwälte und Steuerberater wurde bereits am 20. Januar 2021 ein entsprechender Regierungsentwurf eines "Gesetzes zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe" veröffentlicht, welcher diesen unter anderem den Zugang zur Rechtsform der Personenhandelsgesellschaft gestattet. Es bleibt abzuwarten, wie andere Berufsstände die Öffnung der Personenhandelsgesellschaft für freie Berufe in ihr Berufsrecht integrieren werden. 

IV. Fazit und Ausblick

Der Reg-E zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts deckt sich nahezu vollständig mit dem Referentenentwurf und greift in großen Teilen die Vorarbeit der Expertenkommission aus dem Mauracher Entwurf auf. Daher steht zu erwarten, dass auch die Änderungen im Gesetzgebungsverfahren nicht mehr allzu gravierend ausfallen werden. 

Denn der Reg-E zeigt bereits eine austarierte Systematik von rechtfähiger und nicht rechtsfähiger GbR sowie der neu geschaffenen Möglichkeit ihrer Eintragung in einem Gesellschaftsregister. Gerade durch die Eintragung und die damit verbundene Subjektpublizität wird die Rechtsform der GbR erheblich aufgewertet und ihr Auftreten im Rechtsverkehr für alle Beteiligten deutlich erleichtert. Eine frühzeitige Eintragung der GbR im Gesellschaftsregister sollten Gesellschaften mit Immobilienbesitz und solche innerhalb von Beteiligungsstrukturen im Blick haben.

Man darf ansonsten abwarten, wie sich die eingetragene GbR in der Rechtswirklichkeit schließlich gegenüber der OHG abgrenzen und durchsetzen mag. Ebenso abzuwarten bleibt, wie sich der nicht rechtsfähigen GbR angenommen wird und wie die gesetzessystematische Abgrenzung zur rechtsfähigen GbR tatsächlich getroffen werden kann. Da das Recht der GbR grundlegend neugestaltet wurde, empfiehlt es sich sicherlich, bestehende Gesellschaftsverträge auf ihre Aktualität und Passgenauigkeit hinsichtlich der neuen gesetzlichen Regelungen einmal auf den Prüfstand zu stellen.

Das gilt im Übrigen auch für die Personenhandelsgesellschaften, für die das Beschlussmängelrecht erstmals Eingang in das Gesetz gefunden hat.

Zusammenschlüsse von Freiberuflern bieten sich gesellschaftsrechtlich nun ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Haftungsverhältnisse, indem ihnen die Rechtsformen der Personenhandelsgesellschaften eröffnet werden, soweit dies auch mit ihrem jeweiligen Berufsrecht in Einklang steht. Auch hier ist Umdenken gefragt und die bisher bestehende gesellschaftsvertraglichen Grundlagen sollten überdacht und geprüft werden.

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Sorgfaltspflichten in der Lieferkette – Gesetzliche Regelung noch in dieser Legislaturperiode beabsichtigt

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Sorgfaltspflichten in der Liefer­kette – Gesetzliche Regelung noch in dieser Legis­laturperiode beabsichtigt

23. Februar 2021

  • Die Bundesregierung beabsichtigt die Einführung eines sog. Sorgfaltspflichtengesetzes, um Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette (wie z.B. Kinderarbeit) entgegenzuwirken. Dem Kabinett soll in wenigen Wochen ein entsprechender Referentenentwurf zur Verabschiedung vorgelegt werden.
  • Nach aktuellem Stand sollen sämtliche Unternehmen, die welt- und konzernweit mehr als 1.000 Arbeitnehmer beschäftigen, in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen. Sie wären verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass im eigenen Unternehmen und in der Lieferkette Menschenrechtsverletzungen vermieden werden.
  • Im Fall von Zuwiderhandlungen drohen den Unternehmen empfindliche Nachteile wie zum Beispiel Bußgelder und der Ausschluss bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

I. Einleitung

Die Frage der Verantwortung von Unternehmen für Menschenrechtsrisiken in der Lieferkette sorgt seit Jahren für kontroverse Diskussionen. Im März 2020 hatten das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hierzu Eckpunkte eines sog. Sorgfaltspflichtengesetzes (Eckpunktepapier) erarbeitet, die in der Folgezeit ein erhebliches Echo aus unterschiedlichen Richtungen ausgelöst haben. Jüngst einigten sich das BMAS und das BMZ mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) auf gemeinsame Grundsätze für ein entsprechendes neues Gesetz. 

Für erhebliche Diskussionen sorgte insbesondere das Ansinnen von BMAS und BMZ nach Einführung einer eigenständigen Haftungsnorm, die ausländischen Betroffenen die Möglichkeit geben sollte, Klagen vor deutschen Gerichten gegen in Deutschland ansässige Unternehmen wegen etwaiger Verletzung von menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten anzustrengen. Dies ist nach Intervention des BMWi nunmehr offenbar vom Tisch. Auch an anderen Stellen, etwa beim personellen Anwendungsbereich, wurde das Gesetzesvorhaben abgeschwächt. Nichtsdestotrotz bedeutet ein Sorgfaltspflichtengesetz auch in der nunmehr vorgesehenen Form rechtliches Neuland – und für die erfassten Unternehmen nennenswerte zusätzliche Compliance-Pflichten.

Ein Referentenentwurf soll dem Kabinett bereits Mitte März 2021 zur Beschlussfassung vorgelegt werden. Das Gesetz soll sodann noch in dieser Legislaturperiode vom Bundestag beschlossen werden. Dies gibt Anlass, das Gesetzesvorhaben näher zu beleuchten.

II. Ausgangspunkt

In Deutschland ansässige größere Unternehmen sollen erstmals bestimmte menschenrechtliche Sorgfaltspflichten in Bezug auf die eigene Geschäftstätigkeit und die Lieferkette treffen – mit dem Ziel, etwaige in Zusammenhang mit dem eigenen unternehmerischen Handeln stehende Verletzungen von Menschenrechten zu verhindern bzw. diesen angemessen entgegenzuwirken. 

Das BMAS und das BMZ als maßgebliche Befürworter einer gesetzlichen Regelung berufen sich dabei nicht nur auf den geltenden Koalitionsvertrag, sondern auch auf entsprechende Forderungen von NGOs, Gewerkschaften und aus Teilen der Wirtschaft selbst. Viele Wirtschaftsverbände befürchten dagegen eine unangemessene Belastung für den Wirtschaftsstandort Deutschland, insbesondere wenn deutsche Unternehmen stärker in die Pflicht genommen würden als Unternehmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten.

Seinen Ursprung hat das Gesetzesvorhaben in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, zu deren Verwirklichung weltweit sog. Nationale Aktionspläne (NAP) implementiert wurden. Der im Jahr 2016 eingerichtete deutsche NAP setzte zunächst auf eine freiwillige Umsetzung in den Unternehmen. Dieser Ansatz gilt jedoch nach entsprechenden Untersuchungen heute als gescheitert. Für diesen Fall sah und sieht der geltende Koalitionsvertrag ein Tätigwerden des nationalen Gesetzgebers sowie – parallel – die Unterstützung EU-weiter Regelungen vor. Tatsächlich plant auch die EU-Kommission für dieses Jahr eine Gesetzesinitiative. Der Ansatz der EU geht dabei dem Vernehmen nach gegebenenfalls auch über den nun geplanten deutschen Weg hinaus und könnte z.B. auch Regelungen über eine zivilrechtliche Haftung beinhalten. 

III. ERFASSTE UNTERNEHMEN; INKRAFTTRETEN

Das geplante nationale Sorgfaltspflichtengesetz soll nach der nunmehr erfolgten Einigung vom 12. Februar 2021 alle Personen- und Kapitalgesellschaften deutschen und ausländischen Rechts betreffen, die in Deutschland ansässig sind (d.h. in Deutschland unternehmerische Steuerungsentscheidungen treffen) und die welt- und konzernweit mehr als 1.000 Arbeitnehmer beschäftigen. Die Vorgaben sollen dabei nunmehr abgestuft in Kraft treten, und zwar ab Anfang 2023 zunächst für Unternehmen mit mehr als 3.000 Arbeitnehmern und ab 2024 dann auch für Unternehmen mit mehr als 1.000 Arbeitnehmern. Im Eckpunktepapier war noch vorgesehen, auf Unternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmern abzustellen.

IV. GEGENSTAND DER MENSCHENRECHTLICHEN SORGFALTSPFLICHT

Kern des Sorgfaltspflichtengesetzes wird die Festlegung von bestimmten menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten sein. Bezugspunkte der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten sind nach dem Eckpunktepapier insbesondere Zwangsarbeit, Kinderarbeit, Diskriminierung, Verstoß gegen die Vereinigungsfreiheit, Verstöße gegen Arbeitsschutz und problematische Anstellungs- und Arbeitsbedingungen, Verstoß gegen Landrechte sowie bestimmte Umweltschädigungen.

1. Reichweite in der Lieferkette

Nach der Einigung vom 12. Februar 2021 sollen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten nicht mehr – wie vom BMAS und BMZ zunächst geplant – uneingeschränkt in Bezug auf die gesamte Lieferkette gelten. Vielmehr sollen die menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in der Lieferkette primär lediglich noch in Bezug auf unmittelbare Zulieferer gelten. Im Bereich weiter vorgelagerter Zulieferer sollen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten nur dann entstehen, wenn Erkenntnisse oder Hinweise über dortige Verstöße vorliegen.

2. Angemessene Compliance-Maßnahmen

Konkret sollen die erfassten Unternehmen zunächst verpflichtet sein, in Bezug auf die eigene Tätigkeit und bei ihren unmittelbaren Zulieferern menschenrechtliche Risiken aus dem eigenen unternehmerischen Handeln zu ermitteln und zu bewerten. Auf dieser Grundlage wären sodann geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um etwaigen negativen Auswirkungen des unternehmerischen Handelns bei der Wahrung von Menschenrechten zu begegnen. Sowohl für die Risikoanalyse als auch für die Implementierung von angemessenen Vorbeuge-, Minimierungs- und Abhilfemaßnahmen dürfte vielfach ein Dialog mit den unmittelbaren Zulieferern und gegebenenfalls weiteren lokalen Stakeholdern und Institutionen erforderlich sein. Bestandteil der geplanten gesetzlichen Regelung ist insbesondere auch eine Pflicht zur Wirksamkeitskontrolle, so dass entsprechende Überprüfungen durchzuführen wären.

Mittelbare Zulieferer sollen dagegen nur noch bedingt einem Screening unterzogen werden müssen, nämlich dann, wenn Erkenntnisse oder Hinweise über dortige Menschenrechtsverstöße vorliegen. Insoweit dürfte in Zukunft insbesondere die Frage virulent werden, wie konkret und glaubhaft entsprechende Hinweise sein müssen, um die zunächst lediglich latente Pflichtenstellung zu "aktivieren". 

Die vorgesehenen unternehmerischen Sorgfaltspflichten sollen bei den verpflichteten Unternehmen zukünftig zu einem Prozessstandard führen, ohne dass eine Erfolgspflicht begründet werden soll. Statuiert werden soll aber eine "Bemühenspflicht" i.S. eines ernsthaften Bemühens. Dies bedeutet, dass Unternehmen nicht verpflichtet sein werden, unter allen Umständen sämtliche Menschenrechtsverletzungen im eigenen Geschäftsbetrieb oder bei (unmittelbaren) Lieferanten zu verhindern. Das geforderte Risikomanagement soll sich vielmehr – wie auch sonst gefordert – nach dem Prinzip der Angemessenheit richten. 

Welche Maßnahmen im Einzelfall angemessen sind und daher erforderlichenfalls implementiert werden müssen, soll sich – nach den Maßstäben des Eckpunktepapiers – insbesondere nach der Art der Geschäftstätigkeit, der Wahrscheinlichkeit der Risikoverwirklichung und der Schwere eines tatsächlichen oder möglichen Schadens sowie auch den Einwirkungsmöglichkeiten bestimmen. Postuliert wird dabei der Grundsatz "Befähigung vor Rückzug". Der Abbruch einer problematischen Geschäftsbeziehung soll lediglich als letztes Mittel erforderlich sein, wenn ein Unternehmen anders seinen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nicht (mehr) genügen kann. Vorrangig sollen – wie es im Eckpunktepapier heißt – Unternehmen darin bestärkt werden, gemeinsam mit dem jeweiligen Zulieferer oder innerhalb der Branche nach Lösungen zu suchen. Hierfür soll nach dem Eckpunktepapier die Bundesregierung "Unterstützungsangebote" zur Verfügung stellen. 

Insbesondere im Hinblick auf internationale Liefervereinbarungen wird es in Zukunft also immer wichtiger werden, (auch) die menschenrechtsbezogenen Erwartungen an die Zusammenarbeit vertraglich verbindlich abzubilden. Als vertragliche Absicherungsinstrumente kommen unter Compliance-Gesichtspunkten insbesondere Prüfungsrechte, Kooperationsverpflichtungen und außerordentliche Kündigungsrechte in Betracht. Unmittelbare Lieferanten könnten zudem verpflichtet werden, Sorge dafür zu tragen, dass menschenrechtliche Standards auch in der nachgelagerten Lieferkette eingehalten werden.

V. Berichterstattung

Bereits jetzt gelten für (bestimmte) Kapitalgesellschaften mit mehr als 500 Mitarbeitern die Vorgaben der EU-Richtlinie zur Erweiterung der Berichterstattung von großen kapitalmarktorientierten Unternehmen, Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Versicherungsunternehmen (CSR-Richtlinie), die in Deutschland in den §§ 289b, 289c, 315b, 315c HGB umgesetzt sind. Diese Regelungen verpflichten die davon erfassten Unternehmen zur Abgabe einer nichtfinanziellen Erklärung insbesondere über Maßnahmen zum Umweltschutz, zu Sozial- und Arbeitnehmerbelangen sowie zur Achtung der Menschenrechte.

Im Rahmen eines Sorgfaltspflichtengesetzes sind nunmehr zusätzliche gesetzliche Berichtspflichten geplant, die neben die Vorgaben der CSR-Richtlinie treten sollen. Die erfassten Unternehmen sollen namentlich verpflichtet werden, jährlich transparent und öffentlich in einem Bericht darzulegen, dass sie etwaige nachteilige Auswirkungen ihres unternehmerischen Handels auf Menschenrechte kennen und diesen in geeigneter Weise begegnen. Dabei soll auf jedes Kernrisiko i.S. des Gesetzes eingegangen werden.

VI. Durchsetzungsmechanismen

Die Einhaltung der Anforderungen durch die Unternehmen soll behördlicherseits turnusmäßig anhand der Berichterstattung sowie anlassbezogen, z.B. bei Hinweisen Dritter, geprüft und erforderlichenfalls durchgesetzt werden. Verletzungen menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten sollen mit einem zur Durchsetzung der Vorgaben angemessenen Bußgeld geahndet werden können. Zudem ist vorgesehen, Unternehmen, gegen die ein Bußgeld ab einer bestimmten Höhe verhängt wurde, für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren von öffentlichen Aufträgen auszuschließen.

Eine eigenständige zivilrechtliche Haftungsregelung soll es dagegen, wie eingangs dargelegt, nicht geben. Insoweit ist das BMWi mit seinen Bedenken durchgedrungen. Im Gegenzug sollen aber nun NGOs und Gewerkschaften die Möglichkeit erhalten, Geschädigte vor deutschen Gerichten zu vertreten, jedenfalls sofern bestimmte schwerere Verstöße gegen menschenrechtliche Standards in Rede stehen. Wie genau eine solche Regelung ausgestaltet wird, bleibt abzuwarten.

VII. Ausblick

Die zunehmende Verrechtlichung internationaler Handelsbeziehungen, die (mögliche) Einführung eines Verbandssanktionenrechts in Deutschland sowie die nationalen und auf EU-Ebene bestehenden Pläne zur Einführung gesetzlicher Vorgaben zur Wachsamkeit gegenüber Menschenrechtsrisiken in der Lieferkette werden sich nicht nur auf den Zuschnitt von Compliance Management Systemen und auf die Anforderungen im Einkauf auswirken. Ganze Geschäftsmodelle könnten (und sollen nach der Intention des Gesetzgebers) hiervon beeinflusst werden. 

Mit Blick auf ein Sorgfaltspflichtengesetz bleibt zu wünschen, dass der für März 2021 in Aussicht gestellte Referentenentwurf hinreichend konkret erkennen lässt, wie weit die gesetzliche Inpflichtnahme der erfassten Unternehmen tatsächlich reichen soll und welche staatlichen "Unterstützungsangebote" (wie vom BMAS und BMZ in Aussicht gestellt) gemacht werden können, damit – im allseitigen Interesse – das gesetzgeberische Ziel "Befähigung vor Rückzug" auch Wirklichkeit wird. Wünschenswert wäre zudem, dass ein einheitlicher europäischer Ansatz gefunden werden kann.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Sorgfaltspflichten in der Lieferkette – Gesetzliche Regelung noch in dieser Legislaturperiode beabsichtigt

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Der Green Deal im Spannungsfeld zwischen Kartellverbot und Verbrauchernutzen

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTSENTWICKLUNGEN

Der Green Deal im Spannungsfeld zwischen Kartellverbot und Verbrauchernutzen – Aktuelle Entwicklungen bei der Berücksichtigung von Nachhaltig­keitszielen im Rahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV

8. Februar 2021

Der nachhaltige Umgang mit endlichen Ressourcen wird für Verbraucher, Wirtschaft und Politik sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene immer wichtiger. Die Bundesregierung hat bereits 2018 die "Agenda 30 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen" zum Leitfaden deutscher Politik erklärt und sich der Erreichung der dort normierten 17 Nachhaltigkeitsziele verpflichtet. Auch die Europäische Kommission stellte Ende 2019 ihren "Green Deal" vor. Dieser enthält einen Fahrplan für eine nachhaltige EU-Wirtschaft und sieht vor, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 55 Prozent und bis 2050 auf null zu senken. Um diese ambitionierten Klimaziele erreichen zu können, müssen auch Politikbereiche einen Beitrag leisten, die man zumindest prima facie nicht mit diesen in Verbindung bringen würde, wie z.B. die Wettbewerbspolitik. Verschiedene nationale Wettbewerbsbehörden haben in jüngerer Zeit bereits konkrete, teils progressive Vorschläge und Leitlinien zu der Frage erarbeitet, wie Nachhaltigkeitsziele im Kartellrecht zukünftig berücksichtigt werden könnten. Neben der Fusionskontrolle ist hier insbesondere das Kartellverbot als Maßstab für horizontale Kooperationen zur Förderung der Nachhaltigkeit in den Blick zu nehmen. Dabei konzentriert sich dieser Überblick vor allem auf eine mögliche Freistellungsfähigkeit nachhaltigkeitsbezogener Wettbewerbsbeschränkungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV.

I. Was bisher geschah

Nachhaltigkeitsinitiativen sind nicht mehr nur Gegenstand staatlicher, sondern zunehmend auch privater Selbstregulierung in Form horizontaler Kooperationen, die am Kartellverbot zu messen sind. Dabei können die Förderung der Nachhaltigkeit und der Wettbewerbsschutz in einen Zielkonflikt zueinander geraten und die kartellrechtliche Bewertung von Nachhaltigkeitsinitiativen im Rahmen der Selbsteinschätzung von den beteiligten Unternehmen schwierige Abwägungsprozesse verlangen. Vor diesem Hintergrund haben verschiedene Kartellbehörden Leitlinien für ihre Beurteilung entwickelt bzw. befinden sich derzeit in unterschiedlichen Stadien eines solchen Prozesses. Den ersten Leitlinienentwurf zur Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsinitiativen im Kartellrecht legte die niederländische Wettbewerbsbehörde, Autoriteit Consument & Markt ("ACM"), am 9. Juli 2020 vor. Ihr Entwurf gibt Unternehmen hilfreiche Auslegungskriterien an die Hand und zeigt im Sinne eines "More Sustainable Economic Approach" auf, wie nachhaltiges Engagement kartellrechtlich gewürdigt werden kann. Kurze Zeit später folgte eine Veröffentlichung der griechischen Wettbewerbsbehörde, Hellenic Competition Commission ("HCC"), mit dem Titel "Competition Law & Sustainability". Auch der Arbeitskreis Kartellrecht des Bundeskartellamtes entwickelte im Oktober 2020 ein Konzeptpapier zu dem Thema "Offene Märkte und nachhaltiges Wirtschaften – Gemeinwohlziele als Herausforderung für die Kartellrechtspraxis". Fast zeitgleich initiierte die Europäische Kommission ("Kommission") einen "Call for Contributions", in dem sie zur Einreichung von Vorschlägen aufrief, wie die europäische Wettbewerbspolitik den "Green Deal" unterstützen kann. Die zahlreichen Beiträge können auf der Website der Kommission eingesehen werden und waren am 4. Februar 2021 Gegenstand einer Konferenz, zu der Margrethe Vestager eingeladen hatte. Am 27. Januar 2021 meldete sich im Zuge des Brexits schließlich auch die britische Wettbewerbsbehörde, Competition and Markets Authority ("CMA"), mit einem Papier, das den Titel "Environmental sustainability agreements and competiton law" trägt.

II. NACHHALTIGKEITSINITIATIVEN ALS GEGENSTAND EINER MÖGLICHEN FREISTELLUNG NACH ART. 101 ABS. 3 AEUV

Sofern eine Vereinbarung zur Verbesserung im Bereich der Nachhaltigkeit in den Anwendungsbereich des Kartellverbots gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, weil sie eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung darstellt und auch nicht als notwendige Nebenabrede im Sinne der "Ancillary Restraints"-Doktrin qualifiziert werden kann, stellt sich unmittelbar die Frage nach einer möglichen Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV. Eine Freistellung vom Kartellverbot ist jedoch nur möglich, wenn die in Art. 101 Abs. 3 AEUV genannten vier Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind (Effizienzgenerierung, Verbrauchernutzen, kein Ausschluss des Wettbewerbs, keine weniger wettbewerbsbeschränkende Maßnahme gegeben). In Bezug auf Nachhaltigkeitsinitiativen sind insbesondere die ersten beiden Voraussetzungen relevant, namentlich ob die betreffende Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu (1.) Effizienzgewinnen führen und (2.) eine angemessene Beteiligung der Verbraucher an diesen gewährleistet ist.

1. Nachhaltigkeitsverbesserungen als Effizienzgewinne

Gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV muss das mit der Vereinbarung verfolgte Ziel zur "Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung" bzw. zur "Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts" beitragen.

Die angestrebten Nachhaltigkeitsziele können kartellrechtlich aber grundsätzlich nur berücksichtigt werden, wenn es sich bei ihnen um nachweisbare und objektive Vorteile handelt, die auf der Grundlage der Vereinbarung auch prognostiziert werden können. Zudem hat die Kommission über viele Jahre einen stark an der Verbraucherwohlfahrt ("Consumer welfare") orientierten Ansatz verfolgt, bei dem insbesondere Preissenkungen und eingeschränkt eine Erweiterung der Produktauswahl bzw. eine Qualitätsverbesserung der Produkte auf dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt in die Abwägung einbezogen wurden. Dies bietet zwar einen guten Ansatzpunkt, um solche Verbesserungen im Bereich der Nachhaltigkeit, die unmittelbar auch zu einer Qualitätssteigerung der Produkte oder zur Einführung neuer Produkte führen, berücksichtigen zu können. Gerade im Kontext von Nachhaltigkeitsinitiativen sind jedoch Konstellationen denkbar, in denen nicht nur keine (kurzfristigen) Vorteile für die Verbraucher auf dem betroffenen Markt eintreten, sondern sogar Nachteile in Form höherer Preise oder einer verringerten Produktauswahl. Hier stellt sich unmittelbar die Frage, wie umfangreich die Verbesserung im Bereich der Nachhaltigkeit sein muss, um einen höheren Preis zu rechtfertigen. Kritiker warnen in diesem Zusammenhang auch vor einem "Greenwashing" von Kartellen im Sinne eines maximalen Preisanstiegs für ein Minimum an Nachhaltigkeit.

Unabhängig von der konkreten Definition der wohlfahrtssteigernden Effekte, stellt die Quantifizierung von Nachhaltigkeitsvorteilen die kartellrechtliche Praxis vor große Herausforderungen. So entziehen sich einige Nachhaltigkeitsaspekte bereits per se sowohl aus ethischen als auch aus verfassungsrechtlichen Gründen einer solchen ökonomischen Bewertung. Darüber hinaus ist die Quantifizierung von Gemeinwohlaspekten generell mit erheblichen Unsicherheiten verbunden, weil die hierfür zur Verfügung stehenden ökonomischen Bewertungssysteme sich häufig noch in der Entwicklung befinden oder zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Nicht selten wird die entsprechende Quantifizierung daher auch ein wertendes Element beinhalten, das eine politische Entscheidung erfordert. In seinem Konzeptpapier hat sich das Bundeskartellamt skeptisch gezeigt, ob Wettbewerbsbehörden solche Entscheidungen treffen können und sollten.

2. Angemessene Verbraucherbeteiligung

Die zweite Bedingung für eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erfordert, dass die Verbraucher angemessen an den entstehenden Effizienzgewinnen beteiligt werden. Die Kommission versteht das Kriterium der angemessenen Verbraucherbeteiligung grundsätzlich eng und verlangt auch hier eine konkrete ökonomische Betrachtung. Demnach muss die Nettowirkung der Vereinbarung aus Sicht der betroffenen Verbraucher mindestens neutral sein. Bezugspunkt für die eintretenden Effizienzgewinne können dabei grundsätzlich nur die Verbraucher auf dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt sein. Treten dort negative Effekte ein, können diese nicht durch positive Auswirkungen auf anderen Märkten ausgeglichen werden. Genau diese Konstellation ist bei Nachhaltigkeitsinitiativen aber häufig gegeben. Verbieten Unternehmen beispielsweise durch eine Kooperationsform privater Selbstregulierung umweltschädliche Herstellungsmethoden in Entwicklungsländern, treten die positiven Effekte in diesen Ländern ein, während es in den Verkaufsländern zu negativen Effekten für die Verbraucher (z.B. Erhöhung der Produktpreise) kommt. 

Oft werden die Vorteile auch nicht unmittelbar eintreten, sondern sich ggf. erst nach einer gewissen und u.U. langen Zeitspanne positiv auswirken. Auch hier stellt sich die Frage, ob die aktuellen Verbraucher belastet werden können, um zukünftigen Verbrauchern einen Effizienzvorteil zu verschaffen.

III. Fazit und Ausblick

Die zahlreichen Entwürfe nationaler Wettbewerbsbehörden verdeutlichen, dass die Thematik des nachhaltigen Umgangs mit den uns zur Verfügung stehenden endlichen Ressourcen in das Zentrum der wettbewerbspolitischen Debatte gerückt ist. Dabei ist zu beobachten, dass immer mehr Wettbewerbsbehörden die mit dem Klimawandel und anderen Umweltphänomenen einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen wahrnehmen und beginnen, Umweltschutzbelange stärker in ihre Kartellrechtspraxis einzubinden. Dabei versuchen sie auch zunehmend, dem in der Wirtschaft wachsenden Bedürfnis von Unternehmen nach Rechtssicherheit in Bezug auf nachhaltigkeitsfördernde Kooperationen gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund ist das wachsende wettbewerbliche Interesse an Nachhaltigkeitsthemen zu begrüßen.

Bisher hat das Bundeskartellamt Nachhaltigkeitsinitiativen, wie beispielsweise die Initiative Tierwohl ("ITW") oder das Fairtrade-System, im Rahmen des behördlichen Aufgreifermessens Rechnung getragen und damit primär auf eine individuelle "Guidance" gesetzt. In seinem Konzeptpapier aus Oktober 2020 analysierte das Bundeskartellamt erstmals die Herausforderungen zur Beurteilung von Nachhaltigkeitsinitiativen im Kontext des Wettbewerbsrechts, stimmte aber im Hinblick auf eine extensive Interpretation einer Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV eher kritische Töne an. Im Sinne der Rechtssicherheit für die beteiligten Unternehmen wäre es daher erstrebenswert, wenn Nachhaltigkeitsinitiativen zukünftig nicht nur im Rahmen des Aufgreifermessens berücksichtigt würden, sondern das Bundeskartellamt klare Leitlinien zu ihrer Bewertung herausgeben würde. Solange dies nicht erfolgt ist, sollten Unternehmen im Blick behalten, dass auch Nachhaltigkeitsinitiativen, die auf den ersten Blick einen legitimen Zweck verfolgen, den Grenzen des Kartellverbots unterliegen, wenn sie in Form horizontaler Kooperationen zwischen Wettbewerbern erfolgen. Dies gilt insbesondere auch für einen möglichen Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen anlässlich der Zusammenarbeit. Eine entsprechende Prüfung und ggf. Abstimmung der Kooperation mit dem Bundeskartellamt sind zur Vermeidung kartellrechtlicher Risiken unerlässlich, solange es keine konkreteren Leitlinien in diesem Bereich gibt. Dies gilt umso mehr, als die Herangehensweisen der verschiedenen nationalen Wettbewerbsbehörden, die sich bislang mit dem Thema befasst haben, durchaus divergieren, was gerade für internationale Kooperationen die Beurteilung noch einmal komplexer macht. 

Auf Ebene der Europäischen Kommission steht als nächster Schritt die Auswertung der mehr als 200 Eingaben auf den "Call for Contributions" aus Oktober 2020 an, den die Kommission in Form eines Abschlussberichts für den Sommer 2021 angekündigt hat. Auch bieten die laufenden Reformvorhaben im Bereich der Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen und der Horizontalleitlinien einen guten Aufsatzpunkt für Konkretisierungen in der Rechtsanwendung. Es ist also lohnenswert, die weitere Entwicklung genau zu verfolgen und die kartellrechtlichen Spielräume für Kooperationen im Bereich der Nachhaltigkeit entsprechend auszutarieren.

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Ad-hoc-Praxis der DAX-Emittenten im Jahr 2020

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTSENTWICKLUNGEN

Ad-hoc-Praxis der DAX-Emittenten im Jahr 2020

11. Januar 2021

  • Deutlicher Anstieg der Anzahl von Ad-hoc-Mitteilungen durch DAX-Emittenten im Jahr 2020 (rund 100 Ad-hoc-Mitteilungen versus 63 Ad-hoc-Mitteilungen im Vorjahr). Ursächlich hierfür waren insbesondere die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, die vor allem im ersten Halbjahr 2020 die reguläre Finanzberichterstattung der Emittenten (einschließlich der Aussagen zur Ergebnisprognose) erheblich erschwert haben.
  • Demgegenüber hat sich der bereits im Vorjahr zu beobachtende rückläufige Trend bei der Anzahl der Ad-hoc-Mitteilungen zu M&A-Transaktionen im Jahr 2020 fortgesetzt, obwohl der Übernahmemarkt nach einer kleinen Pause im Frühjahr 2020 zum Jahresende hin wieder zulegte.
  • In regulatorischer Hinsicht war das Jahr 2020 vor allem durch die Veröffentlichung des Moduls C des Emittentenleitfadens der BaFin geprägt. Wesentliche Neuerungen für die Ad-hoc-Praxis der Emittenten haben sich jedoch nicht ergeben. Auch aus dem laufenden MAR-Review auf europäischer Ebene werden sich voraussichtlich keine wesentlichen Änderungen für die Ad-hoc-Publizität ergeben.
  • Darüber hinaus hat die BaFin zu Beginn der Covid-19-Pandemie FAQ mit Hinweisen für die Handhabung der Ad-hoc-Publizität in Zeiten der Pandemie veröffentlicht. Die BaFin hat damit kurzfristig und flexibel auf die durch die Pandemie ausgelösten Herausforderungen bei der Kapitalmarktkommunikation reagiert.

Deutlicher Anstieg der Ad-hoc-Mitteilungen

Im Kalenderjahr 2020 veröffentlichten die 30 aktuell im DAX notierten Emittenten deutlich mehr Ad-hoc-Mitteilungen als noch im Vorjahr. Im Durchschnitt veröffentlichten die Unternehmen 3,2 Mitteilungen, während es 2019 nur gut zwei Mitteilungen waren.

Der Anstieg der Ad-hoc-Mitteilungen ist – wie bereits erwähnt – maßgeblich auf die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zurückzuführen.

Mehr Prognoseanpassungen, weniger große M&A-Transaktionen

Thematisch lassen sich die Ad-hoc-Veröffentlichungen der DAX-Emittenten im Jahre 2020 in vier Gruppen einteilen:

  • Veröffentlichung von vorläufigen Geschäftsergebnissen und/oder Anpassung der Ergebnisprognose,
  • M&A-Transaktionen (insb. bedeutende Übernahmen, Fusionen und Börsengänge),
  • Personalangelegenheiten im Vorstand bzw. Aufsichtsrat sowie
  • sonstige Ad-hoc-Mitteilungen zum Beispiel zu Rechtsverfahren, der Verschiebung des Hauptversammlungstermins oder Aktienrückkaufprogrammen.

Die Anzahl der Ad-hoc-Mitteilungen zu Geschäftsergebnissen und Prognosen hat im Jahr 2020 insbesondere aufgrund der finanziellen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie erheblich zugenommen. Nahezu jede zweite Ad-hoc-Mitteilung betraf die Rücknahme bzw. Anpassung der Ergebnisprognose für das Jahr 2020 und/oder die Veröffentlichung von vorläufigen Geschäftsergebnissen. Auch in dem im Frühjahr von der BaFin veröffentlichen Modul C des Emittentenleitfadens nimmt das Thema Insiderinformationen im Zusammenhang mit der Finanzberichterstattung eine große Rolle ein. Die BaFin hat unter anderem ihren "dreistufigen Benchmark-Test" weiter konkretisiert (vgl. dazu auch unseren Aufsatz in der AG 2020, 477).

Demgegenüber hat es in 2020 deutlich weniger kursrelevante M&A-Transaktionen gegeben (zu den Auswirkungen des Moduls C des BaFin-Emittentenleitfadens auf die M&A-Praxis vgl. unseren Aufsatz in der NZG 2020, 688). Diese Entwicklung kann nicht nur mit der Pandemie erklärt werden, denn der M&A-Markt hat sich im Laufe des Jahres stabilisiert (vgl. den Artikel "In der Krise wird umstrukturiert" der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Dezember 2020). Zurückzuführen ist dies vielmehr darauf, dass es in 2020 verhältnismäßig wenig große kursrelevante Transaktionen der DAX-Emittenten gab.

Ad-hoc-Veröffentlichungen zu Personalthemen sind seit Jahren in inhaltlicher Hinsicht und auch, was die Häufigkeit betrifft, konstant. Typischerweise werden Veränderungen im Vorstandsvorsitz (vgl. beispielhaft die Ad-hoc-Mitteilung von Conti zur Amtsniederlegung des CEO Dr. Elmar Degenhart vom 29. Oktober 2020) und lediglich in Ausnahmefällen sonstige Personalangelegenheiten im Vorstand oder Aufsichtsrat (vgl. die Ad-hoc-Mitteilung der MTU Aero Engines vom 17. Juni 2020 zum Beschluss des Aufsichtsrats, Klaus Eberhardt als Vorsitzenden des Aufsichtsrats zu bestätigen und die  Altersgrenze für Aufsichtsratsmitglieder auf 75 Jahre heraufzusetzen) per Ad-hoc-Mitteilung mitgeteilt.

Die sonstigen Ad-hoc-Mitteilungen betrafen auch im Jahr 2020 einen bunten Strauß an kursrelevanten Themen. Neben den üblichen Ereignissen, wie die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten (vgl. die Ad-hoc-Mitteilung der Daimler AG vom 13. August 2020 zur Beilegung behördlicher und zivilrechtlicher Verfahren in den USA im Zusammenhang mit Dieselabgasemissionen) oder der Beschluss eines Aktienrückkaufprogramms (vgl. die Ad-hoc-Mitteilung der Munich RE vom 26. Februar 2020) erfolgten insbesondere Veröffentlichungen zu corona-bedingten Ereignissen wie die Verlegung der Hauptversammlung (dazu nachfolgend).

Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Ad-hoc-Praxis

Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Geschäftsentwicklung der DAX-Emittenten hat die BaFin im Frühjahr 2020 dazu veranlasst, spezielle FAQ zu veröffentlichen, die sich mit den Auswirkungen der Pandemie auf die Ad-hoc-Publizität auseinandersetzen. Sie geht darin auf die Ad-hoc-Relevanz der Verschiebung des Dividendenzahlungsbeschlusses, Prognoseänderungen, die Kursrelevanz von Geschäftszahlen und die Bewertung von Consensusschätzungen ein. Zudem erläutert sie, wann Emittenten nach der Rücknahme einer Prognose wieder "prognosefähig" sind und wann die speziellen – neben dem Modul C des Emittentenleitfaden stehenden – Corona-FAQ wieder außer Kraft treten bzw. dass es diesbezüglich "nicht möglich [sei], einen konkreten Zeitpunkt zu nennen". Gradmesser sei die "Entwicklung der Volatilität im Markt". 

Hilfreich für die Emittenten war in diesem Zusammenhang auch die Unterstützung des Deutschen Aktieninstituts (DAI), das mit den Emittenten und Vertretern aus der Beratungspraxis insbesondere zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 im Rahmen von virtuellen Veranstaltungen das Verständnis der BaFin-FAQ sowie weitere aktien- und kapitalmarktrechtliche Fragestellungen (Stichwort: virtuelle Hauptversammlung) diskutiert und die Hinweise aus der Praxis in den Dialog mit der BaFin eingebracht hat.

Nahezu sämtliche DAX-Emittenten nahmen im ersten Halbjahr 2020 auch tatsächlich zu den voraussichtlichen wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie Stellung. Neben der Rücknahme bzw. Anpassung der Ergebnisprognose wurden häufig vorläufige Geschäftszahlen veröffentlicht, die pandemie-bedingt unter den Erwartungen lagen. Einige Emittenten wiesen auch auf die Aussetzung bzw. Kürzung der Dividende hin. Ferner wurde die Verschiebung der Hauptversammlung teilweise per Ad-hoc-Mitteilung kommuniziert (vgl. die Ad-hoc-Mitteilung der Deutschen Telekom vom 16. März 2020, wobei hier auch eine Umstrukturierungsmaßnahme auf der Tagesordnung stand). Die überwiegende Anzahl der Emittenten veröffentlichte diese Information hingegen – mangels erheblicher finanzieller Auswirkungen für den Emittenten und daher in Einklang mit der BaFin-Verwaltungspraxis – per Pressemitteilung (so zum Beispiel adidas, Daimler, Henkel und Volkswagen). 

Ausblick auf die Ad-hoc-Praxis in 2021

Die Covid-19-Pandemie ist gesellschaftlich und wirtschaftlich noch nicht überwunden, die speziellen FAQ der BaFin sind noch in Kraft. Die Volatilität im Markt (gemessen an dem auch von der BaFin angeführten Volatilitätsindex VDAX-NEW) ist immer noch höher als ein Jahr zuvor. Emittenten können ihre Ad-hoc-Praxis daher derzeit nicht nur am Emittentenleitfaden der BaFin, sondern auch weiterhin an den Corona-FAQ ausrichten.

Aufgrund der wirtschaftlichen Herausforderungen, die die Pandemie für einige Branchen mit sich bringt, ist nicht auszuschließen, dass es in Zukunft vermehrt zu Zahlungsengpässen, Restrukturierungen und Insolvenzen kommen wird. Da es sich bei diesen Ereignissen in der Regel um außergewöhnliche – aus Sicht von Investoren bedeutsame – Entwicklungen handeln kann (und auch zukünftige Umstände veröffentlichungspflichtig sein können, wenn ihr Eintritt überwiegend wahrscheinlich – 50%+x – ist), ist die Pflicht zur Ad-hoc-Publizität frühzeitig in den Blick zu nehmen, d.h. sobald Anzeichen für eine solche Entwicklung vorliegen.

In regulatorischer Hinsicht ist zu beobachten, wie die EU-Kommission den von der ESMA im September 2020 veröffentlichten Abschlussbericht zum MAR-Review aufnehmen wird (vgl. dazu auch unseren Blog-Beitrag aus Oktober 2020). Ausgehend von den Empfehlungen der ESMA ist allerdings nicht zu erwarten, dass es zu wesentlichen Änderungen in den Bereichen Insiderrecht und Ad-hoc-Publizität kommen wird. Insbesondere wird es voraussichtlich dabei bleiben, dass das Insiderhandelsverbot und die Pflicht zur Ad-hoc-Publizität an dieselbe Definition der Insiderinformation anknüpfen. 

Darüber hinaus führt die BaFin derzeit eine Konsultation durch, um Leitlinien zur Bestimmung allgemeiner Kriterien für Ad-hoc-Publizitätspflichten und Aufschubmöglichkeiten für Kredit- und Finanzinstitute betreffend bankaufsichtliches Handeln und Abwicklung zu entwickeln. Die Konsultationsfrist läuft bis zum 5. Februar 2021, so dass noch in diesem Jahr mit entsprechenden Leitlinien der BaFin gerechnet werden kann.

GLADE MICHEL WIRTZ steht für einen Austausch zu diesen Themen jederzeit gerne zur Verfügung.

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Amazon again: Das Kartellverbot als blinder Fleck des „Marketplace“-Falls der Europäischen Kommission

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTSENTWICKLUNGEN

Amazon again: Das Kartell­verbot als blin­der Fleck des "Market­place"-Falls der Euro­päischen Kommission

18. Dezember 2020

Das Verfahren "Amazon Marketplace"

Am 10. November 2020 hat die Europäische Kommission ("Kommission") ausweislich einer entsprechenden Presseerklärung in dem im Juli 2019 eingeleiteten Verfahren "Amazon Marketplace" (AT.40462) an Amazon EU S.à.r.l. ("Amazon") eine Mitteilung der Beschwerdepunkte übersandt. Darin verleiht sie ihrer vorläufigen Beurteilung Ausdruck, Amazon verstoße auf den Online-Einzelhandelsmärkten gegen das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung gemäß Art. 102 AEUV. 

Die Kommission wirft Amazon unter anderem vor, vertrauliche Geschäftsdaten unabhängiger Händler, die ihre Produkte über den Amazon-Marketplace verkaufen, für das eigene, in unmittelbarem Wettbewerb zu diesen Händlern stehende Einzelhandelsgeschäft zu nutzen. Bei diesen Daten handelt es sich nach vorläufiger Einschätzung der Kommission etwa um die Zahl bestellter und ausgelieferter Produkte, jeweils über den Marktplatz erzielte Einnahmen, die Anzahl der Aufrufe von Angeboten, Versanddaten, bisherige Aktivitäten der Händler und geltend gemachte Verbraucherrechte für einzelne Produkte. Nach den gegenwärtigen Erkenntnissen der Kommission werden sehr große Mengen dieser nicht öffentlichen Verkäuferdaten aus dem Marketplace direkt in die Algorithmen des Amazon-Einzelhandelsgeschäfts eingespeist, um die eigenen Angebote und die Geschäftsstrategie von Amazon auszutarieren. Amazon kann sich so beispielsweise auf Angebote besonders erfolgreicher Produktkategorien und Artikel konzentrieren oder auch die eigenen Angebotsparameter zum Nachteil anderer Verkäufer auf der Plattform anpassen.

Implikationen des Verfahrens über den Verdacht des Marktmachtmissbrauchs hinaus

Während die Nachricht über die Mitteilung der Beschwerdepunkte unter dem Aspekt der mit Art. 102 AEUV verbundenen Themen zweifelsohne interessant ist, verdienen die Fragen, zu denen diese schweigt, mindestens das gleiche Maß an Beachtung. Anders als teilweise erwartet, nimmt die Kommission einen möglichen Verstoß gegen das Kartellverbot nach Art. 101 AEUV offenbar nicht in den Blick, obwohl der Fall durchaus Anlass zu einer entsprechenden Auseinandersetzung geboten hätte.

So ist Amazon der Prototyp einer sog. hybriden Plattform, d.h. einer Plattform, bei welcher der Plattformbetreiber zugleich selbst als Händler auf der Plattform tätig wird. In solchen Fällen steht immer auch ein wettbewerbsbeschränkender Informationsaustausch zwischen den Händlern und dem ebenfalls auf der Plattform als Händler aktiven Plattformbetreiber im Raum und damit ein Verstoß gegen das in Art. 101 AEUV niedergelegte Kartellverbot. So liegt nach den Horizontal-Leitlinien der Kommission bereits dann ein Kartellverstoß vor, wenn ein Unternehmen gegenüber einem Wettbewerber strategische Informationen offenlegt, weil davon ausgegangen wird, dass der Empfänger "die Informationen akzeptiert und sein Markverhalten entsprechend angepasst hat". Etwas anderes gilt danach nur, wenn der Informationsempfänger ausdrücklich erklärt, die Informationen nicht erhalten zu wollen.

Nutzung von Informationen in hybriden Konstellationen als ungeklärtes Problem

Läge der Fokus der Kommission im "Amazon Marketplace"-Fall nicht nur auf einem möglichen Verstoß gegen Art. 102 AEUV, wäre von der noch ausstehenden Entscheidung wertvolle Guidance für die praxisrelevante Thematik der Nutzung von Informationen in hybriden Konstellationen zu erwarten gewesen. Dabei ist die Grundproblematik eines potentiell kartellrechtswidrigen Informationsaustauschs in Situationen, in denen die in einer vertikalen Beziehung zueinanderstehenden Parteien sich zugleich als Wettbewerber auf einer von dem vertikalen Verhältnis unmittelbar berührten Marktstufe begegnen, nicht nur auf hybride Plattformen beschränkt. Sie ist vielmehr eine regelmäßige Herausforderung der kartellrechtlichen Selbsteinschätzung in diversen weiteren, praxisrelevanten Fallgestaltungen.

Vertreibt beispielsweise ein Hersteller seine Produkte an Einzelhändler und unterhält zugleich einen Direktvertrieb (sog. "dualer Vertrieb"), kann sich mit Blick auf eine wirkungsvolle Kartellrechtscompliance ebenfalls die Frage stellen, wie mit den in der vertikalen Vertragsbeziehung gewonnenen Informationen im horizontalen Wettbewerbsverhältnis umgegangen werden muss. Ähnliche Fragen stellen sich, wenn ein Franchisenehmer über einen Franchisevertrag mit einem Franchisegeber verbunden ist und letzterer konkurrierende Tätigkeiten im Wettbewerb zum Franchisenehmer ausübt, obwohl er über strategische Geschäftsdaten des Franchisenehmers aus dem Vertikalverhältnis verfügt. Allen diesen Konstellationen ist mit dem "Amazon Marketplace"-Fall gemeinsam, dass Informationen, die im Vertikalverhältnis (notwendigerweise?) ausgetauscht bzw. erlangt werden, im Horizontalverhältnis zu einer Wettbewerbsbeschränkung führen (können).

Auf den ersten Blick scheint Art. 2 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 ("Vertikal-GVO") die Thematik zu adressieren. Dieser statuiert, die Freistellungswirkung des Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO gelte nicht für vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, es sei denn "Wettbewerber [treffen] eine nicht gegenseitige vertikale Vereinbarung und der Anbieter [ist] zugleich Hersteller und Händler von Waren, der Abnehmer dagegen Händler, jedoch kein Wettbewerber auf der Herstellungsebene". Nach den Leitlinien zur Vertikal-GVO bemessen sich mögliche horizontale Effekte einer solchen hybriden Vereinbarung allerdings unmittelbar nach Art. 101 AEUV sowie den Horizontal-Leitlinien der Kommission. 

Wendet man die Horizontal-Leitlinien jedoch konsequent an, gelangt man – wie zuvor erörtert – wieder zu der mit kartellrechtlichen Unsicherheiten behafteten Konstellation, in der ein kartellrechtswidriger Informationsaustausch und damit ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV im Raum steht. Daher stellt sich aus Sicht einer zugleich wirkungsvollen, aber auch nicht überschießenden Kartellrechtscompliance die Frage, wie diesem Risiko begegnet werden kann bzw. muss.

Ausblick

Angesichts der dezidierten Verwaltungspraxis, die etwa das Bundeskartellamt in diesem Kontext entwickelt hat (vgl. etwa den Fallbericht vom 27. März 2018, B5-1/18-001 – Aufbau einer elektronischen Handelsplattform für Stahlprodukte (XOM Metals GmbH), die Pressemitteilung vom 5. Februar 2020 zur Agrarhandelsplattform Unamera oder den Fallbericht vom 9. September 2020, B8-94/19 – Aufbau einer elektronischen Handelsplattform für Mineralölprodukte durch OLF Deutschland GmbH, wäre eine Richtungsentscheidung aus Brüssel für die Praxis sicherlich hilfreich gewesen. Zumindest im "Amazon Marketplace"-Verfahren, das die Kommission wohl nur unter dem Gesichtspunkt des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung führt, wird die erhoffte Guidance zur Behandlung der Problematik des Informationsaustauschs bei hybriden Plattformen oder im Rahmen des dualen Vertriebs aber zunächst ausbleiben.

Die rechtssichere Handhabung der Grundproblematik wird jedoch schon seit längerem als unbefriedigend wahrgenommen. Denn nicht nur durch das Vordringen digitaler Vertriebsmodelle, sondern auch durch die zunehmende Verbreitung des Direktvertriebs gewinnt sie immer mehr an Bedeutung. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass die Thematik im Rahmen der aktuellen Überarbeitung der Vertikal-GVO nebst ihrer Leitlinien wohl adressiert werden wird (siehe die zahlreichen diesbezüglichen Verweise im Commission Staff Working Document vom 8. September 2020, SWD(2020) 172 final – Evaluation of the Vertical Block Exemption Regulation). 

Es bleibt daher zu hoffen, dass die neue Vertikal-GVO und ihre Leitlinien ein differenziertes und mit den ebenfalls in der Überarbeitung befindlichen Horizontal-Leitlinien abgestimmtes Regelungskonzept bereitstellen werden. Nur so können diffizile Einzelfallanalysen obsolet gemacht, eine rechtssichere Selbsteinschätzung ermöglicht und damit die unternehmerische Kartellrechtscompliance europaweit erleichtert werden.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Amazon again: Das Kartellverbot als blinder Fleck des "Marketplace"-Falls der Europäischen Kommission

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„Patentkriege 2.0“ – Verletzungsklage von Nokia gegen Daimler vor dem EuGH

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"Patentkriege 2.0" – Verletzungsklage von Nokia gegen Daimler vor dem EuGH

11. Dezember 2020

Es bleibt spannend in der Auseinandersetzung zwischen Daimler und Nokia: Am 26. November 2020 legte die 4c Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf dem Europäischen Gerichtshof grundlegende Fragen zur Lizenzierung von standardessentiellen Patenten vor (4c O 17/19). Auslöser des Vorlagebeschlusses ist ein Patentverletzungsstreit zwischen der Nokia Technologies OY und der Daimler AG. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung nimmt Patentinhaber Nokia die Daimler AG wegen Verletzung eines ihrer Patente auf Unterlassung in Anspruch. Das betroffene Patent ist essentiell für den LTE-Standard (4G) und wird benötigt, um Daten in einem Telekommunikationssystem zu senden. Diese Systeme verwenden mehrere Zulieferer von Daimler für ihre LTE-fähigen Module, die nach ihrer Fertigstellung in den Fahrzeugen von Daimler verbaut werden. Kann Nokia Daimler die Nutzung der Technologie verbieten? 

RECHTLICHE EINORDNUNG DES VORLAGEBESCHLUSSES

Im Wesentlichen geht es in dem Patentverletzungsstreit zwischen Nokia und Daimler darum, wie ein fairer und diskriminierungsfreier Zugang zu sog. standardessentiellen Patenten ("SEP") ermöglicht werden kann. Bei einem SEP handelt es sich um eine durch ein Patent geschützte technische Lösung, die zur Grundlage einer Norm oder eines Standards gemacht wurde. In der Regel erhält der Inhaber eines SEPs eine marktbeherrschende Stellung, weil die Hersteller von Bauteilen aufgrund der Norm oder des Standards auf die Nutzung des Patents angewiesen sind und die vom Patent erfasste technische Lehre nicht substituiert werden kann. In diesem Fall liegt ein eigenständiger Lizenzmarkt vor, auf dem der Inhaber des SEP bis zum Patentablauf eine marktbeherrschende Stellung einnimmt. In den meisten Fällen wird sich der SEP-Inhaber zuvor gegenüber einer Standardorganisation wie ETSI oder IEEE dazu verpflichtet haben, interessierten Nutzern eine Lizenz zu fairen, angemessenen und nichtdiskriminierenden Bedingungen ("FRAND") zu erteilen. Erhebt der SEP-Inhaber nun Klage auf Unterlassung, Rückruf und/ oder Vernichtung, kann sich der Nutzer mit dem auf Art. 102 AEUV/§ 19 GWB gestützten kartellrechtlichen Zwangslizenzeinwand verteidigen.

Der Europäische Gerichtshof ("EuGH") hat in seinem vielbeachteten Huawei-Urteil vom 16. Juli 2015 (C-170/13) festgelegt, unter welchen Voraussetzungen der kartellrechtliche Zwangslizenzeinwand durchgreift. Laut EuGH müssen sich beide Parteien ernsthaft um den Abschluss eines Lizenzvertrages unter FRAND-Bedingungen bemühen. Konkret treffen die Streitparteien die folgenden Verpflichtungen: 

  • Zunächst muss der SEP-Inhaber den Patentnutzer auf die vorgeworfene SEP-Verletzung hinweisen. 
  • Daraufhin muss der Verletzer seinen grundsätzlichen Willen zum Abschluss eines Lizenzvertrages zu FRAND-Bedingungen erklären (sog. Lizenzbereitschaft). 
  • Anschließend macht der SEP-Inhaber ein schriftliches FRAND-Lizenzangebot, auf das der Verletzter nach Treu und Glauben in angemessener Zeit reagieren muss. Lehnt er dieses Angebot ab, muss er selbst innerhalb einer kurzen Frist ein FRAND-Gegenangebot machen. 

Im Grundsatz gilt: Verstößt der SEP-Inhaber gegen seine Obliegenheiten, handelt er missbräuchlich und kann sein Patent nicht durchsetzen; die Klage wird abgewiesen. Hält sich der Verletzer nicht an den Fahrplan, kann er sich nicht mit dem Zwangslizenzeinwand verteidigen und wird verurteilt. Der Bundesgerichtshof ("BGH") hat in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 in der Sache Sisvel/Haier (KZR 36/17), einige dieser Verhandlungsschritte erstmalig höchstrichterlich konkretisiert. So sei es beispielsweise für die Lizenzbereitschaft des Verletzers nicht ausreichend, wenn dieser sich erst ein Jahr nach Erhalt des Verletzungshinweises unverbindlich und ohne hinreichend erkennbaren Willen zum Abschluss eines Lizenzvertrages unter FRAND-Bedingungen äußert. Wie weitere Details dieses Verhandlungsprozesses zu bestimmen sind, ist jedoch noch immer nicht abschließend geklärt. 

Inhalt der Vorlageentscheidung

Einige dieser offenen Fragen stellen sich auch im Rahmen des eingangs beschriebenen Verfahrens zwischen Nokia und Daimler. Die 4c Zivilkammer des LG Düsseldorf geht zunächst davon aus, dass Nokia gegen Daimler einen Unterlassungsanspruch wegen Patentverletzung zustehen kann. Das Gericht wirft dann allerdings die Frage auf, ob die Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs durch Nokia gegenüber Daimler als Missbrauch ihrer "auf dem Lizenzvergabemarkt unstreitig gegebenen marktbeherrschenden Stellung" anzusehen sei. Für einen Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung könne insbesondere sprechen, dass Nokia nicht vorrangig die um eine Lizenz nachsuchenden Zulieferer von Daimler lizensiert hat, sondern sich direkt an den Automobilhersteller Daimler wendete. Nokia hält dem entgegen, dass sie als SEP-Inhaberin frei entscheiden könne, auf welcher Stufe einer komplexen Produktions- und Zulieferkette sie Lizenzen zu FRAND-Bedingungen erteile.

Das LG Düsseldorf möchte daher von den Luxemburger Richtern wissen, ob der Inhaber eines standardessentiellen Patents seine marktbeherrschende Stellung missbraucht, wenn er gegen den Vertreiber des Endprodukts eine Unterlassungsklage wegen Patentverletzung erhebt, ohne zuvor dem Lizenzierungswunsch seiner, das Patent benutzenden Zulieferer nachgekommen zu sein. Darüber hinaus bittet das LG Düsseldorf den EuGH um eine Konkretisierung der weiteren Huawei-Kriterien.

Bewertung und Fazit

Bisher wurden primär die Hersteller von Smartphones, Tablets und anderen Geräten der Unterhaltungselektronik in den sog. "Patentkriegen" von SEP-Inhabern der Mobilfunkbranche verklagt. Durch die zunehmende Verwendung von Telekommunikationstechnik in anderen Bereichen wie beispielsweise Smart Cars, haben sich diese "Kriegsschauplätze" heute allerdings verlagert. Dies zeigt unter anderem das Verfahren zwischen Nokia und Daimler. Hier wird deutlich, dass nun auch Unternehmen der Automobilindustrie das Ziel von patentrechtlichen Klagen sind. Wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, werden mit Vorliebe nicht die Zulieferer der verbauten Mobilfunkmodule verklagt, sondern die Automobilhersteller selbst. Allein zwischen Nokia und Daimler waren in der vergangenen Zeit insgesamt zehn Klagen vor den Landgerichten in Düsseldorf, Mannheim und München anhängig. Die "Patentkriege 2.0" haben damit die Automobilindustrie erreicht.

Bereits Ende 2018 reichten verschiedene Automobilhersteller und Zulieferer gegen die Lizenzierungspraxis von Nokia Beschwerde bei der Europäischen Kommission ein. Die Beschwerdeführer werfen Nokia vor, dass der Konzern seine marktbeherrschende Stellung in Bezug auf SEPs missbrauche. Nachdem eine Mediation zwischen den streitenden Parteien gescheitert war, soll nun auch die Kommission untersuchen, wie für Telekommunikationsstandards essentielle Patente in der Automobilindustrie zu lizenzieren sind. Im Rahmen dieser Untersuchungen hat die Kommission allen Beteiligten Mitte diesen Jahres Requests for Information ("RFIs") zugesendet und sie um Stellungnahmen gebeten. Die Untersuchungen laufen derzeitig noch.

Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen ist die Vorlageentscheidung der Düsseldorfer Richter zu begrüßen. Der EuGH hat nun die Möglichkeit, grundlegende Fragen zur Lizenzierung von SEPs europaweit zu beantwortet. Dadurch wird SEP-Inhabern und potenziellen Verletzern mehr Rechtssicherheit bei der Ausgestaltung der Verhandlungsschritte bei ihren Lizenzverträgen unter FRAND-Bedingungen gegeben. Darüber hinaus kann eine Entscheidung des EuGH dazu beitragen, einem patentrechtlichen Klagemissbrauch durch SEP-Inhaber vorzubeugen.

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Dr. Markus Wirtz

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