#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Evolution statt Revolution? – Neue Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen auf europäischer und deutscher Ebene

13. Juni 2023

Die Europäische Kommission ("Kommission") hat am 1. Juni 2023 begleitend zu den überarbeiteten Gruppenfreistellungsverordnungen für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen (F&E-GVO) und für Spezialisierungsvereinbarungen (Spezialisierung-GVO) auch aktualisierte Horizontalleitlinien (Horizontal-LL 2023) verabschiedet. Die Horizontal-LL 2023 werden nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU im Laufe des Juli 2023 in Kraft treten. In den Horizontal-LL 2023 widmet sich die Kommission in einem eigenständigen Kapitel auch der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen. Auf deutscher Ebene wird die Diskussion zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen durch zwei jüngst veröffentliche Bewertungen des Bundeskartellamts zur "Initiative Tierwohl" sowie zum Forum Nachhaltiger Kakao e.V. („Kakaoforum“) und eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz ("BMWK") zum Verhältnis zwischen Wettbewerb und Nachhaltigkeit weiter akzentuiert. Dieser Beitrag gibt einen Ausblick, wie die Kommission Nachhaltigkeitsvereinbarungen in Zukunft bewerten wird und welche Auswirkungen die Horizontal-LL 2023 auf die Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der europäischen und nationalen Rechtsanwendungspraxis voraussichtlich haben werden.

I. Evolution statt Revolution auf europäischer Ebene

Dass die Kommission Nachhaltigkeitsvereinbarungen in den Horizontal-LL 2023 ein eigenständiges Kapitel widmet, verdeutlicht die zunehmende Bedeutung der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen für die Kartellrechtspraxis. Die Horizontal-LL aus dem Jahr 2011 mussten noch ohne ein gesondertes Kapitel zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen auskommen. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager sieht in den aktuellen Horizontal-LL "ein wichtiges Instrument, um den grünen und digitalen Wandel voranzutreiben". In den Horizontal-LL 2023 lässt die Kommission die rechtlichen Erwägungen zur kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen aus dem Entwurf von März 2022, den wir in unserem Blogbeitrag vom 27. September 2022 besprochen haben, im Wesentlichen unberührt.

Die Kommission bleibt dementsprechend auf ihrem bereits eingeschlagenen Weg. So bringt sie erneut zum Ausdruck, dass die Kartellvorschriften im Ausgangspunkt Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, die ein Nachhaltigkeitsziel verfolgen, nicht im Wege stehen sollen. Entsprechend behält die Kommission auch die weit gefasste Definition der Nachhaltigkeitsziele des Entwurfs von 2022 bei. Zudem stellt die Kommission in den Horizontal-LL 2023 klar, dass "Vereinbarungen, die sich nicht negativ auf Wettbewerbsparameter wie Preis, Quantität, Qualität, Auswahl oder Innovation auswirken, keinen Anlass zu wettbewerbsrechtlichen Bedenken geben". So fallen beispielsweise, aber nicht abschließend (i) Vereinbarungen, welche die Einhaltung hinreichend präzisier Vorgaben aus rechtlich bindenden internationalen Verträgen betreffen, (ii) Vereinbarungen zu unternehmensinternem Verhalten, (iii) branchenweite Sensibilisierungskampagnen und (iv) Vereinbarungen zur Einrichtung von Datenbanken mit Informationen über nachhaltige Lieferanten oder Händler nicht in den Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV. Ebenso übernimmt die Kommission in den Horizontal-LL 2023 den "Soft Safe Harbour" für Vereinbarungen über Nachhaltigkeitsstandards, die unter sechs kumulativ genannten Voraussetzungen schon nicht als Wettbewerbsbeschränkung i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV zu qualifizieren sind. Mit diesen Vereinbarungen über Nachhaltigkeitsstandards sind beispielsweise Vereinbarungen zur schrittweisen Abschaffung nicht nachhaltiger Produkte oder die Harmonisierung von Verpackungsgrößen und Produktinhalten zur Verringerung des Abfallanfalls gemeint.

Zugleich bleibt die Kommission bei ihrem restriktiven Ansatz zur kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Rahmen von Art. 101 Abs. 3 AEUV, vor allem mit Blick auf die "angemessene Verbraucherbeteiligung". Zwar können die insbesondere bei Nachhaltigkeitsvereinbarungen auftretenden kollektiven Gewinne, die auf einem anderen als dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt eintreten, grundsätzlich im Rahmen von Art. 101 Abs. 3 AEUV berücksichtigt werden. Eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV setzt aber weiterhin voraus, dass die von einer Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Verbraucher für die Wettbewerbsnachteile kompensiert werden. Sofern die Verbrauchervorteile auf einem anderen als dem von der Wettbewerbsbeschränkung erfassten Markt eintreten, verlangt die Kommission daher, dass die beiden Verbrauchergruppen sich in weiten Teilen überschneiden müssen.

Für die Praxis von Bedeutung sein wird auch das Zusammenspiel mit den neuen Gruppenfreistellungsverordnungen und den anderen Kapiteln in den Horizontal-LL 2023. Bei der kartellrechtlichen Prüfung ist im Blick zu behalten, dass eine Nachhaltigkeitsvereinbarung keine eigenständige Kategorie einer horizontalen Kooperationsvereinbarung darstellt. In der Praxis können beispielsweise auch Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern zu Forschung und Entwicklung Nachhaltigkeitsziele verfolgen. In diesem Fall kann eine solche Vereinbarung unter den Voraussetzungen der neuen F&E-GVO vom Kartellverbot freigestellt sein, ohne dass es auf die in den Leitlinien dargestellten Grundsätze zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen ankommt.

II. Mehr Evolution auf deutscher Ebene?

Auch auf deutscher Ebene entwickelt sich die Diskussion um den richtigen Umgang des Kartellrechts mit Nachhaltigkeitszielen weiter. Im März 2023 wurde eine Studie vorgestellt, die im Auftrag des BMWK das Verhältnis zwischen Wettbewerb und Nachhaltigkeit umfassend untersuchen soll. Im Zusammenhang mit der rechtlichen Verortung von Nachhaltigkeitszielen im Rahmen des Art. 101 AEUV wird in dem Dokument unter anderem die Option diskutiert, gesamtgesellschaftliche Vorteile weitergehender als bisher zu berücksichtigen und unter bestimmten Voraussetzungen auf eine Kompensation der von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Verbraucher zu verzichten. Im Kontext des Kartellverbots werden zudem weitere Optionen diskutiert, wie etwa eine Gruppenfreistellungsverordnung für Nachhaltigkeitsvereinbarung zu schaffen oder von den etablierten Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV zugunsten einer normativen Abwägung abzuweichen. Nach Aussagen des BMWK könnten die in der Studie diskutierten, teilweise weitreichenden Optionen zur möglichen Weiterentwicklung des Kartellrechts in einer künftigen GWB-Novelle berücksichtigt werden. Relevant ist dabei auch, dass sich die Ansätze nicht nur auf das Kartellverbot beschränken, sondern darüber hinaus die Fusionskontrolle, die Missbrauchsaufsicht und verschiedene Verfahrensfragen erfassen.

Die "Initiative Tierwohl" bleibt weiterhin einer der prominentesten praktischen Anwendungsfälle des Bundeskartellamts zu Nachhaltigkeitsinitiativen. Das Bundeskartellamt hat darauf hingewirkt, den verpflichtenden Preisaufschlag für die Abnehmer der teilnehmenden Erzeugerbetriebe zum Jahr 2024 abzuschaffen. Stattdessen führt die Initiative eine unverbindliche Empfehlung für eine Finanzierung der mit den Tierwohlkriterien verbundenen Mehrkosten ein. Das Bundeskartellamt stand einem verpflichtenden Preisaufschlag bereits zu Beginn von dessen Einführung aufgrund wettbewerblicher Bedenken kritisch gegenüber, tolerierte diesen aber in der Einführungsphase (siehe hierzu unseren Blogbeitrag vom 27. September 2022). Da sich die "Initiative Tierwohl" in der Zwischenzeit am Markt etabliert habe, sei ein einheitlicher Aufschlag für das Tierwohl aus Sicht der deutschen Wettbewerbsbehörde nicht (mehr) unerlässlich für die Durchsetzung der Initiative und die Einhaltung der Tierwohlkriterien. Aufgrund der fehlenden Unerlässlichkeit des verbindlichen Preisaufschlags kommt auch die für den Bereich der Landwirtschaft eingeführte Ausnahme vom Kartellrecht nach Art. 210a GMO nicht in Betracht.

Im Gegensatz dazu sieht das Bundeskartellamt (derzeit) keine Veranlassung, das Kakaoforum einer tiefergehenden kartellrechtlichen Prüfung zu unterziehen. Das Hauptziel des Kakaoforums, das sich aus Vertreterinnen und Vertretern der öffentlichen Hand, Unternehmen der Kakao- und Schokoladenindustrie, einem Großteil des deutschen Lebensmitteleinzelhandels und internationalen (NGOs) zusammensetzt, ist die Förderung existenzsichernder Einkommen der Kakaobäuerinnen und -bauern in den Produktionsländern Ghana und Elfenbeinküste. Anstatt auf einheitliche Preisaufschläge zu setzen, nutzt das Kakaoforum zur Verwirklichung dieser Ziele freiwillige Selbstverpflichtungen über individualisierte Mindestpreise, Quoten und Prämiensysteme, um bessere Hofpreise für die Kakaobäuerinnen und -bauern zu erreichen. Diese positive kartellrechtliche Beurteilung beruht vor allem auf der Freiwilligkeit der Selbstverpflichtungen der Mitglieder sowie den fehlenden Sanktionsmechanismen bei der Nichteinhaltung der Selbstverpflichtung. Des Weiteren werden wettbewerbsrelevante Informationen wie die erzielten Mindestpreise, die im Rahmen der Selbstverpflichtung von den Mitgliedern des Kakaoforums individuell eingegangen werden, nur in anonymisierter Form veröffentlicht. Ferner ist der Anteil der Hofpreise für Kakao im Vergleich zu den übrigen Preisfaktoren entlang der Wertschöpfungskette für Schokoladenprodukte vergleichsweise gering. Schließlich weist das Bundeskartellamt darauf hin, dass es von einer vertieften Prüfung der Ausnahme vom Kartellverbot im Agrarbereich nach Art. 210a GMO abgesehen hat. Nach Auffassung des Bundeskartellamts spreche aufgrund der Zielsetzung des Kakaoforums einiges gegen die Anwendung der Bereichsausnahme nach Art. 210a GMO. 

Diese jüngst veröffentlichten Beurteilungen zeigen, dass das Bundeskartellamt den eingeschlagenen Weg, Nachhaltigkeitsinitiativen im Rahmen des Aufgreifermessen zu prüfen, fortsetzt. Das Praxisbeispiel der "Initiative Tierwohl" verdeutlicht ferner die Notwendigkeit, eine Nachhaltigkeitsvereinbarung, insbesondere wenn sie erkennbar wettbewerbsrelevante Parameter wie den Preis betrifft, fortlaufend auf ihre kartellrechtliche Zulässigkeit hin zu überprüfen. Wettbewerbsbeschränkungen, die in der Anlaufphase einer Kooperation toleriert werden, können im Laufe der Zeit unzulässig werden. Gleichzeitig hat das Bundeskartellamt anlässlich der Vorstellung der bereits angesprochenen Studie angekündigt, abstrakte Guidance auf nationaler Ebene zu entwickeln. 

III. Fazit und Ausblick

Die Kommission hat mit der Verabschiedung der Horizontal-LL einen wichtigen Schritt hin zu mehr Rechtssicherheit bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen getätigt. Gleichzeitig dürften insbesondere Nachhaltigkeitsvorhaben, die in den Horizontal-LL nicht als eindeutig kartellrechtlich unproblematisch qualifiziert werden, auch weiterhin eine Abstimmung im Einzelfall mit der Kommission oder den nationalen Wettbewerbsbehörden erforderlich machen. Dementsprechend betont die Kommission in den Horizontal-LL erneut ihre Bereitschaft zu informeller Guidance für neue oder ungelöste Fragen zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Einzelfall.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die nationalen Gesetzgeber und die nationalen Wettbewerbsbehörden zu der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen durch die Kommission positionieren werden. Zwar entfalten die Leitlinien keine unmittelbare Wirkung für die nationalen Wettbewerbsbehörden und binden auch die Gerichte nicht unmittelbar. Im Sinne einer möglichst einheitlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Europäischen Union wäre eine homogene Herangehensweise jedoch wünschenswert. So hat die niederländische Wettbewerbsbehörde nach Veröffentlichung der Horizontal-LL angekündigt, ihren eigenen Leitlinienentwurf zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen, der beispielsweise mit Blick auf die angemessene Verbraucherbeteiligung einen progressiveren Ansatz verfolgte, auf Divergenzen zu den jüngst veröffentlichten Leitlinien der Kommission zu untersuchen und in Einklang mit diesen zu bringen. Sie will damit dem Umstand Rechnung tragen, dass die meisten Nachhaltigkeitsinitiativen in den Niederlanden grenzüberschreitende Aspekte haben. 

Der Beitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Evolution statt Revolution? – Neue Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen auf europäischer und deutscher Ebene

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