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Konkurrierende Kapitalanleger-Musterverfahren

11. August 2020

In zwei kürzlich ergangenen Entscheidungen hat sich der Bundesgerichtshof mit Fragen von konkurrierenden Kapitalanleger-Musterverfahren und der Auslegung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) befasst. Zum einen entschied der zweite Senat mit Beschluss vom 16. Juni 2020, dass das beim Oberlandesgericht Braunschweig anhängige Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Volkswagen AG einem weiteren Kapitalanleger-Musterverfahren beim Oberlandesgericht Stuttgart gegen die Porsche Automobil Holding SE ("Porsche SE") nicht entgegen steht, ein solches vielmehr durchzuführen ist (Az. II ZB 10/19). Zum anderen entschied er in diesem Zusammenhang, dass ein derzeit nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ausgesetztes Berufungsverfahren gegen die Porsche SE fortzusetzen ist (Az. II ZB 30/19). 

AUSGANGSLAGE

Am 22. September 2015 veröffentlichte die Volkswagen AG eine Ad-hoc-Meldung, der zufolge nach bisherigen internen Prüfungen weltweit rund 11 Mio. Fahrzeuge mit Dieselmotoren des Typs EA 189 Auffälligkeiten bezüglich ihres Stickoxidausstoßes aufwiesen, weshalb sie beabsichtige, im dritten Quartal des laufenden Geschäftsjahres rund EUR 6,5 Mrd. ergebniswirksam zurückzustellen.

Die Porsche SE ist als Holdinggesellschaft mit rund 52 % der Stimmrechte an der Volkswagen AG beteiligt. Am 22. September 2015 informierte auch sie in einer Ad-hoc-Meldung über diese Umstände und wies darüber hinaus darauf hin, dass bei ihr infolge der Kapitalbeteiligung an der Volkswagen AG ein entsprechender ergebnisbelastender Effekt zu erwarten sei. In der Zeit ab Mitte September 2015 verloren die Aktienkurse der Stamm- und Vorzugsaktien der Volkswagen AG und der Porsche SE deutlich an Wert. 

Seit Frühjahr 2017 läuft in diesem Kontext vor dem Oberlandesgericht Braunschweig ein Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Volkswagen AG und die Porsche SE. Die Auftaktverhandlung fand am 10. September 2018 statt. In dem Verfahren soll geklärt werden, ob die Emittenten Anleger zu spät über Risiken im Zusammenhang mit Dieselabgasemissionen informiert haben. Die Volkswagen AG weist in ihrem Geschäftsbericht 2019 darauf hin, dass in diesem Zusammenhang Ansprüche in Höhe von ca. EUR 9,6 Mrd. rechtshängig sind und sie der Auffassung ist, ihre kapitalmarktrechtlichen Pflichten ordnungsgemäß erfüllt zu haben.

Die Porsche SE wurde darüber hinaus aufgrund ihres Sitzes in Stuttgart von mehreren Investoren am Landgericht Stuttgart auf Schadensersatz verklagt. In dem Zusammenhang erließ das Landgericht Stuttgart am 28. Februar 2017 einen Vorlagebeschluss zur Einleitung eines Kapitalanleger-Musterverfahrens vor dem Oberlandesgericht Stuttgart (Az. 22 AR 1/17 Kap, abrufbar im Klageregister des Bundesanzeigers). Das Oberlandesgericht Stuttgart stellte demgegenüber mit Beschluss vom 27. März 2019 fest, dass ein Musterverfahren wegen der Sperrwirkung des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Braunschweig nach § 7 KapMuG unzulässig sei. Die Bestimmung eines Musterklägers wurde abgelehnt.

Das Landgericht Stuttgart verurteilte die Porsche SE zwischenzeitlich zur Zahlung von Schadensersatz in Millionenhöhe. Auf die Berufungen der Klägerinnen und der Porsche SE hat das Berufungsgericht das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Kapitalanleger-Musterverfahren in Braunschweig und in Stuttgart ausgesetzt. Das Kapitalanleger-Musterverfahren in Braunschweig sei rechtlich und tatsächlich vorgreiflich, weil es im Kern um dieselbe Frage – wurden Anleger zu spät über die finanziellen Folgen der Auffälligkeiten bezüglich des Stickoxidausstoßes des EA 189 informiert? – gehe. Zudem sei das Verfahren auch im Hinblick auf das – für unzulässig erklärte und tatsächlich nicht eingeleitete – Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart auszusetzen.

KAPITALANLEGER-MUSTERVERFAHREN GEGEN DIE PORSCHE SE IN STUTTGART ZULÄSSIG

In dem ersten Beschluss in Sachen II ZB 10/19 beschäftigte sich der Bundesgerichtshof mit der Frage der Sperrwirkung des Kapitalanleger-Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Braunschweig für ein weiteres Musterverfahren in Stuttgart. Eine solche Sperrwirkung bestehe im Ergebnis nicht – ein weiteres Musterverfahren gegen die Porsche SE sei zulässig. 

Ein Kapitalanleger-Musterverfahren sei aus Sicht des Bundesgerichtshofs wegen der Sperrwirkung des Vorlagebeschlusses gemäß § 7 Satz 1 KapMuG lediglich ausgeschlossen, soweit die Entscheidung über die Feststellungsziele in einem bereits eingeleiteten Musterverfahren die Prozessgerichte in den Verfahren, die im Hinblick auf die Feststellungsziele des weiteren Musterverfahrens nach § 8 Abs. 1 KapMuG auszusetzen wären, binde. Bei Schadensersatzansprüchen, die auf das Unterlassen einer öffentlichen Kapitalmarktinformation (insbesondere das Unterlassen einer Ad-hoc-Veröffentlichung) gestützt würden, habe eine Entscheidung über die Feststellungsziele eines bereits eingeleiteten Musterverfahrens nur dann bindende Wirkung für andere Prozesse, wenn diese "dieselbe öffentliche Kapitalmarktinformation" beträfen.

Das Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig sperre nach dieser Maßgabe das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart nicht, weil Gegenstand der Feststellungsziele des vor dem Oberlandesgericht Braunschweig eingeleiteten Musterverfahrens Schadensersatzansprüche wegen öffentlicher Kapitalmarktinformationen der Volkswagen AG seien, während das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart öffentliche Kapitalmarktinformationen der Porsche SE betreffen soll. Dass Vorgänge bei der Volkswagen AG jedenfalls mittelbar in beiden Verfahren von Bedeutung sind, sei nicht entscheidend. Es handle sich um verschiedene Kapitalmarktinformationen. Feststellungen eines Musterentscheids kämen keine Bindungswirkung für Folgeprozesse zu, denen lediglich parallele Fallgestaltungen zugrunde liegen.

ZU DEN VORAUSSETZUNGEN DER AUSSETZUNG GEMÄSS § 8 ABS. 1 KAPMUG

In seiner zweiten Entscheidung befasste sich der Bundesgerichtshof mit der Frage, ob ein anhängiges Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart gegen die Porsche SE zulässigerweise nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzt wurde (Az. II ZB 30/19). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass weder in Bezug auf die Feststellungsziele des Braunschweiger Musterverfahrens noch in Bezug auf die Feststellungsziele des (noch nicht eingeleiteten) Musterverfahrens in Stuttgart eine Abhängigkeit im Sinne von § 8 Abs. 1 KapMuG vorliege. 

Zwar sei auch im Berufungsverfahren eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG möglich, doch gelte dies nur, wenn die maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt seien. Dies sei hier nicht der Fall. Im Hinblick auf das Musterverfahren in Braunschweig liege eine Abhängigkeit bereits deshalb nicht vor, weil die Feststellungen des Oberlandesgerichts Braunschweig keine Bindungswirkung im Sinne von § 22 Abs. 1 KapMuG für mögliche, auf die Verletzung von Informationspflichten gestützte Schadensersatzansprüche gegen die Porsche SE (am Landgericht Stuttgart) hätten. Das Musterverfahren in Braunschweig betreffe ausschließlich Schadensersatzansprüche gegen die Volkswagen AG. 

Auch in Bezug auf das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart sei eine Aussetzung aber letztlich nicht zulässig, weil diese mit hypothetischen Erwägungen begründet worden sei. Es sei rechtfehlerhaft, eine Aussetzung damit zu begründen, dass eine Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele naheliege. Eine Aussetzung sei lediglich dann zulässig, wenn im betreffenden Verfahren nur noch Tatsachen oder Rechtsfragen offen sind, die unabhängig vom Ausgang des Musterverfahrens nicht beantwortet werden können. Es sei einem Rechtsuchenden nicht zuzumuten, dass sein individueller Rechtsstreit ausgesetzt wird und er unabsehbare Zeit auf das Ergebnis des oft jahrelang dauernden Musterverfahrens warten muss, obwohl nicht feststeht, dass es auf den Ausgang des Musterverfahrens in seinem Prozess tatsächlich ankommt. Ein Prozessgericht dürfte seine Aussetzungsentscheidung nicht auf hypothetische Erwägungen stützen. 

Eine Aussetzung des Berufungsverfahrens gegen die Porsche SE komme im Ergebnis erst dann in Betracht, wenn das Berufungsgericht die Abhängigkeit der Entscheidung des dem Berufungsverfahren zugrundeliegenden Rechtsstreits von den Feststellungszielen des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Stuttgart feststellt. Nicht entscheidend war damit aus Sicht des Bundesgerichtshofs, dass das Oberlandesgericht Stuttgart den Vorlagebeschluss des Landgerichts Stuttgart vom 28. Februar 2017 für unzulässig erklärt und tatsächlich kein Musterverfahren eingeleitet hat. Dies spiele keine Rolle, sofern der entsprechende Beschluss noch nicht rechtskräftig sei.

EINORDNUNG DER ENTSCHEIDUNGEN UND AUSBLICK

Die jüngsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Sachen Porsche SE haben zur Folge, dass – neben dem bereits anhängigen Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig – ein weiteres Musterverfahren zu Fragen der Kapitalmarktinformationshaftung im Zusammenhang mit Auffälligkeiten des Dieselmotors EA 189 durchzuführen ist. Sobald das Oberlandesgericht Stuttgart die Akten aus Karlsruhe zurückerhält, muss es nach billigem Ermessen einen Musterkläger – im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig ist dies die Deka Investment GmbH – bestimmen und anschließend das Musterverfahren im Klageregister öffentlich bekanntmachen.

Angesichts der inhaltlichen Überschneidungen wird mit Spannung zu beobachten sein, inwiefern es zwischen dem noch einzuleitenden Musterverfahren beim Oberlandesgericht Stuttgart und dem bereits seit Jahren laufenden Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig, bei dem bereits in acht Terminen über prozessuale und materielle Fragestellungen verhandelt wurde, zu Wechselwirkungen kommen wird. In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass auch das Musterverfahren in Stuttgart einige Jahre dauern und schwierige Rechtsfragen aufwerfen wird. 

Der zweite Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16. Juni 2020, der die Fortsetzung des am Oberlandesgericht Stuttgart anhängigen Berufungsverfahrens gegen die Porsche SE anordnet (Az. II ZB 30/19), dürfte in tatsächlicher Hinsicht demgegenüber weniger Relevanz aufweisen. Denn sobald das Musterverfahren beim Oberlandesgericht Stuttgart um weitere Feststellungsziele erweitert wird (§ 15 Abs. 1 KapMuG), dürften – auch nach Maßgabe des Bundesgerichtshofs – die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 KapMuG gegeben und eine Aussetzung des Verfahrens geboten sein.

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