Nachhaltigkeit und Wettbewerb – Mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft?
16. Januar 2023
Die Europäische Kommission ("Kommission") hat zu Beginn des neuen Jahres einen Entwurf der Leitlinien für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft ("Leitlinienentwurf") veröffentlicht. Dies zeigt, dass die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen im Kartellrecht auch weiterhin oben auf der Prioritätenliste der europäischen Wettbewerbsbehörde steht. Die Leitlinien zielen darauf ab, die Vorgaben des Art. 210a VO (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse ("GMO") zu konkretisieren und mehr Rechtssicherheit für Akteure im Lebensmittel- und Agrarsektor bei der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu schaffen. Dieser Beitrag erläutert die wesentlichen Aussagen des Leitlinienentwurfs und nimmt eine erste Bewertung vor, inwieweit der Entwurf der Kommission einen Beitrag zur rechtssicheren Implementierung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft leistet. Auf die grundlegenden Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Behandlung von Nachhaltigkeitszielen gehen die Blogbeiträge vom 8. Februar 2021 (hier) und vom 27. September 2022 (hier) ein.
I. Bedeutung der Erzeuger landwirtschaftlicher Erzeugnisse für den europäischen "Green Deal"
Art. 210a GMO wurde im Rahmen der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik ("GAP") im Jahr 2021 eingeführt, um den Übergang zu einem nachhaltigen EU-Lebensmittelsystem zu unterstützen. Diese Freistellung vom Kartellverbot soll einen Beitrag zum Erreichen der Ziele des "Green Deal" leisten, mit dem die EU in eine "gerechtere und wohlhabendere Gesellschaft mit einer modernen, ressourcenschonenden und wettbewerbsfähigen Wirtschaft" umgebaut werden soll. Nach Art. 210a Abs 1 GMO findet das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die sich auf die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder den Handel damit beziehen und darauf abzielen, einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, als er durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Diese Freistellung gilt jedoch nur, wenn mit diesen Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen lediglich Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt werden, die für das Erreichen des höheren Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich sind. Die Ausnahme ist nicht auf die Erzeugerebene beschränkt, sondern gilt auch für wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen zwischen Erzeugern und Unternehmen auf verschiedenen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Handels der Lebensmittelversorgungskette. Damit eine Nachhaltigkeitsvereinbarung in den Anwendungsbereich von Art. 210a Abs. 2 GMO fällt, muss mindestens ein Erzeuger als Partei beteiligt sein.
II. Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft
Die Leitlinien sollen nicht nur für Rechtssicherheit sorgen, indem sie Erzeugern und Akteuren in der Lebensmittelversorgungskette bei der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsvereinbarungen als Grundlage dienen. Vielmehr sollen sie auch den nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden eine Orientierungshilfe bei der Anwendung von Art. 210a GMO bieten. Zu diesem Zweck widmet sich der Leitlinienentwurf einer Vielzahl von Aspekten: (i) dem persönlichen, sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich von Art. 210a GMO und den von der Bestimmung erfassten Produkten; (ii) den von der Ausnahmeregelung erfassten Arten von Wettbewerbsbeschränkungen; (iii) dem Konzept der Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO; (iv) dem Verfahren für die Beantragung einer Stellungnahme der Kommission zu der Frage, ob eine bestimmte Nachhaltigkeitsvereinbarung die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllt; (v) den Voraussetzungen für ein nachträgliches Eingreifen der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden sowie (viii) der Beweislast für den Nachweis, dass die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllt sind. Dieser Blogbeitrag widmet sich im Schwerpunkt den erfassten Nachhaltigkeitszielen, dem Konzept der Unerlässlichkeit und dem System der Stellungnahmen der Kommission zur Zulässigkeit einer Nachhaltigkeitsvereinbarung.
1. Nachhaltigkeitsziele: Mehr Gestaltungsfreiraum als bisher?
Nach Art. 210a Abs. 3 GMO muss ein Nachhaltigkeitsstandard zur Erreichung eines oder mehrerer der folgenden Ziele beitragen: (i) Umweltziele (z.B. eine Abschwächung des oder eine Anpassung an den Klimawandel, die nachhaltige Nutzung bzw. der Schutz von Landschaften, Wasser oder des Bodens etc.), (ii) die Verringerung des Einsatzes von Pestiziden und der Gefahr einer Resistenz gegen antimikrobielle Wirkstoffe sowie (iii) Tiergesundheit und Tierwohl. Zu beachten ist jedoch, dass andere als die aufgeführten Ziele wie soziale Verbesserungen (z.B. der Arbeitsbedingungen oder eine gesunde und nahrhafte Ernährung) sowie wirtschaftliche Ziele (z.B. die Entwicklung von Marken oder eine gerechtere Entlohnung von Landwirten) nicht bei der Beurteilung der Einhaltung von Art. 210a GMO berücksichtigt werden können (Rn. 43 Leitlinienentwurf). Daher ist bei der Prüfung, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung von der Freistellung des Art. 210a GMO profitiert, auf eine genaue Identifizierung der Ziele zu achten, zu deren Erreichung der Nachhaltigkeitsstandard beitragen soll. Dies verdeutlicht ein Beispiel der Kommission, in dem Milcherzeuger und Verarbeiter vereinbaren, eine Marke zu entwickeln, die eine gerechtere Entlohnung der Erzeuger gewährleisten soll. Zwar können grundsätzlich Einkommenssteigerungen der Milcherzeuger zu einem Anstieg der Investitionen führen, die Umwelt- oder Tierschutzziele verfolgen. Wenn jedoch das Ziel, zu dessen Erreichung die Vereinbarung beitragen soll, darin besteht, eine gerechtere Entlohnung der Erzeuger zu gewährleisten, wäre dies nicht von den in Art. 210a Abs. 3 GMO aufgeführten Zielen erfasst. Eine Freistellung vom Kartellverbot müsste anhand der Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV geprüft werden.
Um von der Privilegierung des Art. 210a GMO profitieren zu können, muss der Nachhaltigkeitsstandard, der mit der Nachhaltigkeitsvereinbarung verfolgt wird, höher sein als das, was durch europäisches oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Dies bedeutet, dass der Nachhaltigkeitsstandard Nachhaltigkeitsanforderungen aufstellen muss, die über diejenigen einer in Kraft befindlichen Norm hinausgehen. Der Standard kann auch Nachhaltigkeitsanforderungen in Fällen einführen, in denen weder das EU-Recht noch das nationale Recht solche vorschreiben. Die durch die Anwendung einer Nachhaltigkeitsvereinbarung erzielten Ergebnisse müssen grundsätzlich greifbar und messbar sein. Zur Lösung des Problems der Quantifizierung von Nachhaltigkeitsvorteilen dürfte die Erwägung der Kommission beitragen, dass es in Fällen, in denen es nicht adäquat ist, die erzielten Ergebnisse in Zahlen zu messen, z.B. aufgrund der Art oder des Gegenstands der Nachhaltigkeitsnorm, ausreichend sein soll, dass diese beobachtbar und beschreibbar sind (Rn. 52 Leitlinienentwurf).
2. Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO und Art. 101 Abs. 3 AEUV: Same same, but different?
Eines der wichtigsten Kriterien bei der Prüfung, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung von der Freistellung nach Art. 210a GMO profitieren kann, ist die Unerlässlichkeit der auferlegten Wettbewerbsbeschränkungen. Vergleichbar mit der Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 101 Abs 3 AEUV erfordert auch die Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO im Ausgangspunkt ein Vorgehen in zwei Schritten. Aufgrund des gesetzgeberischen Willens, Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Agrarsektor aus dem Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV herauszunehmen, unterscheiden sich die für die Bestimmung des Begriffs der Unerlässlichkeit anzuwendenden Maßstäbe jedoch. So setzt der Maßstab der Unerlässlichkeit im Rahmen des Art. 210a GMO im Gegensatz zu Art. 101 Abs. 3 AEUV keine angemessene Verbraucherbeteiligung an den Vorteilen der Nachhaltigkeitsvereinbarung voraus. Daraus folgt, dass sogar Vereinbarungen über Preise und Preisbestandteile – Hardcore-Verstöße gegen das EU-Kartellrecht, die im Regelfall in den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen und auch keiner (Einzel-)freistellung zugänglich sind – unter bestimmten Voraussetzungen als unerlässlich anzusehen sein können (Rn. 83 Leitlinienentwurf).
Entsprechend dieser zweistufigen Prüfung der Unerlässlichkeit ist in einem ersten Schritt zu klären, ob die Nachhaltigkeitsvereinbarung an sich notwendig ist, um den angestrebten Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, ob der Nachhaltigkeitsstandard in gleicher Weise auch durch individuelles Handeln erreicht werden kann (Rn. 90 ff. Leitlinienentwurf). Nach Auffassung der Kommission kann eine Kooperation auch notwendig sein, wenn der Nachhaltigkeitsstandard zwar durch individuelle Maßnahmen erreicht werden könnte, die Parteien sie aber durch eine Zusammenarbeit schneller und mit weniger Kosten und Aufwand erzielen können (Rn. 95 Leitlinienentwurf). Die Parteien müssen weiter prüfen, ob die konkrete Regelung, z.B. in Bezug auf Preis, Produktion, Innovation oder Vertrieb für die Erreichung des Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich ist.
Wenn die Parteien nach dem ersten Schritt zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Nachhaltigkeitsvereinbarung und die darin festgelegten Maßnahmen unerlässlich sind, um den Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen, ist in einem zweiten Schritt zu klären, ob dies auch für jede durch die Vereinbarung auferlegte Wettbewerbsbeschränkung zutrifft (Rn. 101, 107 ff. Leitlinienentwurf). Bei diesem Prüfungsschritt muss die Maßnahme ausgewählt werden, die am geeignetsten ist, um die Ziele der Nachhaltigkeitsvereinbarung zu erreichen und die gleichzeitig den Wettbewerb am wenigsten beeinträchtigt. So müssen die Parteien z.B. bei einer Vereinbarung über den Preis entscheiden, ob die Festlegung eines Endpreises, eines Mindestpreises oder eines Preisaufschlags unerlässlich zur Erreichung des jeweiligen Nachhaltigkeitsstandards ist. Neben der Art der Beschränkung sind dabei auch ihre Intensität (z.B. die konkrete Höhe des Preises) und ihre Dauer zu berücksichtigen (Rn. 114 und 117 ff. Leitlinienentwurf).
Die Parteien einer Nachhaltigkeitsvereinbarung müssen zudem kontinuierlich überprüfen, ob die Vereinbarung auch im weiteren Verlauf noch unerlässlich ist. Selbst wenn die Kommission in einer ersten Phase zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Unerlässlichkeit i.S.d. Art 210a GMO vorliegt, ist dies keine Garantie dafür, dass die Vereinbarung dauerhaft die Anforderungen an die Unerlässlichkeit erfüllt. Dies kann insbesondere dann nicht mehr der Fall sein, wenn sich der wirtschaftliche und rechtliche Kontext, in dem die Nachhaltigkeitsvereinbarung zum Einsatz kommt, wesentlich ändert (Rn. 130 Leitlinienentwurf).
3. Stellungnahme der Kommission – Vier Monate vom sicheren Hafen entfernt?
Nach Art. 210a Abs. 6 UAbs. 1 GMO können die von der Norm erfassten Erzeuger ab dem 8. Dezember 2023 die Kommission um eine Stellungnahme zur Vereinbarkeit einer Nachhaltigkeitsvereinbarung mit Art. 210a GMO ersuchen, die dem Antragsteller innerhalb von vier Monaten übermittelt wird. Die Kommission betont in dem Leitlinienentwurf, dass diese Frist erst am Tag nach dem Eingang eines vollständigen Antrags beginnt. Für eine zeitnahe Bearbeitung der Stellungnahme ist daher entscheidend, dass dieser die durchaus umfassenden Anforderungen der Kommission an den Antrag und die Darstellung der Nachhaltigkeitsvereinbarung erfüllt (Rn. 144 Leitlinienentwurf). Die Stellungnahmen der Kommission entfalten zwar keine rechtliche Bindungswirkung gegenüber Gerichten und den nationalen Wettbewerbsbehörden. Sie sollen vielmehr die Erzeuger bei der Selbstbeurteilung unterstützen. Dennoch dürfen die nationalen Wettbewerbsbehörden und die nationalen Gerichte die Stellungnahmen der Kommission berücksichtigen, wenn sie dies im Rahmen eines Falles für angebracht halten (Rn. 158 Leitlinienentwurf). Gleichzeitig haben die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden weiterhin das Recht, Nachhaltigkeitsvereinbarungen aufzuheben oder Änderungen daran zu verlangen, wenn dies erforderlich ist, um den Wettbewerb aufrechtzuerhalten, oder wenn davon auszugehen ist, dass die Ziele der GAP gemäß Art. 39 AEUV gefährdet sind (Rn. 161 ff. Leitlinienentwurf).
III. Fazit und Ausblick
Interessierte Kreise sind bis zum 24. April 2023 aufgerufen, den Leitlinienentwurf zu kommentieren. Nach der Auswertung der eingegangenen Stellungnahmen und möglicher Änderungen an den Leitlinien sollen diese bis zum 8. Dezember 2023 veröffentlicht werden. Sollte der Leitlinienentwurf vollständig umgesetzt werden, dürften die Leitlinien einen wichtigen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft leisten. Dazu trägt insbesondere die Möglichkeit bei, innerhalb eines vergleichbar kurzen Zeitrahmens von vier Monaten eine Stellungnahme der Kommission mit deren rechtlicher Würdigung der Nachhaltigkeitsvereinbarung zu erhalten. Auch die Erwägung der Kommission, Vereinbarungen über Preise und Preisbestandteile in Nachhaltigkeitsvereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen als mit dem Kartellverbot vereinbar anzusehen, dürfte Nachhaltigkeitsinitiativen neben mehr Gestaltungsfreiheit auch mehr Rechtsicherheit bei der Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen verschaffen. Dieser bemerkenswerte Ansatz der Kommission bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen hat jedoch aufgrund der auf den Agrarsektor begrenzten Bereichsausnahme des Art. 210a GMO keine darüberhinausgehende Ausstrahlungswirkung.
Von entscheidender Bedeutung für die Durchschlagskraft des Art. 210a GMO in der Praxis dürfte auch der Umgang des Bundeskartellamts mit dieser Freistellung vom Kartellverbot sein. In seiner bisherigen Entscheidungspraxis zu Nachhaltigkeitsinitiativen im Agrarsektor hat das Bundeskartellamt von einer Freistellung dieser Initiative gestützt auf Art. 210a GMO abgesehen (hier). Daher bleibt abzuwarten, in welchem Umfang das Bundeskartellamt Art. 210a GMO bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsinitiativen nach der geplanten Veröffentlichung der Leitlinien im Dezember 2023 berücksichtigen wird.
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Dr. Silke Möller
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