Sorgfaltspflichten in der Lieferkette – Gesetzliche Regelung noch in dieser Legislaturperiode beabsichtigt

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Sorgfaltspflichten in der Liefer­kette – Gesetzliche Regelung noch in dieser Legis­laturperiode beabsichtigt

23. Februar 2021

  • Die Bundesregierung beabsichtigt die Einführung eines sog. Sorgfaltspflichtengesetzes, um Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette (wie z.B. Kinderarbeit) entgegenzuwirken. Dem Kabinett soll in wenigen Wochen ein entsprechender Referentenentwurf zur Verabschiedung vorgelegt werden.
  • Nach aktuellem Stand sollen sämtliche Unternehmen, die welt- und konzernweit mehr als 1.000 Arbeitnehmer beschäftigen, in den Anwendungsbereich des Gesetzes fallen. Sie wären verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass im eigenen Unternehmen und in der Lieferkette Menschenrechtsverletzungen vermieden werden.
  • Im Fall von Zuwiderhandlungen drohen den Unternehmen empfindliche Nachteile wie zum Beispiel Bußgelder und der Ausschluss bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.

I. Einleitung

Die Frage der Verantwortung von Unternehmen für Menschenrechtsrisiken in der Lieferkette sorgt seit Jahren für kontroverse Diskussionen. Im März 2020 hatten das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hierzu Eckpunkte eines sog. Sorgfaltspflichtengesetzes (Eckpunktepapier) erarbeitet, die in der Folgezeit ein erhebliches Echo aus unterschiedlichen Richtungen ausgelöst haben. Jüngst einigten sich das BMAS und das BMZ mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) auf gemeinsame Grundsätze für ein entsprechendes neues Gesetz. 

Für erhebliche Diskussionen sorgte insbesondere das Ansinnen von BMAS und BMZ nach Einführung einer eigenständigen Haftungsnorm, die ausländischen Betroffenen die Möglichkeit geben sollte, Klagen vor deutschen Gerichten gegen in Deutschland ansässige Unternehmen wegen etwaiger Verletzung von menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten anzustrengen. Dies ist nach Intervention des BMWi nunmehr offenbar vom Tisch. Auch an anderen Stellen, etwa beim personellen Anwendungsbereich, wurde das Gesetzesvorhaben abgeschwächt. Nichtsdestotrotz bedeutet ein Sorgfaltspflichtengesetz auch in der nunmehr vorgesehenen Form rechtliches Neuland – und für die erfassten Unternehmen nennenswerte zusätzliche Compliance-Pflichten.

Ein Referentenentwurf soll dem Kabinett bereits Mitte März 2021 zur Beschlussfassung vorgelegt werden. Das Gesetz soll sodann noch in dieser Legislaturperiode vom Bundestag beschlossen werden. Dies gibt Anlass, das Gesetzesvorhaben näher zu beleuchten.

II. Ausgangspunkt

In Deutschland ansässige größere Unternehmen sollen erstmals bestimmte menschenrechtliche Sorgfaltspflichten in Bezug auf die eigene Geschäftstätigkeit und die Lieferkette treffen – mit dem Ziel, etwaige in Zusammenhang mit dem eigenen unternehmerischen Handeln stehende Verletzungen von Menschenrechten zu verhindern bzw. diesen angemessen entgegenzuwirken. 

Das BMAS und das BMZ als maßgebliche Befürworter einer gesetzlichen Regelung berufen sich dabei nicht nur auf den geltenden Koalitionsvertrag, sondern auch auf entsprechende Forderungen von NGOs, Gewerkschaften und aus Teilen der Wirtschaft selbst. Viele Wirtschaftsverbände befürchten dagegen eine unangemessene Belastung für den Wirtschaftsstandort Deutschland, insbesondere wenn deutsche Unternehmen stärker in die Pflicht genommen würden als Unternehmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten.

Seinen Ursprung hat das Gesetzesvorhaben in den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, zu deren Verwirklichung weltweit sog. Nationale Aktionspläne (NAP) implementiert wurden. Der im Jahr 2016 eingerichtete deutsche NAP setzte zunächst auf eine freiwillige Umsetzung in den Unternehmen. Dieser Ansatz gilt jedoch nach entsprechenden Untersuchungen heute als gescheitert. Für diesen Fall sah und sieht der geltende Koalitionsvertrag ein Tätigwerden des nationalen Gesetzgebers sowie – parallel – die Unterstützung EU-weiter Regelungen vor. Tatsächlich plant auch die EU-Kommission für dieses Jahr eine Gesetzesinitiative. Der Ansatz der EU geht dabei dem Vernehmen nach gegebenenfalls auch über den nun geplanten deutschen Weg hinaus und könnte z.B. auch Regelungen über eine zivilrechtliche Haftung beinhalten. 

III. ERFASSTE UNTERNEHMEN; INKRAFTTRETEN

Das geplante nationale Sorgfaltspflichtengesetz soll nach der nunmehr erfolgten Einigung vom 12. Februar 2021 alle Personen- und Kapitalgesellschaften deutschen und ausländischen Rechts betreffen, die in Deutschland ansässig sind (d.h. in Deutschland unternehmerische Steuerungsentscheidungen treffen) und die welt- und konzernweit mehr als 1.000 Arbeitnehmer beschäftigen. Die Vorgaben sollen dabei nunmehr abgestuft in Kraft treten, und zwar ab Anfang 2023 zunächst für Unternehmen mit mehr als 3.000 Arbeitnehmern und ab 2024 dann auch für Unternehmen mit mehr als 1.000 Arbeitnehmern. Im Eckpunktepapier war noch vorgesehen, auf Unternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmern abzustellen.

IV. GEGENSTAND DER MENSCHENRECHTLICHEN SORGFALTSPFLICHT

Kern des Sorgfaltspflichtengesetzes wird die Festlegung von bestimmten menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten sein. Bezugspunkte der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten sind nach dem Eckpunktepapier insbesondere Zwangsarbeit, Kinderarbeit, Diskriminierung, Verstoß gegen die Vereinigungsfreiheit, Verstöße gegen Arbeitsschutz und problematische Anstellungs- und Arbeitsbedingungen, Verstoß gegen Landrechte sowie bestimmte Umweltschädigungen.

1. Reichweite in der Lieferkette

Nach der Einigung vom 12. Februar 2021 sollen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten nicht mehr – wie vom BMAS und BMZ zunächst geplant – uneingeschränkt in Bezug auf die gesamte Lieferkette gelten. Vielmehr sollen die menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten in der Lieferkette primär lediglich noch in Bezug auf unmittelbare Zulieferer gelten. Im Bereich weiter vorgelagerter Zulieferer sollen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten nur dann entstehen, wenn Erkenntnisse oder Hinweise über dortige Verstöße vorliegen.

2. Angemessene Compliance-Maßnahmen

Konkret sollen die erfassten Unternehmen zunächst verpflichtet sein, in Bezug auf die eigene Tätigkeit und bei ihren unmittelbaren Zulieferern menschenrechtliche Risiken aus dem eigenen unternehmerischen Handeln zu ermitteln und zu bewerten. Auf dieser Grundlage wären sodann geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um etwaigen negativen Auswirkungen des unternehmerischen Handelns bei der Wahrung von Menschenrechten zu begegnen. Sowohl für die Risikoanalyse als auch für die Implementierung von angemessenen Vorbeuge-, Minimierungs- und Abhilfemaßnahmen dürfte vielfach ein Dialog mit den unmittelbaren Zulieferern und gegebenenfalls weiteren lokalen Stakeholdern und Institutionen erforderlich sein. Bestandteil der geplanten gesetzlichen Regelung ist insbesondere auch eine Pflicht zur Wirksamkeitskontrolle, so dass entsprechende Überprüfungen durchzuführen wären.

Mittelbare Zulieferer sollen dagegen nur noch bedingt einem Screening unterzogen werden müssen, nämlich dann, wenn Erkenntnisse oder Hinweise über dortige Menschenrechtsverstöße vorliegen. Insoweit dürfte in Zukunft insbesondere die Frage virulent werden, wie konkret und glaubhaft entsprechende Hinweise sein müssen, um die zunächst lediglich latente Pflichtenstellung zu "aktivieren". 

Die vorgesehenen unternehmerischen Sorgfaltspflichten sollen bei den verpflichteten Unternehmen zukünftig zu einem Prozessstandard führen, ohne dass eine Erfolgspflicht begründet werden soll. Statuiert werden soll aber eine "Bemühenspflicht" i.S. eines ernsthaften Bemühens. Dies bedeutet, dass Unternehmen nicht verpflichtet sein werden, unter allen Umständen sämtliche Menschenrechtsverletzungen im eigenen Geschäftsbetrieb oder bei (unmittelbaren) Lieferanten zu verhindern. Das geforderte Risikomanagement soll sich vielmehr – wie auch sonst gefordert – nach dem Prinzip der Angemessenheit richten. 

Welche Maßnahmen im Einzelfall angemessen sind und daher erforderlichenfalls implementiert werden müssen, soll sich – nach den Maßstäben des Eckpunktepapiers – insbesondere nach der Art der Geschäftstätigkeit, der Wahrscheinlichkeit der Risikoverwirklichung und der Schwere eines tatsächlichen oder möglichen Schadens sowie auch den Einwirkungsmöglichkeiten bestimmen. Postuliert wird dabei der Grundsatz "Befähigung vor Rückzug". Der Abbruch einer problematischen Geschäftsbeziehung soll lediglich als letztes Mittel erforderlich sein, wenn ein Unternehmen anders seinen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nicht (mehr) genügen kann. Vorrangig sollen – wie es im Eckpunktepapier heißt – Unternehmen darin bestärkt werden, gemeinsam mit dem jeweiligen Zulieferer oder innerhalb der Branche nach Lösungen zu suchen. Hierfür soll nach dem Eckpunktepapier die Bundesregierung "Unterstützungsangebote" zur Verfügung stellen. 

Insbesondere im Hinblick auf internationale Liefervereinbarungen wird es in Zukunft also immer wichtiger werden, (auch) die menschenrechtsbezogenen Erwartungen an die Zusammenarbeit vertraglich verbindlich abzubilden. Als vertragliche Absicherungsinstrumente kommen unter Compliance-Gesichtspunkten insbesondere Prüfungsrechte, Kooperationsverpflichtungen und außerordentliche Kündigungsrechte in Betracht. Unmittelbare Lieferanten könnten zudem verpflichtet werden, Sorge dafür zu tragen, dass menschenrechtliche Standards auch in der nachgelagerten Lieferkette eingehalten werden.

V. Berichterstattung

Bereits jetzt gelten für (bestimmte) Kapitalgesellschaften mit mehr als 500 Mitarbeitern die Vorgaben der EU-Richtlinie zur Erweiterung der Berichterstattung von großen kapitalmarktorientierten Unternehmen, Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Versicherungsunternehmen (CSR-Richtlinie), die in Deutschland in den §§ 289b, 289c, 315b, 315c HGB umgesetzt sind. Diese Regelungen verpflichten die davon erfassten Unternehmen zur Abgabe einer nichtfinanziellen Erklärung insbesondere über Maßnahmen zum Umweltschutz, zu Sozial- und Arbeitnehmerbelangen sowie zur Achtung der Menschenrechte.

Im Rahmen eines Sorgfaltspflichtengesetzes sind nunmehr zusätzliche gesetzliche Berichtspflichten geplant, die neben die Vorgaben der CSR-Richtlinie treten sollen. Die erfassten Unternehmen sollen namentlich verpflichtet werden, jährlich transparent und öffentlich in einem Bericht darzulegen, dass sie etwaige nachteilige Auswirkungen ihres unternehmerischen Handels auf Menschenrechte kennen und diesen in geeigneter Weise begegnen. Dabei soll auf jedes Kernrisiko i.S. des Gesetzes eingegangen werden.

VI. Durchsetzungsmechanismen

Die Einhaltung der Anforderungen durch die Unternehmen soll behördlicherseits turnusmäßig anhand der Berichterstattung sowie anlassbezogen, z.B. bei Hinweisen Dritter, geprüft und erforderlichenfalls durchgesetzt werden. Verletzungen menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten sollen mit einem zur Durchsetzung der Vorgaben angemessenen Bußgeld geahndet werden können. Zudem ist vorgesehen, Unternehmen, gegen die ein Bußgeld ab einer bestimmten Höhe verhängt wurde, für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren von öffentlichen Aufträgen auszuschließen.

Eine eigenständige zivilrechtliche Haftungsregelung soll es dagegen, wie eingangs dargelegt, nicht geben. Insoweit ist das BMWi mit seinen Bedenken durchgedrungen. Im Gegenzug sollen aber nun NGOs und Gewerkschaften die Möglichkeit erhalten, Geschädigte vor deutschen Gerichten zu vertreten, jedenfalls sofern bestimmte schwerere Verstöße gegen menschenrechtliche Standards in Rede stehen. Wie genau eine solche Regelung ausgestaltet wird, bleibt abzuwarten.

VII. Ausblick

Die zunehmende Verrechtlichung internationaler Handelsbeziehungen, die (mögliche) Einführung eines Verbandssanktionenrechts in Deutschland sowie die nationalen und auf EU-Ebene bestehenden Pläne zur Einführung gesetzlicher Vorgaben zur Wachsamkeit gegenüber Menschenrechtsrisiken in der Lieferkette werden sich nicht nur auf den Zuschnitt von Compliance Management Systemen und auf die Anforderungen im Einkauf auswirken. Ganze Geschäftsmodelle könnten (und sollen nach der Intention des Gesetzgebers) hiervon beeinflusst werden. 

Mit Blick auf ein Sorgfaltspflichtengesetz bleibt zu wünschen, dass der für März 2021 in Aussicht gestellte Referentenentwurf hinreichend konkret erkennen lässt, wie weit die gesetzliche Inpflichtnahme der erfassten Unternehmen tatsächlich reichen soll und welche staatlichen "Unterstützungsangebote" (wie vom BMAS und BMZ in Aussicht gestellt) gemacht werden können, damit – im allseitigen Interesse – das gesetzgeberische Ziel "Befähigung vor Rückzug" auch Wirklichkeit wird. Wünschenswert wäre zudem, dass ein einheitlicher europäischer Ansatz gefunden werden kann.

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Der Green Deal im Spannungsfeld zwischen Kartellverbot und Verbrauchernutzen

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Der Green Deal im Spannungsfeld zwischen Kartellverbot und Verbrauchernutzen – Aktuelle Entwicklungen bei der Berücksichtigung von Nachhaltig­keitszielen im Rahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV

8. Februar 2021

Der nachhaltige Umgang mit endlichen Ressourcen wird für Verbraucher, Wirtschaft und Politik sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene immer wichtiger. Die Bundesregierung hat bereits 2018 die "Agenda 30 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen" zum Leitfaden deutscher Politik erklärt und sich der Erreichung der dort normierten 17 Nachhaltigkeitsziele verpflichtet. Auch die Europäische Kommission stellte Ende 2019 ihren "Green Deal" vor. Dieser enthält einen Fahrplan für eine nachhaltige EU-Wirtschaft und sieht vor, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um mindestens 55 Prozent und bis 2050 auf null zu senken. Um diese ambitionierten Klimaziele erreichen zu können, müssen auch Politikbereiche einen Beitrag leisten, die man zumindest prima facie nicht mit diesen in Verbindung bringen würde, wie z.B. die Wettbewerbspolitik. Verschiedene nationale Wettbewerbsbehörden haben in jüngerer Zeit bereits konkrete, teils progressive Vorschläge und Leitlinien zu der Frage erarbeitet, wie Nachhaltigkeitsziele im Kartellrecht zukünftig berücksichtigt werden könnten. Neben der Fusionskontrolle ist hier insbesondere das Kartellverbot als Maßstab für horizontale Kooperationen zur Förderung der Nachhaltigkeit in den Blick zu nehmen. Dabei konzentriert sich dieser Überblick vor allem auf eine mögliche Freistellungsfähigkeit nachhaltigkeitsbezogener Wettbewerbsbeschränkungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV.

I. Was bisher geschah

Nachhaltigkeitsinitiativen sind nicht mehr nur Gegenstand staatlicher, sondern zunehmend auch privater Selbstregulierung in Form horizontaler Kooperationen, die am Kartellverbot zu messen sind. Dabei können die Förderung der Nachhaltigkeit und der Wettbewerbsschutz in einen Zielkonflikt zueinander geraten und die kartellrechtliche Bewertung von Nachhaltigkeitsinitiativen im Rahmen der Selbsteinschätzung von den beteiligten Unternehmen schwierige Abwägungsprozesse verlangen. Vor diesem Hintergrund haben verschiedene Kartellbehörden Leitlinien für ihre Beurteilung entwickelt bzw. befinden sich derzeit in unterschiedlichen Stadien eines solchen Prozesses. Den ersten Leitlinienentwurf zur Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsinitiativen im Kartellrecht legte die niederländische Wettbewerbsbehörde, Autoriteit Consument & Markt ("ACM"), am 9. Juli 2020 vor. Ihr Entwurf gibt Unternehmen hilfreiche Auslegungskriterien an die Hand und zeigt im Sinne eines "More Sustainable Economic Approach" auf, wie nachhaltiges Engagement kartellrechtlich gewürdigt werden kann. Kurze Zeit später folgte eine Veröffentlichung der griechischen Wettbewerbsbehörde, Hellenic Competition Commission ("HCC"), mit dem Titel "Competition Law & Sustainability". Auch der Arbeitskreis Kartellrecht des Bundeskartellamtes entwickelte im Oktober 2020 ein Konzeptpapier zu dem Thema "Offene Märkte und nachhaltiges Wirtschaften – Gemeinwohlziele als Herausforderung für die Kartellrechtspraxis". Fast zeitgleich initiierte die Europäische Kommission ("Kommission") einen "Call for Contributions", in dem sie zur Einreichung von Vorschlägen aufrief, wie die europäische Wettbewerbspolitik den "Green Deal" unterstützen kann. Die zahlreichen Beiträge können auf der Website der Kommission eingesehen werden und waren am 4. Februar 2021 Gegenstand einer Konferenz, zu der Margrethe Vestager eingeladen hatte. Am 27. Januar 2021 meldete sich im Zuge des Brexits schließlich auch die britische Wettbewerbsbehörde, Competition and Markets Authority ("CMA"), mit einem Papier, das den Titel "Environmental sustainability agreements and competiton law" trägt.

II. NACHHALTIGKEITSINITIATIVEN ALS GEGENSTAND EINER MÖGLICHEN FREISTELLUNG NACH ART. 101 ABS. 3 AEUV

Sofern eine Vereinbarung zur Verbesserung im Bereich der Nachhaltigkeit in den Anwendungsbereich des Kartellverbots gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, weil sie eine spürbare Wettbewerbsbeschränkung darstellt und auch nicht als notwendige Nebenabrede im Sinne der "Ancillary Restraints"-Doktrin qualifiziert werden kann, stellt sich unmittelbar die Frage nach einer möglichen Freistellung gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV. Eine Freistellung vom Kartellverbot ist jedoch nur möglich, wenn die in Art. 101 Abs. 3 AEUV genannten vier Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind (Effizienzgenerierung, Verbrauchernutzen, kein Ausschluss des Wettbewerbs, keine weniger wettbewerbsbeschränkende Maßnahme gegeben). In Bezug auf Nachhaltigkeitsinitiativen sind insbesondere die ersten beiden Voraussetzungen relevant, namentlich ob die betreffende Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu (1.) Effizienzgewinnen führen und (2.) eine angemessene Beteiligung der Verbraucher an diesen gewährleistet ist.

1. Nachhaltigkeitsverbesserungen als Effizienzgewinne

Gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV muss das mit der Vereinbarung verfolgte Ziel zur "Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung" bzw. zur "Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts" beitragen.

Die angestrebten Nachhaltigkeitsziele können kartellrechtlich aber grundsätzlich nur berücksichtigt werden, wenn es sich bei ihnen um nachweisbare und objektive Vorteile handelt, die auf der Grundlage der Vereinbarung auch prognostiziert werden können. Zudem hat die Kommission über viele Jahre einen stark an der Verbraucherwohlfahrt ("Consumer welfare") orientierten Ansatz verfolgt, bei dem insbesondere Preissenkungen und eingeschränkt eine Erweiterung der Produktauswahl bzw. eine Qualitätsverbesserung der Produkte auf dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt in die Abwägung einbezogen wurden. Dies bietet zwar einen guten Ansatzpunkt, um solche Verbesserungen im Bereich der Nachhaltigkeit, die unmittelbar auch zu einer Qualitätssteigerung der Produkte oder zur Einführung neuer Produkte führen, berücksichtigen zu können. Gerade im Kontext von Nachhaltigkeitsinitiativen sind jedoch Konstellationen denkbar, in denen nicht nur keine (kurzfristigen) Vorteile für die Verbraucher auf dem betroffenen Markt eintreten, sondern sogar Nachteile in Form höherer Preise oder einer verringerten Produktauswahl. Hier stellt sich unmittelbar die Frage, wie umfangreich die Verbesserung im Bereich der Nachhaltigkeit sein muss, um einen höheren Preis zu rechtfertigen. Kritiker warnen in diesem Zusammenhang auch vor einem "Greenwashing" von Kartellen im Sinne eines maximalen Preisanstiegs für ein Minimum an Nachhaltigkeit.

Unabhängig von der konkreten Definition der wohlfahrtssteigernden Effekte, stellt die Quantifizierung von Nachhaltigkeitsvorteilen die kartellrechtliche Praxis vor große Herausforderungen. So entziehen sich einige Nachhaltigkeitsaspekte bereits per se sowohl aus ethischen als auch aus verfassungsrechtlichen Gründen einer solchen ökonomischen Bewertung. Darüber hinaus ist die Quantifizierung von Gemeinwohlaspekten generell mit erheblichen Unsicherheiten verbunden, weil die hierfür zur Verfügung stehenden ökonomischen Bewertungssysteme sich häufig noch in der Entwicklung befinden oder zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Nicht selten wird die entsprechende Quantifizierung daher auch ein wertendes Element beinhalten, das eine politische Entscheidung erfordert. In seinem Konzeptpapier hat sich das Bundeskartellamt skeptisch gezeigt, ob Wettbewerbsbehörden solche Entscheidungen treffen können und sollten.

2. Angemessene Verbraucherbeteiligung

Die zweite Bedingung für eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV erfordert, dass die Verbraucher angemessen an den entstehenden Effizienzgewinnen beteiligt werden. Die Kommission versteht das Kriterium der angemessenen Verbraucherbeteiligung grundsätzlich eng und verlangt auch hier eine konkrete ökonomische Betrachtung. Demnach muss die Nettowirkung der Vereinbarung aus Sicht der betroffenen Verbraucher mindestens neutral sein. Bezugspunkt für die eintretenden Effizienzgewinne können dabei grundsätzlich nur die Verbraucher auf dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt sein. Treten dort negative Effekte ein, können diese nicht durch positive Auswirkungen auf anderen Märkten ausgeglichen werden. Genau diese Konstellation ist bei Nachhaltigkeitsinitiativen aber häufig gegeben. Verbieten Unternehmen beispielsweise durch eine Kooperationsform privater Selbstregulierung umweltschädliche Herstellungsmethoden in Entwicklungsländern, treten die positiven Effekte in diesen Ländern ein, während es in den Verkaufsländern zu negativen Effekten für die Verbraucher (z.B. Erhöhung der Produktpreise) kommt. 

Oft werden die Vorteile auch nicht unmittelbar eintreten, sondern sich ggf. erst nach einer gewissen und u.U. langen Zeitspanne positiv auswirken. Auch hier stellt sich die Frage, ob die aktuellen Verbraucher belastet werden können, um zukünftigen Verbrauchern einen Effizienzvorteil zu verschaffen.

III. Fazit und Ausblick

Die zahlreichen Entwürfe nationaler Wettbewerbsbehörden verdeutlichen, dass die Thematik des nachhaltigen Umgangs mit den uns zur Verfügung stehenden endlichen Ressourcen in das Zentrum der wettbewerbspolitischen Debatte gerückt ist. Dabei ist zu beobachten, dass immer mehr Wettbewerbsbehörden die mit dem Klimawandel und anderen Umweltphänomenen einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen wahrnehmen und beginnen, Umweltschutzbelange stärker in ihre Kartellrechtspraxis einzubinden. Dabei versuchen sie auch zunehmend, dem in der Wirtschaft wachsenden Bedürfnis von Unternehmen nach Rechtssicherheit in Bezug auf nachhaltigkeitsfördernde Kooperationen gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund ist das wachsende wettbewerbliche Interesse an Nachhaltigkeitsthemen zu begrüßen.

Bisher hat das Bundeskartellamt Nachhaltigkeitsinitiativen, wie beispielsweise die Initiative Tierwohl ("ITW") oder das Fairtrade-System, im Rahmen des behördlichen Aufgreifermessens Rechnung getragen und damit primär auf eine individuelle "Guidance" gesetzt. In seinem Konzeptpapier aus Oktober 2020 analysierte das Bundeskartellamt erstmals die Herausforderungen zur Beurteilung von Nachhaltigkeitsinitiativen im Kontext des Wettbewerbsrechts, stimmte aber im Hinblick auf eine extensive Interpretation einer Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV eher kritische Töne an. Im Sinne der Rechtssicherheit für die beteiligten Unternehmen wäre es daher erstrebenswert, wenn Nachhaltigkeitsinitiativen zukünftig nicht nur im Rahmen des Aufgreifermessens berücksichtigt würden, sondern das Bundeskartellamt klare Leitlinien zu ihrer Bewertung herausgeben würde. Solange dies nicht erfolgt ist, sollten Unternehmen im Blick behalten, dass auch Nachhaltigkeitsinitiativen, die auf den ersten Blick einen legitimen Zweck verfolgen, den Grenzen des Kartellverbots unterliegen, wenn sie in Form horizontaler Kooperationen zwischen Wettbewerbern erfolgen. Dies gilt insbesondere auch für einen möglichen Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen anlässlich der Zusammenarbeit. Eine entsprechende Prüfung und ggf. Abstimmung der Kooperation mit dem Bundeskartellamt sind zur Vermeidung kartellrechtlicher Risiken unerlässlich, solange es keine konkreteren Leitlinien in diesem Bereich gibt. Dies gilt umso mehr, als die Herangehensweisen der verschiedenen nationalen Wettbewerbsbehörden, die sich bislang mit dem Thema befasst haben, durchaus divergieren, was gerade für internationale Kooperationen die Beurteilung noch einmal komplexer macht. 

Auf Ebene der Europäischen Kommission steht als nächster Schritt die Auswertung der mehr als 200 Eingaben auf den "Call for Contributions" aus Oktober 2020 an, den die Kommission in Form eines Abschlussberichts für den Sommer 2021 angekündigt hat. Auch bieten die laufenden Reformvorhaben im Bereich der Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalvereinbarungen und der Horizontalleitlinien einen guten Aufsatzpunkt für Konkretisierungen in der Rechtsanwendung. Es ist also lohnenswert, die weitere Entwicklung genau zu verfolgen und die kartellrechtlichen Spielräume für Kooperationen im Bereich der Nachhaltigkeit entsprechend auszutarieren.

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Dr. Silke Möller

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