Ad-hoc-Praxis der DAX-Emittenten im Jahr 2022

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Ad-hoc-Praxis der DAX-Emittenten im Jahr 2022

27. Januar 2023

  • Erneuter Rückgang der Anzahl der Ad-hoc-Veröffentlichungen von DAX-Emittenten (2022 wurden 81 Ad-hoc-Mitteilungen veröffentlicht – gegenüber rund 107 Ad-hoc-Mitteilungen im Jahr 2021).
  • Thematisch betraf fast die Hälfte der veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen Geschäftsergebnisse und Prognosen der Emittenten. Im Zuge des Russland-Ukraine-Kriegs passten einige DAX-Emittenten ihre Ergebnisprognose für 2022 an. Ad-hoc-Mitteilungen mit M&A-Bezug machten 2022 lediglich ein Fünftel der Gesamtmitteilungen aus.
  • EU-Konsultation schlägt im Listing Act praxisrelevante Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung vor.

Erneuter Rückgang der Ad-hoc-Veröffentlichungen

Die Anzahl der veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen war 2022 erneut rückläufig. Veröffentlichten die im DAX gelisteten Emittenten 2021 noch durchschnittlich ca. 2,6 Ad-hoc-Mitteilungen, so waren es im vergangenen Jahr lediglich ca. 2 Ad-hoc-Mitteilungen je Emittent.

Die absolute Zahl von 107 Ad-hoc-Mitteilungen im Jahr 2021 verringerte sich im Jahr 2022 auf insgesamt 81 Ad-hoc-Mitteilungen. Die Volkswagen AG führt dabei die Liste mit acht veröffentlichten Mitteilungen an, wobei hiervon sechs Mitteilungen im Zusammenhang mit dem Börsengang der Porsche AG Ende September 2022 stehen.

Inhaltliche Trends

Thematisch lassen sich die Ad-hoc-Veröffentlichungen der DAX-Emittenten im Jahr 2022 – wie auch in den Jahren zuvor – in vier Gruppen einteilen:

  • Veröffentlichung von vorläufigen Geschäftsergebnissen und/oder Anpassung der Ergebnisprognose,
  • M&A-Transaktionen (insb. bedeutende Übernahmen, Fusionen und Börsengänge);
  • Personalangelegenheiten im Vorstand bzw. Aufsichtsrat;
  • sonstige Ad-hoc-Mitteilungen zum Beispiel zu Kapitalmaßnahmen Aktienrückkäufen.

Rund die Hälfte der im Jahr 2022 veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen von DAX-Emittenten betraf Geschäftsergebnisse und Prognosen der Emittenten. Dabei war zu beobachten, dass einige Emittenten ihre Ergebniserwartung für das Jahr 2022 anlässlich des Russland-Ukraine-Kriegs und damit zusammenhängender Unsicherheiten – zum Teil per Ad-hoc-Mitteilung – korrigierten. So aktualisierte etwa die Henkel AG & Co. KGaA im April 2022 ihre Jahresprognose angesichts der "außerordentlich angespannte[n] Situation an den Rohstoffmärkten und in den globalen Lieferketten", die sich "durch den Krieg in der Ukraine weiter verschärft" hätten. Teilweise wurde auch per Ad-hoc-Meldung darauf hingewiesen, dass von einer Prognose abgesehen bzw. eine solche zurückgezogen werde. Andere Emittenten hatten die mit dem Russland-Ukraine-Krieg verbundenen Unsicherheiten hingegen bereits in ihrer zu Jahresbeginn im Rahmen der Regelberichterstattung bekanntgegebenen Ergebniserwartung berücksichtigt. Die RWE AG konnte im Jahr 2022 gleich dreimal mitteilen, dass die Konzernergebnisprognose übertroffen bzw. erhöht wird. Hintergrund ist u.a., dass es RWE gelang, höhere Beschaffungskosten (vor allem bei Erdgas) durch Preiserhöhungen größtenteils an die Verbraucher weiterzugeben. Insgesamt zeigt sich, dass die Emittenten auf Basis der Leitlinien im Emittentenleitfaden der BaFin mit den sie jeweils betreffenden Auswirkungen des Russland-Ukraine-Kriegs gut zurechtkamen, ohne dass es – wie zu Beginn der COVID-19-Pandemie – besonderer FAQ der BaFin bedurft hätte. Die FAQ zu Fragen der Ad-hoc-Publizität im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie hat die BaFin Mitte des Jahres 2022 wieder außer Kraft gesetzt, da für deren Anwendung kein Bedürfnis mehr bestand.

Weiterhin war auffällig, dass sich der prozentuale Anteil an Ad-hoc-Mitteilungen mit Transaktionsbezug gegenüber dem Vorjahr verdoppelte (2021: 10% bzw. 10 Mitteilungen; 2022: 20% bzw. 16 Mitteilungen). Ein Großteil dieser Mitteilungen entfiel auf den Börsengang der Porsche AG Ende September 2022 und betrifft somit eine singuläre Transaktion, wodurch das Bild verzerrt wird. Insgesamt betrug der Anteil an Mitteilungen mit Transaktionsbezug im Jahr 2022 lediglich ein Fünftel der Gesamtmitteilungen. Das korrespondiert mit der Entwicklung des M&A-Markts im Jahr 2022. Das Volumen der Transaktionen mit deutscher Beteiligung ist Umfragen zufolge jüngst deutlich zurückgegangen.

Die Anzahl von Ad-hoc-Mitteilungen in Bezug auf Personalthemen hat sich ebenfalls verdoppelt. Die adidas AG veröffentlichte im Zusammenhang mit der Bestellung eines neuen Vorstandsvorsitzenden gleich zwei Mitteilungen: Zunächst aufgrund der laufenden Gespräche mit Bjørn Gulden und vier Tage später wegen des Beschlusses des Aufsichtsrats. Die Volkswagen AG meldete Mitte 2022 sowohl das einvernehmliche Ausscheiden von Herrn Dr. Herbert Diess als auch die Nachfolge durch Herrn Dr. Oliver Blume in einer Mitteilung.

Ad-hoc-Mitteilungen zu sonstigen Themen betrafen insbesondere Kapitalmaßnahmen wie Aktienrückkäufe, die typischerweise ad-hoc-pflichtig sind. Hierzu berichteten beispielsweise die Allianz SE, die Covestro AG oder die Munich Re. Bemerkenswerte Compliance-Verstöße, die per Ad-hoc-Mitteilung bekanntgegeben wurden, gab es 2022 bei den DAX-Emittenten nicht.

Mögliche Änderungen des Ad-hoc-Regimes aufgrund des EU Listing Acts

Die Kommission veröffentlichte Ende 2022 ihren finalen Entwurf des EU Listing Act, der u.a. wesentliche Änderungen im Bereich der Ad-hoc-Publizität vorsieht. 

So soll künftig bei Zwischenschritten eines gestreckten Geschehensablaufs (nur noch) das Insiderhandelsverbot gelten, nicht jedoch die Pflicht zur Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung. Die Veröffentlichungspflicht soll sich bei gestreckten Geschehensabläufen nur noch auf das Endereignis beziehen, wobei der Kommissionsvorschlag hier offenlässt, ob erst das eingetretene Endereignis oder bereits das überwiegend wahrscheinliche Endereignis (50% + X) als zukünftiger Umstand die Ad-hoc-Pflicht auslöst.

Sollte der Vorschlag der Kommission im Sinne eines strengen Finalitätskonzepts zu verstehen sein, wäre – was wünschenswert wäre – nur der tatsächliche Eintritt des angestrebten Endereignisses veröffentlichungspflichtig. Bei einem anderen Verständnis bliebe es (teilweise) bei der derzeitigen Rechtslage, d.h. bereits der überwiegend wahrscheinliche Eintritt des zukünftigen Ereignisses wäre zu veröffentlichen. Dies würde dazu führen, dass derjenige Zwischenschritt zu bestimmen wäre, zu dem der Eintritt des angestrebten Ereignisses (z.B. das Zustandekommen einer M&A-Transaktion) überwiegend wahrscheinlich wird. Damit würden nur die sehr frühen Zwischenschritte von der Veröffentlichungspflicht ausgenommen, während die zeitlich später gelagerten Zwischenschritte "durch die Hintertür" veröffentlichungspflichtig blieben. Es bestünde in dem Fall weiterhin erheblicher Bedarf für eine aktiv zu beschließende Selbstbefreiung, weil in aller Regel auch bei Überschreiten der 50 % + x-Schwelle im Rahmen eines gestreckten Geschehensablaufs im Hinblick auf das zukünftige Endereignis die Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung nicht gewollt ist, sondern beispielsweise die betreffenden Verhandlungen von den Parteien in vertraulichem Rahmen zu Ende geführt werden sollen. Demgegenüber würde das Institut der Selbstbefreiung bei einem strengen Finalitätskonzept, das auf das eingetretene Endereignis abstellt, an Bedeutung verlieren.

Dies zeigt, dass an dieser Stelle noch Klarstellungsbedarf besteht, damit die Herausnahme von Zwischenschritten eines gestreckten Geschehensablaufs aus der Veröffentlichungspflicht nach Art. 17 Abs. 1 MAR einerseits und die Streichung in Art. 17 Abs. 4 MAR andererseits nicht zu Missverständnissen führen. Vor diesem Hintergrund ist es in jedem Fall zu begrüßen, dass in einem neuen Art. 17 Abs. 1a MAR vorgesehen werden soll, dass die Kommission ermächtigt wird, im Wege eines delegierten Rechtsakts eine nicht abschließende Liste relevanter Insiderinformationen und für jede Information einen Hinweis auf den Veröffentlichungszeitpunkt zu erlassen. Damit soll insbesondere Klarheit über den Zeitpunkt der Offenlegungspflicht geschaffen werden. Da ein Entwurf des delegierten Rechtsakts noch nicht vorliegt, lässt sich derzeit aber noch nicht beurteilen, ob eine solche Liste tatsächlich die Rechtssicherheit erhöhen würde.

Praxisrelevant ist zudem eine Neuerung im Kontext der Meldepflicht der Emittenten beim Aufschub der Veröffentlichung einer Insiderinformation. Nach derzeitiger Rechtslage melden Emittenten der BaFin erst nach der Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung, dass sie deren Veröffentlichung zeitweise aufgeschoben hatten. Künftig soll bereits unverzüglich nach dem Beschluss der Selbstbefreiung eine Mitteilung an die Behörde erforderlich werden. Der Vorschlag der Kommission zielt darauf ab, den Aufsichtsbehörden einen besseren und aktuelleren Überblick über die Praxis der Selbstbefreiungen zu vermitteln. 

Daneben sieht der Kommissionsvorschlag weitere Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung vor. Diese betreffen unter anderem die Bereiche der Marktsondierungen, Führung von Insiderlisten und Managers' Transactions. Hervorzuheben ist insoweit insbesondere, dass für Emittenten künftig die Verpflichtung zum Führen von anlassbezogenen Insiderlisten entfallen und stattdessen die Erstellung und laufende Aktualisierung permanenter Insiderlisten genügen soll.

Noch steht nicht fest, ob und wann die Kommissionsvorschläge umgesetzt von werden. Bis Mitte Februar nimmt die Kommission noch Rückmeldungen entgegen, bevor die Verordnung anschließend in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gebracht wird.

GLADE MICHEL WIRTZ steht für einen Austausch zu diesen Themen jederzeit gern zur Verfügung.

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Das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes zum Kartellrecht

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Das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes zum Kartellrecht

19. Januar 2023

Während wir uns bereits mehrfach mit dem Thema Nachhaltigkeit im Kartellrecht im befasst haben, soll es in diesem Beitrag um das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) zum Kartellrecht gehen.

I. Was regelt das LKSG?

Das am 1. Januar 2023 in Kraft getrenene LkSG soll die Beachtung menschenrechtlicher und umweltbezogener Standards entlang globaler Lieferketten gewährleistenSo sollen z.B. Kinder- und Zwangsarbeit sowie Trinkwasserverschmutzung bei der Produktion verhindert werden. Unmittelbar verpflichtet sind Unternehmen, die in Deutschland über einen Haupt- oder einen Zweitsitz verfügen und mehr als 3.000 Mitarbeiter beschäftigen. Ab dem Jahr 2024 gilt das LkSG zusätzlich für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern. Somit werden im Jahr 2024 mehr als 3.000 Unternehmen verpflichtet sein, in ihren Lieferketten menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten in angemessener Weise zu beachten. Für die Kontrolle und Durchsetzung der Einhaltung der Pflichten ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig. Dieses kann bei ordnungswidrigem Handeln Geldbußen von bis zu zwei Prozent des durchschnittlichen Jahresumsatzes verhängen.

II. Welche konkreten Pflichten entstehen durch das LkSG?

Die den Unternehmen obliegenden, konkreten Sorgfaltspflichten sind in § 3 Abs. 1 S. 2 LkSG in einem Pflichtenkatalog niedergelegt. Von der Vielzahl der verschiedenen Sorgfaltspflichten betreffen vier Pflichten das Verhältnis des Unternehmens zu seinen Zulieferern und teilweise auch zu seinen Wettbewerbern. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld mit kartellrechtlichen Pflichten und Ahndungsrisiken. Diese betreffenden LkSG-Pflichten sind in den Nummern 3, 5, 6 und 9 des Katalogs geregelt.

Nach Nummer 3 haben die Unternehmen eine Risikoanalyse durchzuführen, bei der unter anderem menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken bei den unmittelbaren Zulieferern des Unternehmens ermittelt werden müssen. Es ist sicherzustellen, dass die Ergebnisse der Risikoanalyse an die maßgeblichen Entscheidungsträger kommuniziert werden.

Nummer 5 normiert Präventionsmaßnahmen in Bezug auf unmittelbare Zulieferer. Die Unternehmen müssen bei der Auswahl eines Zulieferers menschenrechts- und umweltbezogene Erwartungen einbeziehen, sich den Erwartungen entsprechendes Verhalten vertraglich zusichern lassen sowie Schulungen und Weiterbildungen beim Zulieferer durchführen. Für mittelbare Zulieferer können sich uU entsprechende Handlungspflichten ergeben, § 9 Abs. 3 LkSG.

Nach Nummer 6 ist im Fall einer Pflichtverletzung beim unmittelbaren Zulieferer ein Konzept zur Beendigung oder Minimierung der Pflichtverletzung zu erstellen und umzusetzen. Zu diesem Zweck ist mit dem Zulieferer und gegebenenfalls auch mit anderen Abnehmern des Zulieferers (das können Wettbewerber des Unternehmens beim Einkauf und/oder Absatz sein) zusammenzuarbeiten.

Schließlich müssen Unternehmen gemäß Nummer 9 jährlich einen Bericht über die Erfüllung der Sorgfaltspflichten erstellen und diesen öffentlich und damit für jedermann, somit auch für Wettbewerber, zugänglich machen.

III. Kartellrechtliche Probleme und deren Lösungen

Diese Pflichten betreffen das Verhältnis zwischen einem Unternehmen und seinen Lieferanten. Sie erfordern einen Austausch von Informationen mit dem unmittelbaren Zulieferer und teilweise auch darüber hinaus mit anderen Unternehmen. Einem solchen Informationsaustausch sind kartellrechtliche Grenzen gesetzt. Ein Vorrang des LkSG vor dem Kartellrecht, erst recht dem Unionskartellrecht, besteht nicht. Es ist deshalb eine sachgerechte Balance zwischen den Anforderungen des LkSG und den kartellrechtlichen Grenzen im Sinne praktischer Konkordanz zu finden. Insbesondere dort, wo das LkSG den Unternehmen Handlungsspielräume belässt, müssen diese unter Berücksichtigung des Kartellrechts ausgefüllt werden.

1. Die Risikoanalyse

Das Risikomanagement nach § 4 und die Risikoanalyse nach § 5 LkSG verpflichten Unternehmen, menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken zu erkennen und zu ermitteln. Um eine aussagekräftige Risikoanalyse durchführen zu können, wird ein Unternehmen häufig eine vertiefte Prüfung der Geschäftsverhältnisse seiner unmittelbaren Lieferanten vornehmen müssen. Dabei kann ein Informationsaustausch insbesondere dann kartellrechtlich relevant sein, wenn der Lieferant auch Wettbewerber ist, z.B. bei vertikal integrierten Unternehmen oder in Fällen eines sog. dualen Vertriebs. Zudem ist zu beachten, dass ein Wettbewerb mit dem Lieferanten auch auf Einkaufsseite (bei einem parallelen Einkauf der gleichen Produkte) oder um Arbeitskräfte bestehen kann.

Beim Austausch von Informationen mit einem unmittelbaren Zulieferer ist deshalb darauf zu achten, dass der Informationsaustausch auf das beschränkt wird, was für die Bewertung des Zulieferers nach den Kriterien des LkSG erforderlich ist, sofern keine sonstige Privilegierung greift, zB wegen Art. 2 Abs. 5 Vertikal GVO. Um dies zu gewährleisten, sollte intern ein Standardkatalog erstellt werden, der die Aspekte und Fragen beinhaltet, die für eine angemessene Risikoanalyse der Lieferkette benötigt werden. Sofern teilweise kartellrechtlich sensible Daten ausgetauscht werden müssen, ist es empfehlenswert, die Risikoanalyse durch Externe oder ein Clean Team durchführen zulassen und erst die Ergebnisse der Analyse den maßgeblichen Entscheidungsträgern mitzuteilen (§ 5 Abs. 3 LkSG). 

2. Die Präventionsmaßnahmen

Auf Basis der Risikoanalyse sind Präventionsmaßnahmen in Bezug auf alle identifizierten Risiken zu ergreifen (§ 6 LkSG). Bei den Präventionsmaßnahmen ist zwischen Schulung und Kontrolle der Lieferanten sowie der Auswahl der Zulieferer zu unterscheiden.

Bei den Schulungen und Kontrollen der Lieferanten besteht die Gefahr, dass über die notwendigen Informationen hinaus wettbewerblich sensible Informationen erlangt oder ausgetauscht werden. Durch die Implementierung von standardisierten Abläufen für Kontrollen und Schulungen bei Zulieferern lässt sich dieses Risiko verringern. Darüber hinaus können Schulungen und Kontrollmaßnahmen durch externe Dienstleister oder durch Clean Teams durchgeführt werden, die darauf achten, dass die Maßnahmen auf die Einhaltung der menschenrechtsbezogenen und umweltbezogenen Pflichten nach dem LkSG beschränkt sind und nicht auf das Geschäftsverhalten des Zulieferers im Übrigen Einfluss genommen wird.

Die Auswahl des Zulieferers unter Berücksichtigung von umwelt- bzw. menschenrechtsbezogenen Kriterien (§ 6 Abs. 4 Nr. 1 LkSG) ist grundsätzlich kartellrechtlich unproblematisch. Erst wenn das unter das LkSG fallende Unternehmen eine marktbeherrschende oder relativ marktmächtige Stellung hat, sind die Grenzen von Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB zu beachten. Hält sich ein Unternehmen bei der Auswahl des Lieferanten nur an die staatlichen Mindeststandards, steht es in keinem Konflikt mit dem Kartellrecht, weil das Einhalten der Standards verpflichtend ist. Geht es bei der Auswahl der Lieferanten über die Mindeststandards des LkSG hinaus, setzen Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB die Grenzen dessen, was einem Zulieferer abverlangt werden darf. 

Marktbeherrschende oder relativ marktstarke Unternehmen dürfen in der Regel die Erwartungen und Anforderungen, die sie an ihre Zulieferer stellen, frei bestimmen. Missbräuchlich ist ihr Handeln erst, wenn sie bspw. ohne Sachgrund unterschiedliche Anforderungen an unterschiedliche Zulieferer stellen oder Zulieferern nicht die Möglichkeit geben, sich auf die strengeren Maßstäbe einzustellen und diese zu erfüllen. Dies kann bspw. durch das Gewähren von Übergangsfristen ausgeschlossen werden.

3. Das Ergreifen von Abhilfemaßnahmen

§§ 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 i.V.m. 7 Abs. 1 LkSG verpflichten die Unternehmen, bei der Verletzung einer menschenrechtsbezogenen oder umweltbezogenen Pflicht im eigenen Betrieb oder bei ihrem unmittelbaren Zulieferer unverzüglich geeignete Abhilfemaßnahmen zu ergreifen. Kann die Verletzung nicht innerhalb eines absehbaren Zeitraums beendet werden, muss das Unternehmen ein Abhilfekonzept erarbeiten und umsetzen.

Zur Erarbeitung und Umsetzung des Konzeptes ist auch eine Kooperation mit anderen Unternehmen im Rahmen von Brancheninitiativen und Branchenstandards in Betracht zu ziehen, um den Einfluss auf den Verursacher zu vergrößern. Oftmals eröffnet ein solches Verhalten den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB, da die Abnehmer nicht selten in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen. Allerdings wird eine Kooperation bzw. ein "Zusammenschluss" von Unternehmen in § 7 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 LkSG ausdrücklich als mögliche Abhilfemaßnahme angeführt. Eine solche Koordinierung kann nach Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB freigestellt sein. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Zusammenschluss ein unerlässliches Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels, der Steigerung der Einflussmöglichkeiten auf den Verursacher, um die Einhaltung aller Sorgfaltspflichten zu gewährleisten, darstellt. Folglich dürfen keine milderen, gleich geeigneten Abhilfemaßnahmen bestehen. Eine weitere kartellrechtliche Grenze ist das Boykottverbot des § 21 Abs. 1 GWB, welches die "unbillige" Aufforderung oder tatsächliche Durchsetzung von Liefer- oder Bezugssperren untersagt. In der Regel liegt keine Unbilligkeit vor, wenn der Boykottaufruf gegen ein Unternehmen gerichtet ist, das rechtswidrig handelt. Hier empfiehlt sich aufgrund möglicher bußgeldrechtlicher Konsequenzen aber eine sehr sorgfältige Prüfung. Jedenfalls ist anhand einer Interessenabwägung festzustellen, ob es sich um eine unbillige Beeinträchtigung handelt. Es ist dabei zwischen den Geschäftsinteressen des Zulieferers, der Schwere seiner Pflichtverletzung und dem Abstellungsinteresse der zusammenarbeitenden Unternehmen abzuwägen. Des Weiteren ist darauf zu achten, dass keine wettbewerbsrelevanten Informationen zwischen den Wettbewerbern auf Abnehmerseite ausgetauscht werden. Die Koordinierung mit den anderen Abnehmern des Zulieferers und die Maßnahmen diesem gegenüber müssen sich klar auf die Abstellung der Sorgfaltspflichtverletzung beschränken.

Als letztes Mittel kann im Rahmen dieses Konzepts auch das Aussetzen der Geschäftsbeziehungen erfolgen (§ 7 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 LkSG), und, wenn dies nicht hilft, auch der Abbruch (Abs. 3). Da das Aussetzen und der Abbruch der Geschäftsbeziehung jedoch gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben sind, sondern es sich vielmehr um Handlungsoptionen handelt, sind die Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB anwendbar. Dabei bewertet die Rechtsprechung die Beendigung von Geschäftsbeziehungen strenger als die Nichtaufnahme von Geschäftsbeziehungen. Beendet ein marktbeherrschendes Unternehmen eine Geschäftsbeziehung, wird dies grundsätzlich als missbräuchlich angesehen, wenn kein objektiver Rechtfertigungsgrund vorliegt oder die Beendigung der Geschäftsbeziehung unverhältnismäßig ist. Der Verstoß gegen umwelt- oder menschenrechtliche Pflichten nach dem LkSG stellt grundsätzlich einen objektiven Rechtfertigungsgrund dar. Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei können die in § 3 Abs. 2 LkSG enthaltenen Verhältnismäßigkeitskriterien für das Aussetzen und zusätzlich die Kriterien in § 7 Abs. 3 für den Abbruch der Geschäftsbeziehung hinzugezogen werden. Diese zielen jedoch nur auf die Beurteilung der Schwere der Pflichtverletzung nach dem LkSG ab und sind daher im Rahmen der kartellrechtlichen Interessenabwägung nicht für eine Rechtfertigung ausreichend. Schließlich muss auch das Interesse des Lieferanten an der Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung berücksichtigt werden. Somit kommt es letztlich auf die Umstände des Einzelfalls an. Bei besonders schwerer, vorsätzlicher oder wiederholter Pflichtverletzung ist die Beendigung einer Geschäftsbeziehung jedoch im Regelfall auch verhältnismäßig.

4. Die Berichterstattung

Alle dem LkSG unterfallenden Unternehmen müssen jährlich einen Bericht über die Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten im vergangenen Geschäftsjahr erstellen und spätestens vier Monate nach dem Schluss des Geschäftsjahrs auf der eigenen Internetseite für einen Zeitraum von sieben Jahren kostenfrei öffentlich zugänglich machen, § 10 LkSG. Durch diese Pflicht, jährlich einen Bericht zu veröffentlichen, entsteht für das Unternehmen die Gefahr des sogenannten „Signallings“ gegenüber Wettbewerbern. Darunter versteht man den Austausch von wettbewerblich sensiblen Informationen zwischen Unternehmen über öffentliche Kanäle. 

Die Grenzen eines unzulässigen Signalling sind bislang nicht hinreichend geklärt. Berichte sollten deshalb so verfasst sein, dass sie keine wettbewerbssensiblen Informationen beinhalten und sich prinzipiell auf die für den Maßstab des § 10 LkSG notwendigen Informationen beschränken. Wettbewerblich sensible Informationen werden in der Regel im Bericht nicht erforderlich sein. Wenn sie in Ausnahmefällen dennoch unvermeidlich sind, müssen sie in geeigneter Weise anonymisiert und/oder nach den üblichen kartellrechtlichen Standards aggregiert werden.

IV. Conclusio

Durch die Vielzahl der Sorgfaltspflichten des LkSG entsteht das Risiko unbeabsichtigter kartellrechtlicher Verstöße en passant. Mangels Entscheidungspraxis wird es anfangs nicht immer einfach sein, eine sachgerechte Balance zwischen dem LkSG und dem Kartellrecht zu finden. Jedoch stellen die neuen Risiken letztlich keine unbekannten Probleme der kartellrechtlichen Compliance dar. So lassen sich z.B. die Risiken eines Informationsaustauschs und eines Marktmissbrauchs mit bereits bekannten Ansätzen lösen. 

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Nachhaltigkeit und Wettbewerb – Mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft?

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Nachhaltigkeit und Wettbewerb – ­Mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft?

16. Januar 2023

Die Europäische Kommission ("Kommission") hat zu Beginn des neuen Jahres einen Entwurf der Leitlinien für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft ("Leitlinienentwurf") veröffentlicht. Dies zeigt, dass die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen im Kartellrecht auch weiterhin oben auf der Prioritätenliste der europäischen Wettbewerbsbehörde steht. Die Leitlinien zielen darauf ab, die Vorgaben des Art. 210a VO (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse ("GMO") zu konkretisieren und mehr Rechtssicherheit für Akteure im Lebensmittel- und Agrarsektor bei der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu schaffen. Dieser Beitrag erläutert die wesentlichen Aussagen des Leitlinienentwurfs und nimmt eine erste Bewertung vor, inwieweit der Entwurf der Kommission einen Beitrag zur rechtssicheren Implementierung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft leistet. Auf die grundlegenden Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Behandlung von Nachhaltigkeitszielen gehen die Blogbeiträge vom 8. Februar 2021 (hier) und vom 27. September 2022 (hier) ein.

I. Bedeutung der Erzeuger landwirtschaftlicher Erzeugnisse für den europäischen "Green Deal"

Art. 210a GMO wurde im Rahmen der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik ("GAP") im Jahr 2021 eingeführt, um den Übergang zu einem nachhaltigen EU-Lebensmittelsystem zu unterstützen. Diese Freistellung vom Kartellverbot soll einen Beitrag zum Erreichen der Ziele des "Green Deal" leisten, mit dem die EU in eine "gerechtere und wohlhabendere Gesellschaft mit einer modernen, ressourcenschonenden und wettbewerbsfähigen Wirtschaft" umgebaut werden soll. Nach Art. 210a Abs 1 GMO findet das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die sich auf die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder den Handel damit beziehen und darauf abzielen, einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, als er durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Diese Freistellung gilt jedoch nur, wenn mit diesen Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen lediglich Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt werden, die für das Erreichen des höheren Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich sind. Die Ausnahme ist nicht auf die Erzeugerebene beschränkt, sondern gilt auch für wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen zwischen Erzeugern und Unternehmen auf verschiedenen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Handels der Lebensmittelversorgungskette. Damit eine Nachhaltigkeitsvereinbarung in den Anwendungsbereich von Art. 210a Abs. 2 GMO fällt, muss mindestens ein Erzeuger als Partei beteiligt sein.

II. Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft

Die Leitlinien sollen nicht nur für Rechtssicherheit sorgen, indem sie Erzeugern und Akteuren in der Lebensmittelversorgungskette bei der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsvereinbarungen als Grundlage dienen. Vielmehr sollen sie auch den nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden eine Orientierungshilfe bei der Anwendung von Art. 210a GMO bieten. Zu diesem Zweck widmet sich der Leitlinienentwurf einer Vielzahl von Aspekten: (i) dem persönlichen, sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich von Art. 210a GMO und den von der Bestimmung erfassten Produkten; (ii) den von der Ausnahmeregelung erfassten Arten von Wettbewerbsbeschränkungen; (iii) dem Konzept der Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO; (iv) dem Verfahren für die Beantragung einer Stellungnahme der Kommission zu der Frage, ob eine bestimmte Nachhaltigkeitsvereinbarung die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllt; (v) den Voraussetzungen für ein nachträgliches Eingreifen der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden sowie (viii) der Beweislast für den Nachweis, dass die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllt sind. Dieser Blogbeitrag widmet sich im Schwerpunkt den erfassten Nachhaltigkeitszielen, dem Konzept der Unerlässlichkeit und dem System der Stellungnahmen der Kommission zur Zulässigkeit einer Nachhaltigkeitsvereinbarung.

1. Nachhaltigkeitsziele: Mehr Gestaltungsfreiraum als bisher?

Nach Art. 210a Abs. 3 GMO muss ein Nachhaltigkeitsstandard zur Erreichung eines oder mehrerer der folgenden Ziele beitragen: (i) Umweltziele (z.B. eine Abschwächung des oder eine Anpassung an den Klimawandel, die nachhaltige Nutzung bzw. der Schutz von Landschaften, Wasser oder des Bodens etc.), (ii) die Verringerung des Einsatzes von Pestiziden und der Gefahr einer Resistenz gegen antimikrobielle Wirkstoffe sowie (iii) Tiergesundheit und Tierwohl. Zu beachten ist jedoch, dass andere als die aufgeführten Ziele wie soziale Verbesserungen (z.B. der Arbeitsbedingungen oder eine gesunde und nahrhafte Ernährung) sowie wirtschaftliche Ziele (z.B. die Entwicklung von Marken oder eine gerechtere Entlohnung von Landwirten) nicht bei der Beurteilung der Einhaltung von Art. 210a GMO berücksichtigt werden können (Rn. 43 Leitlinienentwurf). Daher ist bei der Prüfung, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung von der Freistellung des Art. 210a GMO profitiert, auf eine genaue Identifizierung der Ziele zu achten, zu deren Erreichung der Nachhaltigkeitsstandard beitragen soll. Dies verdeutlicht ein Beispiel der Kommission, in dem Milcherzeuger und Verarbeiter vereinbaren, eine Marke zu entwickeln, die eine gerechtere Entlohnung der Erzeuger gewährleisten soll. Zwar können grundsätzlich Einkommenssteigerungen der Milcherzeuger zu einem Anstieg der Investitionen führen, die Umwelt- oder Tierschutzziele verfolgen. Wenn jedoch das Ziel, zu dessen Erreichung die Vereinbarung beitragen soll, darin besteht, eine gerechtere Entlohnung der Erzeuger zu gewährleisten, wäre dies nicht von den in Art. 210a Abs. 3 GMO aufgeführten Zielen erfasst. Eine Freistellung vom Kartellverbot müsste anhand der Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV geprüft werden.

Um von der Privilegierung des Art. 210a GMO profitieren zu können, muss der Nachhaltigkeitsstandard, der mit der Nachhaltigkeitsvereinbarung verfolgt wird, höher sein als das, was durch europäisches oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Dies bedeutet, dass der Nachhaltigkeitsstandard Nachhaltigkeitsanforderungen aufstellen muss, die über diejenigen einer in Kraft befindlichen Norm hinausgehen. Der Standard kann auch Nachhaltigkeitsanforderungen in Fällen einführen, in denen weder das EU-Recht noch das nationale Recht solche vorschreiben. Die durch die Anwendung einer Nachhaltigkeitsvereinbarung erzielten Ergebnisse müssen grundsätzlich greifbar und messbar sein. Zur Lösung des Problems der Quantifizierung von Nachhaltigkeitsvorteilen dürfte die Erwägung der Kommission beitragen, dass es in Fällen, in denen es nicht adäquat ist, die erzielten Ergebnisse in Zahlen zu messen, z.B. aufgrund der Art oder des Gegenstands der Nachhaltigkeitsnorm, ausreichend sein soll, dass diese beobachtbar und beschreibbar sind (Rn. 52 Leitlinienentwurf).

2. Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO und Art. 101 Abs. 3 AEUV: Same same, but different?

Eines der wichtigsten Kriterien bei der Prüfung, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung von der Freistellung nach Art. 210a GMO profitieren kann, ist die Unerlässlichkeit der auferlegten Wettbewerbsbeschränkungen. Vergleichbar mit der Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 101 Abs 3 AEUV erfordert auch die Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO im Ausgangspunkt ein Vorgehen in zwei Schritten. Aufgrund des gesetzgeberischen Willens, Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Agrarsektor aus dem Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV herauszunehmen, unterscheiden sich die für die Bestimmung des Begriffs der Unerlässlichkeit anzuwendenden Maßstäbe jedoch. So setzt der Maßstab der Unerlässlichkeit im Rahmen des Art. 210a GMO im Gegensatz zu Art. 101 Abs. 3 AEUV keine angemessene Verbraucherbeteiligung an den Vorteilen der Nachhaltigkeitsvereinbarung voraus. Daraus folgt, dass sogar Vereinbarungen über Preise und Preisbestandteile – Hardcore-Verstöße gegen das EU-Kartellrecht, die im Regelfall in den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen und auch keiner (Einzel-)freistellung zugänglich sind – unter bestimmten Voraussetzungen als unerlässlich anzusehen sein können (Rn. 83 Leitlinienentwurf).

Entsprechend dieser zweistufigen Prüfung der Unerlässlichkeit ist in einem ersten Schritt zu klären, ob die Nachhaltigkeitsvereinbarung an sich notwendig ist, um den angestrebten Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, ob der Nachhaltigkeitsstandard in gleicher Weise auch durch individuelles Handeln erreicht werden kann (Rn. 90 ff. Leitlinienentwurf). Nach Auffassung der Kommission kann eine Kooperation auch notwendig sein, wenn der Nachhaltigkeitsstandard zwar durch individuelle Maßnahmen erreicht werden könnte, die Parteien sie aber durch eine Zusammenarbeit schneller und mit weniger Kosten und Aufwand erzielen können (Rn. 95 Leitlinienentwurf). Die Parteien müssen weiter prüfen, ob die konkrete Regelung, z.B. in Bezug auf Preis, Produktion, Innovation oder Vertrieb für die Erreichung des Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich ist.

Wenn die Parteien nach dem ersten Schritt zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Nachhaltigkeitsvereinbarung und die darin festgelegten Maßnahmen unerlässlich sind, um den Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen, ist in einem zweiten Schritt zu klären, ob dies auch für jede durch die Vereinbarung auferlegte Wettbewerbsbeschränkung zutrifft (Rn. 101, 107 ff. Leitlinienentwurf). Bei diesem Prüfungsschritt muss die Maßnahme ausgewählt werden, die am geeignetsten ist, um die Ziele der Nachhaltigkeitsvereinbarung zu erreichen und die gleichzeitig den Wettbewerb am wenigsten beeinträchtigt. So müssen die Parteien z.B. bei einer Vereinbarung über den Preis entscheiden, ob die Festlegung eines Endpreises, eines Mindestpreises oder eines Preisaufschlags unerlässlich zur Erreichung des jeweiligen Nachhaltigkeitsstandards ist. Neben der Art der Beschränkung sind dabei auch ihre Intensität (z.B. die konkrete Höhe des Preises) und ihre Dauer zu berücksichtigen (Rn. 114 und 117 ff. Leitlinienentwurf).

Die Parteien einer Nachhaltigkeitsvereinbarung müssen zudem kontinuierlich überprüfen, ob die Vereinbarung auch im weiteren Verlauf noch unerlässlich ist. Selbst wenn die Kommission in einer ersten Phase zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Unerlässlichkeit i.S.d. Art 210a GMO vorliegt, ist dies keine Garantie dafür, dass die Vereinbarung dauerhaft die Anforderungen an die Unerlässlichkeit erfüllt. Dies kann insbesondere dann nicht mehr der Fall sein, wenn sich der wirtschaftliche und rechtliche Kontext, in dem die Nachhaltigkeitsvereinbarung zum Einsatz kommt, wesentlich ändert (Rn. 130 Leitlinienentwurf).

3. Stellungnahme der Kommission – Vier Monate vom sicheren Hafen entfernt?

Nach Art. 210a Abs. 6 UAbs. 1 GMO können die von der Norm erfassten Erzeuger ab dem 8. Dezember 2023 die Kommission um eine Stellungnahme zur Vereinbarkeit einer Nachhaltigkeitsvereinbarung mit Art. 210a GMO ersuchen, die dem Antragsteller innerhalb von vier Monaten übermittelt wird. Die Kommission betont in dem Leitlinienentwurf, dass diese Frist erst am Tag nach dem Eingang eines vollständigen Antrags beginnt. Für eine zeitnahe Bearbeitung der Stellungnahme ist daher entscheidend, dass dieser die durchaus umfassenden Anforderungen der Kommission an den Antrag und die Darstellung der Nachhaltigkeitsvereinbarung erfüllt (Rn. 144 Leitlinienentwurf). Die Stellungnahmen der Kommission entfalten zwar keine rechtliche Bindungswirkung gegenüber Gerichten und den nationalen Wettbewerbsbehörden. Sie sollen vielmehr die Erzeuger bei der Selbstbeurteilung unterstützen. Dennoch dürfen die nationalen Wettbewerbsbehörden und die nationalen Gerichte die Stellungnahmen der Kommission berücksichtigen, wenn sie dies im Rahmen eines Falles für angebracht halten (Rn. 158 Leitlinienentwurf). Gleichzeitig haben die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden weiterhin das Recht, Nachhaltigkeitsvereinbarungen aufzuheben oder Änderungen daran zu verlangen, wenn dies erforderlich ist, um den Wettbewerb aufrechtzuerhalten, oder wenn davon auszugehen ist, dass die Ziele der GAP gemäß Art. 39 AEUV gefährdet sind (Rn. 161 ff. Leitlinienentwurf).

III. Fazit und Ausblick

Interessierte Kreise sind bis zum 24. April 2023 aufgerufen, den Leitlinienentwurf zu kommentieren. Nach der Auswertung der eingegangenen Stellungnahmen und möglicher Änderungen an den Leitlinien sollen diese bis zum 8. Dezember 2023 veröffentlicht werden. Sollte der Leitlinienentwurf vollständig umgesetzt werden, dürften die Leitlinien einen wichtigen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft leisten. Dazu trägt insbesondere die Möglichkeit bei, innerhalb eines vergleichbar kurzen Zeitrahmens von vier Monaten eine Stellungnahme der Kommission mit deren rechtlicher Würdigung der Nachhaltigkeitsvereinbarung zu erhalten. Auch die Erwägung der Kommission, Vereinbarungen über Preise und Preisbestandteile in Nachhaltigkeitsvereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen als mit dem Kartellverbot vereinbar anzusehen, dürfte Nachhaltigkeitsinitiativen neben mehr Gestaltungsfreiheit auch mehr Rechtsicherheit bei der Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen verschaffen. Dieser bemerkenswerte Ansatz der Kommission bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen hat jedoch aufgrund der auf den Agrarsektor begrenzten Bereichsausnahme des Art. 210a GMO keine darüberhinausgehende Ausstrahlungswirkung.

Von entscheidender Bedeutung für die Durchschlagskraft des Art. 210a GMO in der Praxis dürfte auch der Umgang des Bundeskartellamts mit dieser Freistellung vom Kartellverbot sein. In seiner bisherigen Entscheidungspraxis zu Nachhaltigkeitsinitiativen im Agrarsektor hat das Bundeskartellamt von einer Freistellung dieser Initiative gestützt auf Art. 210a GMO abgesehen (hier). Daher bleibt abzuwarten, in welchem Umfang das Bundeskartellamt Art. 210a GMO bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsinitiativen nach der geplanten Veröffentlichung der Leitlinien im Dezember 2023 berücksichtigen wird.

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Dr. Silke Möller

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