Zivilrechtliche Haftung wegen Kapitalanlagebetrugs (auch) bei Erwerb am Sekundärmarkt – BGH, Urteil vom 5. Mai 2022 – III ZR 131/20 (NJW 2022, 2262)
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs entschied jüngst mit Urteil vom 5. Mai 2022 – III ZR 131/20 (NJW 2022, 2262), dass ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht schon dann ausscheide, wenn ein Wertpapier nicht über den Primär-, sondern über den Sekundärmarkt erworben werde. Die Entscheidung präzisiert die Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Haftung wegen Kapitalanlagebetrugs.
Der Blog-Beitrag gibt nach einer Zusammenfassung des maßgeblichen Sachverhalts (in Abschnitt I) den wesentlichen Inhalt der Entscheidung wieder (in Abschnitt II). Abschließend wird ein Blick auf praktische Konsequenzen der Entscheidung geworfen (in Abschnitt III).
I. Sachverhalt
Die inzwischen insolvente WGF AG erwarb günstige Immobilien, um diese anschließend aufzuwerten und sodann gewinnbringend zu veräußern (sog. "Fix & Flip"). Sie finanzierte ihre Geschäftstätigkeit vornehmlich durch die Emission von insgesamt acht Hypothekenanleihen, von denen nur zwei planmäßig zurückgezahlt werden konnten. Die Beklagten sind ehemalige Vorstandsmitglieder der WGF AG.
Die WGF AG veröffentlichte im Rahmen der Emission der Hypothekenanleihen jeweils Wertpapierprospekte. Einigen Wertpapierprospekten waren durch Wirtschaftsprüfer testierte Jahresabschlüsse beigefügt, in denen Forderungsausfälle, die eine Überschuldung der AG zur Folge hatten, nicht berücksichtigt waren.
Die WGF AG nahm anlässlich der Forderungsausfälle eine Berichtigung der Jahresabschlüsse für die Geschäftsjahre 2008 und 2009 vor. Diese wiesen danach eine Überschuldung der WGF AG aus. Im Zusammenhang mit der Präsentation des Jahresabschlusses für 2010 veröffentlichte die WGF AG im Juli 2011 eine Pressemitteilung mit der Überschrift "WGF AG legt Jahresabschluss 2010 vor", in der darauf hingewiesen wurde, dass sie für das Geschäftsjahr 2008 eine Wertberichtigung im Zusammenhang mit dem Ausfall von Forderungen an drei Immobilienfonds vorgenommen habe. Die berichtigten Jahresabschlüsse für die Geschäftsjahre 2008 und 2009 wurden im Januar 2012 im Bundesanzeiger veröffentlicht.
Der Jahresabschluss für das Geschäftsjahr 2011 wies eine Überschuldung der WGF AG auf. Der Vorstand der WFG AG stellte im Dezember 2012 daraufhin schließlich Insolvenzantrag wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der WGF AG wurde im März 2013 eröffnet.
Der Kläger erwarb zwischen Juni 2010 und März 2013 mehrfach im Wege des Zweiterwerbs von der WGF AG emittierte Anleihen. Diese wurden von der inzwischen insolventen WGF AG nicht zurückgezahlt. Der Kläger begehrte angesichts dessen von den Beklagten Schadensersatz. Hierzu stützte er sich u.a. auf eine vermeintliche Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 1 StGB.
II. Wesentliche Aspekte der Entscheidung
Der Entscheidung lassen sich für die Praxis insbesondere drei wesentliche Aussagen entnehmen, die im Folgenden dargestellt werden.
1. Zivilrechtliche Haftung auch bei Erwerb am Sekundärmarkt
Zunächst stellt der Senat fest, dass ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht schon dann ausscheide, wenn ein Wertpapier über den (Börsen-)Handel unter den Marktteilnehmern, also über den Sekundärmarkt, erworben werde (Rn. 22 f. – dieser wie auch die folgenden Nachweise beziehen sich auf die in NJW 2022, 2262 abgedruckte Fassung des Urteils). Zur Begründung führt der Senat an, dass eine Auslegung, wonach die Vorschrift nur den Erwerb am Primärmarkt erfasse, weder durch den Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift geboten sei (Rn. 23). Sinn und Zweck der Vorschrift – namentlich der Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes und der meist unerfahrenen Kapitalanleger vor Vermögensschäden – sprächen vielmehr für eine weite Auslegung, da der Schutz des Kapitalmarkts sowohl den Schutz des Primär- als auch den Schutz des Sekundärmarkts umfasse und ein funktionierender Kapitalmarkt gleichermaßen sowohl einen funktionierenden Primär- als auch einen funktionierenden Sekundärmarkt voraussetze (Rn. 23). Kapitalanleger seien "auf beiden (Teil-)Märkten" schutzbedürftig (Rn. 23).
Anders als die Frage der Schutzgesetzqualität des § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB, die der BGH in ständiger Rechtsprechung bejaht (Rn. 21 für Nachweise) und die der Senat auch hier ohne Weiteres annimmt (Rn. 21), war bisher nicht höchstrichterlich geklärt, ob die Vorschrift bei einem Erwerb von Wertpapieren auf dem Sekundärmarkt anwendbar ist. Der Senat wendet sich mit seiner Entscheidung gegen die überwiegende Ansicht in der Literatur und die bisher zu der Frage ergangene Rechtsprechung.
Die meisten Literaturstimmen und die einschlägige Instanzrechtsprechung verneinten die Anwendbarkeit des § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB auf Transaktionen am Sekundärmarkt bisher unter Verweis auf den Wortlaut der Norm, der einen Zusammenhang mit dem "Vertrieb" von Wertpapieren erfordert, was nur bei einer Emission, nicht aber im laufenden Börsenhandel vorliegen könne (vgl. nur Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), WpHG, 2. Aufl. 2016, Vor §§ 37b, 37c, Rn. 67).
Auch der II. Zivilsenat des BGH hatte sich in einer Entscheidung aus dem Jahr 2004 am Rande zu der Frage geäußert und im dort zugrundeliegenden Fall des Erwerbs von Aktien an der Börse den "in § 264a Abs. 1 StGB vorausgesetzten Zusammenhang der Tathandlung mit dem 'Vertrieb von Anteilen' (Nr. 1) oder mit einem Erhöhungsangebot (Nr. 2)" in einer nicht tragenden Erwägung verneint (BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 - II ZR 218/03, NJW 2004, 2664, 2666). In der Literatur wurde diese Entscheidung vielfach so verstanden, dass auch der BGH die Vorschrift des § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei einem einen Erwerb am Primärmarkt für anwendbar hält.
Der Senat geht knapp auf diese ältere Entscheidung ein und weist darauf hin, dass der II. Zivilsenat in der Entscheidung keinen Rechtssatz aufgestellt habe, wonach ein im Tatbestand des § 264a Abs. 1 StGB vorausgesetzter Zusammenhang mit dem Vertrieb von Anteilen nur bei einem Erwerb derselben über den Primärmarkt, nicht hingegen bei einem solchen über den Sekundärmarkt, etwa über eine Börse, bestehe (Rn. 24). Den jeweiligen Literaturstimmen, die der Entscheidung des II. Zivilsenats Gegenteiliges entnommen hatten, erteilt der Senat somit eine Absage.
2. Kausalität von Prospektfehlern für die Anlageentscheidung
Der Senat konkretisiert in seiner Entscheidung außerdem die in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung entwickelte tatsächliche Vermutung, wonach ein Prospektfehler nach der Lebenserfahrung für die Anlageentscheidung ursächlich sei (Rn. 37 für Nachweise).
Sei in einem Emissionsprospekt ein von einem Wirtschaftsprüfungsunternehmen mit uneingeschränktem Bestätigungsvermerk versehener Jahresabschluss abgedruckt, werde hierdurch zumindest das Vertrauen begründet, dass die Anlage in dem bestätigten Umfang zu dem maßgeblichen Zeitpunkt keine Mängel aufgewiesen habe, die zur Verweigerung oder Einschränkung des Testats hätten führen müssen (Rn. 42). Dieses Vertrauen wirke insoweit fort, als der Anleger nur mit einer seither eingetretenen Veränderung der Verhältnisse rechnen müsse, nicht aber damit, dass zu dem für den im Prospekt wiedergegebenen Bestätigungsvermerk maßgeblichen Prüfungszeitpunkt strukturelle Mängel der Anlage bestanden, die sich noch auswirken (Rn. 42). Erst wenn zwischen Prüfungsstichtag und Anlageentschluss eine so lange Zeit verstrichen sei, dass mit wesentlichen, auch die Grundlagen des Unternehmens erfassenden Änderungen der Verhältnisse gerechnet werden müsse, könne die durch Lebenserfahrung begründete Vermutung der Ursächlichkeit für die Anlageentscheidung nicht mehr eingreifen (Rn. 42). Bis zu diesem Zeitpunkt bestehe zudem eine Aktualisierungspflicht in Form einer Verpflichtung zum Nachreichen richtigstellender Informationen, wenn die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der ursprünglichen Angaben zunächst nicht erkannt wurde oder sich später infolge geänderter Umstände einstelle (Rn. 42).
Der Senat lässt in diesem Zusammenhang offen, wann davon ausgegangen werden kann, dass die tatsächliche Vermutung nicht mehr greift. Jedenfalls sei die tatrichterliche Würdigung, wonach das Einstellen der berichtigten Jahresabschlüsse für die Geschäftsjahre 2008 und 2009 auf der Homepage der AG und das Veröffentlichen einer Pressemitteilung mit der Überschrift "WGF AG legt Jahresabschluss 2010 vor" nicht zu einem Wegfall der tatsächlichen Vermutung führe, nicht zu beanstanden (Rn. 44). Es sei auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht einen Wegfall der Kausalitätsvermutung nur angenommen hätte, wenn die Anleger zusätzlich durch eine Information auf der Homepage auf die geänderten Jahresabschlüsse und das nunmehr negative Bilanzergebnis in den Jahren 2008 und 2009 hingewiesen worden wären (Rn. 44).
3. Tatbestandsirrtum bei uneingeschränktem Bestätigungsvermerk
Der Senat stellt ferner klar, dass die Erteilung eines uneingeschränkten Bestätigungsvermerks durch einen Wirtschaftsprüfer bei einem redlichen Vorstandsmitglied die Annahme eines vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums begründen könne, wenn in einem Prospekt eine unrichtige vorteilhafte Angabe in Bezug auf eine risikobehaftete Forderung enthalten und dies auf eine fehlerhafte bilanzielle Bewertung zurückzuführen sei (Rn. 30). Die Rechtsprechung des Senats, wonach ein Bestätigungsvermerk zumindest das Vertrauen begründe, dass zu dem maßgeblichen Zeitpunkt keine Mängel vorhanden waren, die zur Einschränkung des Testats hätten führen müssen, sei auf Vorstandsmitglieder übertragbar (Rn. 30). Das jeweilige Vorstandsmitglied müsse allerdings darlegen, "alle Aufklärungen und Nachweise, die für eine sorgfältige Prüfung notwendig sind" (§ 320 Abs. 2 Satz 1 HGB) vorgenommen zu haben (Rn. 30).
III. Praktische Konsequenzen
Die Entscheidung präzisiert die Voraussetzungen der zivilrechtlichen Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Die Haftungsvoraussetzungen bleiben angesichts der Anforderungen an den subjektiven Tatbestand gleichwohl äußerst hoch.
Ferner konkretisiert sie die Anforderungen an den Nachweis der Ursächlichkeit von Prospektfehlern für die Kaufentscheidung von Anlegern. Die Vermutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Unrichtigkeit eines Prospekts ursächlich für die Kaufentscheidung war, sei dem Senat zufolge hier erst dann nicht mehr anwendbar, wenn zwischen Prüfungsstichtag und Anlageentschluss eine so lange Zeit verstrichen sei, dass mit wesentlichen, auch die Grundlagen des Unternehmens erfassenden Änderungen der Verhältnisse gerechnet werden müsse. Wie lang dieser Zeitraum zu bemessen ist, bleibt eine Frage des Einzelfalls und wird vom Senat auch nicht näher ausgeführt. Für die Praxis bedeutsam ist zudem, dass stets eine Widerlegung der Vermutung möglich ist.
Bis zu diesem Zeitpunkt bestehe zudem eine Aktualisierungspflicht, das heißt eine Verpflichtung zum Nachreichen richtigstellender Informationen, wenn die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der ursprünglichen Angaben zunächst nicht erkannt wurde oder sich später infolge geänderter Umstände einstellte.
Der Umstand, dass ein uneingeschränktes Testat eines Wirtschaftsprüfers einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum begründen kann, begründet für Anspruchsgegner im Übrigen eine Exkulpationsmöglichkeit, die allerdings aufgrund der ihnen obliegenden Darlegungslast eine sorgfältige Dokumentation erfordert.
Wegen der Vielgestaltigkeit der praktisch denkbaren Konsequenzen empfiehlt sich für betroffene Unternehmen und ihre Organmitglieder in jedem Fall, frühzeitig Rechtsrat einzuholen, um mögliche Haftungsrisiken zu vermeiden. GLADE MICHEL WIRTZ steht für einen Austausch zu diesen Themen jederzeit gern zur Verfügung.
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