Dualer Vertrieb auf dem Prüfstand

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Dualer Vertrieb auf dem Prüfstand

18. November 2021

Hohe Relevanz dualer Vertriebsstrukturen

Duale Vertriebsstrukturen haben in den vergangenen Jahren nicht zuletzt durch die zunehmende Zahl hybrider Plattformen immer mehr an wirtschaftlicher Bedeutung gewonnen und stehen als innovative Vertriebskonzepte oft auch im Zentrum der kartellrechtlichen Diskussion. Dabei sind Vertriebsmodelle, bei denen eine Parallelität zwischen dem Verkauf über Absatzmittler und dem Direktvertrieb besteht, keinesfalls neu und auch nicht auf den Onlinevertrieb begrenzt, sondern in ganz unterschiedlichen Branchen seit Langem gelebte Praxis. So steht etwa der konzerneigene Monobrandstore auf der Luxuseinkaufsmeile im direkten Wettbewerb zu der Bekleidung eben dieses Herstellers verkaufenden Boutique in der Fußgängerzone. Gleiches gilt für einen Großhändler, der seine Produkte einerseits über den Fachhandel vertreibt, anderseits aber auch Endkunden – wie zum Beispiel Großabnehmer – direkt beliefert. 

Das Vertriebsmodell, das die aktuellen Leitlinien zur Vertikal-GVO auch als "zweigleisigen Vertrieb" titulieren, ist angesichts seiner Bedeutung im Zusammenhang mit der für Ende Mai 2022 anstehenden Reform der Vertikal-GVO derzeit in aller Munde. So finden sich zu dieser Thematik substanzielle (Neu-)Regelungen in Art. 2 Abs. 4 bis 7 des gegenwärtigen Entwurfs der Vertikal-GVO ("Vertikal-GVO-E", siehe den aktuellen Stand etwa hier), die sowohl digitale als auch analoge Vertriebskonzepte betreffen werden.

Kartellrechtliche Grundproblematik und Status quo

Aus kartellrechtlicher Sicht bergen duale Vertriebskonstellationen insbesondere das Risiko eines kartellrechtswidrigen (horizontalen) Informationsaustauschs in Bezug auf den Vertrieb an die dem Abnehmer nachgelagerte Marktstufe, weil sich Lieferant und Abnehmer insoweit als Wettbewerber begegnen. Denn auch wenn ein Hersteller Daten und Informationen über das Wettbewerbsverhalten seines Absatzmittlers sammelt, die er im Vertikalverhältnis zur kartellrechtskonformen Steuerung und Fortentwicklung seines Vertriebssystems benötigt, können solche Daten und Informationen unter bestimmten Voraussetzungen gleichzeitig im Horizontalverhältnis zu wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen bis hin zur bezweckten Koordinierung führen. Die Problematik ist heute mit nicht unerheblichen Rechtsunsicherheiten behaftet, wie wir bereits in unserem Beitrag "Amazon again: Das Kartellverbot als blinder Fleck des "Market Place"-Falls der Europäischen Kommission" notiert haben.

Neuer Regelungsansatz für den dualen Vetrieb

Im Entwurf der neuen Vertikal-GVO finden sich nunmehr explizite Regelungen zur angesprochenen Thematik – und zwar allgemein für duale Vertriebsstrukturen sowie im Speziellen für hybride Plattformen. Ausweislich des aktuellen Entwurfs legt Art. 2 Abs. 4 S. 1 Vertikal-GVO-E im Ausgangspunkt nieder, dass "die Freistellung […] nicht für vertikale Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern" gilt. Im Wege einer eng auszulegenden Ausnahme nach Art. 2 Abs. 4 S. 2 lit. a Vertikal-GVO-E wird dann jedoch angeordnet, dass die Freistellung für alle Aspekte nichtgegenseitiger vertikaler Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern gilt, sofern

  • der Anbieter zugleich Hersteller, Großhändler oder Einführer, sowie Händler von Waren und
  • der Abnehmer Händler jedoch kein Wettbewerber im Bereich der Herstellung, des Großhandels oder der Einfuhr ist und 
  • ihr gemeinsamer Marktanteil auf dem relevanten Einzelhandelsmarkt nicht mehr als 10% beträgt.

Übersteigt der gemeinsame Marktanteil von Anbieter und Abnehmer auf dem Einzelhandelsmarkt 10%, liegt er aber unter den Marktanteilsschwellen des Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO-E, entfällt die Freistellungswirkung nur für den Informationsaustausch, der dann nach den Vorschriften für horizontale Vereinbarungen zu beurteilen ist, Art. 2 Abs. 5 Vertikal-GVO-E. Gänzlich ausgeschlossen ist die Anwendung der Ausnahme nach Art. 2 Abs. 7 Vertikal-GVO-E, "wenn ein Anbieter von Online-Vermittlungsdiensten, der auch Waren oder Dienstleistungen im Wettbewerb mit Unternehmen verkauft, für die er Online-Vermittlungsdienste anbietet, mit einem solchen konkurrierenden Unternehmen eine nichtgegenseitige vertikale Vereinbarung schließt". Konkret bedeutet dies, dass Unternehmen, die einerseits eine Plattform betreiben und auf dieser gleichzeitig selbst als Händler aktiv sind (sog. hybride Plattformen), ihren Gesamtbetrieb letztlich an den strengeren Vorgaben zur Beurteilung eines horizontalen Informationsaustauschs ausrichten müssen.

Bewertung des neuen Regelungsansatzes

Im Ausgangspunkt ist es wegen der Bedeutung des dualen Vertriebs zu begrüßen, dass dieser im Zuge der Reform der Vertikal-GVO umfassend aufgegriffen und geregelt wird. Hier tat sich in der Praxis ein erhebliches Unsicherheitspotential auf, wie entsprechende Vertriebsmodelle zu strukturieren sind, dass sie kartellrechtlichen Compliance-Anforderungen genügen. Gleichwohl zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die angestrebte Normierung neue rechtliche Fallstricke bereithält und der Verordnungsentwurf teilweise noch erhebliche Inkonsistenzen aufweist. 

So fällt auf, dass der personelle Anwendungsbereich nach Art. 2 Abs. 4 S. 2 lit. a Vertikal-GVO-E – in Abweichung zur bisher geltenden Fassung – so formuliert ist, dass sich die Gruppenfreistellung nur auf die parallele Einzelhandelstätigkeit von Herstellern, Großhändlern und Importeuren erstreckt; duale Vertriebsmodelle mit Wettbewerbsverhältnissen auf der Einzelhandelsstufe vorgelagerten Marktstufen scheinen hingegen nach Art. 2 Abs. 4 S. 2 lit. a Vertikal-GVO-E sowie der Formulierung der zweiten Marktanteilsschwelle ("Einzelhandelsmarkt") nicht erfasst. Dies führt dazu, dass unter anderem dual vertreibende Weiterverarbeiter in der Mitte der Wertschöpfungskette oder mehrstufige Vertriebssysteme womöglich nur eine Einzelfreistellung erlangen könnten, was mit ganz erheblichem Prüfungsaufwand und unweigerlichen Rechtsunsicherheiten behaftet wäre.

Darüber hinaus sieht der Entwurf die pauschale Freistellung nur für Unternehmen mit gemeinsamen Marktanteilen auf dem Einzelhandelsmarkt unter der Schwelle von 10% vor. Ob damit ein hinreichendes Maß an Rechtssicherheit erlangt werden kann, ist fraglich. Denn die mit einer belastbaren Marktabgrenzung und Marktanteilsberechnung regelmäßig einhergehenden Unwägbarkeiten tun sich auch hier auf und sind seitens der betroffenen Unternehmen bisweilen nur mit großem Aufwand zu beherrschen. Dies gilt insbesondere, sofern die Marktanteilsschwelle bei 10% verbleiben sollte. Ob der eigene Marktanteil 30% übersteigt, können Unternehmen häufig noch relativ verlässlich sagen; ob der gemeinsame Marktanteil auf dem Einzelhandelsmarkt nicht mehr als 10% beträgt, dürfte in der Praxis deutlich schwerer fallen. Ferner stellt sich die Frage, ob die in Art. 2 Abs. 7 Vertikal-GVO-E vorgesehene Regelung in Bezug auf Hybridplattformen, die unabhängig von Marktanteilen keine Freistellung unter der Vertikal-GVO-E erlangen können, nicht über das Ziel hinausschießt und ihrerseits unwillkommene "False Positives", d.h. fälschlicherweise aus dem Anwendungsbereich der Vertikal-GVO-E herausfallende, aber effiziente Verhaltensweisen hervorrufen wird.

Für Unternehmen, die nach dem Vorstehenden für ihren dualen Vertrieb jedenfalls keine pauschale Freistellung in Anspruch nehmen können, ist es umso gravierender, dass weder die Vertikal-GVO-E noch der Entwurf der Vertikalleitlinien darüber Auskunft geben, anhand welcher konkreten Maßstäbe dem als problematisch eingestuften Informationsaustausch wirksam begegnet werden kann. Ungeachtet dessen, dass diese Thematik angesichts entsprechender Sachnähe auch unmittelbar in den neuen Vertikalleitlinien geregelt werden könnte, sollten zumindest die sich ebenfalls im Reformprozess befindlichen Horizontalleitlinien umfassend Auskunft geben. Hier ist allerdings noch Geduld gefragt, weil mit entsprechenden Entwürfen wohl erst im ersten Quartal 2022 und einer Verabschiedung zu Ende 2022 gerechnet werden kann. 

Ein rechtssicherer Betrieb solcher Vertriebssysteme wird also in jedem Fall inhaltlich anspruchsvoller. Wie groß der Graubereich sein wird, hängt auch vom Detailgrad der entsprechenden Guidance durch die Kommission ab. Bei Ausbleiben einer Konkretisierung in der Vertikal-GVO-E bzw. den neuen Vertikalleitlinien müssen sich Unternehmen zudem für den Zeitraum nach deren Inkrafttreten, d.h. von Ende Mai 2022 bis zur Veröffentlichung der neuen Horizontalleitlinien auf erhebliche Rechtsunsicherheiten einstellen. Angesichts des absehbaren Bedarfs für Anpassungen der internen Organisationsstrukturen und Prozesse zum Schutz sensibler Informationen ist es daher zweifelhaft, ob der in Art. 9 Vertikal-GVO-E vorgesehene Übergangszeitraum nach Auslaufen der bisherigen Vertikal-GVO bis Ende Mai 2023 für eine Evaluierung und ggf. Neugestaltung des Vertriebssystems ausreichend ist. Denn durch den Zeitversatz bei der Reform der Horizontalleitlinien werden wichtige Informationen fehlen, die für eine rechtssichere Anpassung bestehender (dualer) Vertriebssysteme erforderlich sind oder als Entscheidungsgrundlage für eine Neugestaltung ausreichen. 

Insbesondere in Bezug auf (hybride) Plattformen kann zwar die vom Bundeskartellamt entwickelte Verwaltungspraxis einen instruktiven Anhaltspunkt für möglicherweise erforderliche Sicherungsmechanismen bieten (vgl. dazu z.B. die Fallberichte zu XOM-Metals (Stahlprodukte)Unamera (Agrarprodukte) oder OLF (Mineralölprodukte)). Das Bundeskartellamt fordert insofern, hybride Plattformen sollten derart konzipiert sein, dass der Plattformbetrieb und andere Unternehmensteile personell, organisatorisch, technisch und informatorisch voneinander getrennt sind; mitunter muss in Bezug auf im selben Bereich tätige Gesellschafter auch sichergestellt werden, dass diese von den ihnen gesellschaftsrechtlich zustehenden Auskunfts- und Einsichtsrechten keinen Gebrauch machen, soweit diese Beschränkung kartellrechtlich erforderlich ist. Auch wenn sich bei Sachverhalten im Zuständigkeitsbereich der Europäischen Kommission ein Anpassungsbedarf bei den Sicherungsmechanismen abzeichnet, ist aktuell noch völlig offen, ob diese dem skizzierten Umfang entsprechen werden.

Ausblick

Angesichts der weitreichenden Regelungen zum dualen Vertrieb und der damit zum Ausdruck kommenden kritischen Position der Europäischen Kommission stellt sich die Frage, ob für den dualen Vertrieb zukünftig noch ein effektiver Safe Harbor gewährleistet ist. Dies wird entscheidend davon abhängen, welche Nachjustierungen an der Vertikal-GVO-E und den neuen Vertikalleitlinien auf Basis des Konsultationsprozesses noch erfolgen und wie konkret die Guidance der Horizontalleitlinien zu dieser Thematik ausfallen wird. Unternehmen, die sich dualer Vertriebssysteme bedienen, sollten die Entwicklung rund um die Reform der Vertikal-GVO sowie der Horizontalleitlinien daher aufmerksam verfolgen. Eigene Strukturen und Prozesse sind angesichts der zu erwartenden neuen Anforderungen aus Brüssel kartellrechtlich wie wirtschaftlich kritisch zu überprüfen. 

In Abhängigkeit der Anforderungen, welche die neuen Regelungen im Ergebnis aufstellen werden, ist es aus unserer Perspektive nicht ausgeschlossen, dass gerade die neuen Regelungen zur Eindämmung kartellrechtlich problematischer Informationsflüsse die Wirtschaftlichkeit des Betriebs dualer Vertriebssysteme insgesamt infrage stellen könnten. Ins Gewicht fallen dürften hier vor allem der Aufwand für die Marktabgrenzung(en) und das laufende Monitoring der Marktanteile, die regelmäßige Evaluierung der Informationsflüsse auf kartellrechtliche Risiken, eine mögliche Schmälerung der Informationsgrundlage für die kartellrechtkonforme Steuerung des Vertriebs im Vertikalverhältnis und die Implementierung erforderlicher Sicherungsmechanismen zur Vermeidung kartellrechtlich kritischer Informationsflüsse.

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Zur positiven Fortführungsprognose von Start-ups

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Zur positiven Fortführungsprognose von Start-ups (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 20. Juli 2021, Az.: 12 W 7/21)

17. November 2021

Die Geschäftsmodelle von Start-ups sind neu, innovativ und stecken voller Potential. In den ersten Jahren ihrer Geschäftstätigkeit konzentrieren sich Start-ups bewusst auf Investitionen und Wachstum, oftmals zu Lasten der Profitabilität. Verluste in der Anlaufphase sind regelmäßig systematischer Natur und keine Indikation für ein Scheitern, sondern schlicht Teil eines neu gegründeten und auf Wachstum ausgerichteten Geschäftsmodells.

Dieser Zustand ist in der Regel auch allen beteiligten Stakeholdern bekannt und wird von diesen akzeptiert. Die Anlaufphasen von Start-ups werden oftmals durch die Bereitstellung von Risikokapital von Venture Capital Investoren finanziert, die den Start-ups – in der Hoffnung auf einen späteren Exit-Erlös bei Veräußerung ihrer Beteiligung – die notwendige Liquidität zur Verfügung stellen. Gleichwohl kann man den Fortbestand eines Start-ups nicht ohne weiteres als gesichert ansehen. Würde man den Begriff der Unternehmenskrise als einen Zustand bzw. Lage verstehen, die geeignet ist, den Fortbestand eines Unternehmens zu gefährden, so würde sich ein Start-up wohl regelmäßig in der Dauerkrise befinden.

In einer jüngeren Entscheidung hat sich das Oberlandesgericht Düsseldorf (Beschluss vom 20. Juli 2021, Az.: 12 W 7/21) mit der Frage auseinandergesetzt, ob und unter welchen Voraussetzungen trotz einer solchen "Dauerkrise" aufgrund der Bereitstellung von Risikokapital durch einen Investor in der Vergangenheit von einer positiven Fortführungsprognose des Start-ups ausgegangen werden kann.

I. DIE INSOLVENZRECHTLICHE ÜBERSCHULDUNG NACH § 19 ABS. 2 INSO

Sofern ein Start-up stets dazu in der Lage ist, seinen fälligen Zahlungspflichten vollumfänglich nachzukommen, wird eine Zahlungsunfähigkeit gem. § 17 Abs. 2 InsO regelmäßig auszuschließen sein. Aufgrund einer (noch) nicht vorhandenen Beständigkeit der Unternehmenstätigkeit kann sich jedoch im Einzelfall die Frage stellen, ob das Start-up insolvenzrechtlich überschuldet im Sinne von § 19 Abs. 2 InsO ist.

Eine Überschuldung gem. § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Es besteht also eine zweistufige Prüfungsreihenfolge.

Zunächst ist auf der ersten Stufe zu prüfen, ob das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten deckt. Sofern dies nicht der Fall ist und die rechnerische Prüfung eine Überschuldung des Unternehmens ergibt, ist auf der zweiten Stufe eine Fortführungsprognose zu treffen. Denn eine Überschuldung ist ausgeschlossen, wenn eine positive Fortführungsprognose des Unternehmens gegeben ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine positive Fortführungsprognose in objektiver Hinsicht voraus, dass sich aus einem aussagekräftigen Unternehmenskonzept eine Lebensfähigkeit des Unternehmens ergibt, wobei diesem Konzept grundsätzlich sowohl ein Ertrags- als auch ein Finanzplan für einen angemessenen Prognosezeitraum zugrunde liegen muss. In der bis zum 31. Dezember 2020 geltenden Fassung des § 19 Abs. 2 InsO a.F. galt hierfür nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der Regel ein Prognosezeitraum von zwölf Monaten, in dem die Gesellschaft ihren fälligen Zahlungspflichten nachkommen können muss. Dieser Zeitraum wurde nunmehr auch in § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO n.F. festgeschrieben.

II. BESCHLUSS DES OLG DÜSSELDORF VOM 20. JULI 2021 (AZ.: 12 W 7/21)

Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat sich in seinem Beschluss vom 20. Juli 2021 (Az.: 12 W 7/21) mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit die vorgenannten Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur positiven Fortführungsprognose auf Start-ups anwendbar sind bzw. welche Besonderheiten im Rahmen der positiven Fortführungsprognose von Start-ups zu berücksichtigen sind.

1. Sachverhalt der Entscheidung

Der Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Insolvenzverwalter über das Vermögen eines insolventen Start-up-Unternehmens, das ein Vertriebsportal für Gebraucht- und Nutzfahrzeuge betrieb, nahm dessen ehemaligen Geschäftsführer wegen masseschmälender Zahlungen nach Insolvenzreife gem. § 64 Satz 1 GmbHG a.F. in Anspruch. Im Rahmen des Prozesskostenhilfegesuchs des Insolvenzverwalters hatte sich das Oberlandesgericht Düsseldorf in dem Beschwerdeverfahren des Insolvenzverwalters gegen die ablehnende Entscheidung des Landgerichts mit den Erfolgsaussichten eines solchen Schadensersatzanspruchs gegen den ehemaligen Geschäftsführer zu beschäftigen. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob der Geschäftsführer von einer positiven Fortführungsprognose trotz fehlender Ertragsfähigkeit des Unternehmens ausgehen durfte, weil ein Bestandsinvestor der Gesellschaft bei einem entsprechenden Finanzierungsbedarf in der Vergangenheit mehrfach Darlehen zur Verfügung gestellt hatte und überdies keine Anzeichen dafür vorlagen, dass er dies in der Zukunft nicht wieder bzw. weiterhin tun würde.

2. Inhalt der Entscheidung des OLG Düsseldorf

Das Oberlandesgericht Düsseldorf führt in seiner Entscheidung zunächst aus, dass bei einem Start-up, das in der Anfangsphase in aller Regel nur Schulden produzierte, in einem besonderen Maße eine ständige, intensive Prüfung der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens erforderlich sei.

Allerdings seien die Grundsätze, die der Bundesgerichtshof für eine positive Fortführungsprognose aufgestellt habe, nicht uneingeschränkt auf Start-ups anwendbar. Schließlich seien

Start-ups in einer – mehr oder weniger langen – Anfangsphase zumeist zwar nicht ertragsfähig, allerdings seien die operative Geschäftschancen des Unternehmens möglicherweise trotz einer aktuell fehlenden Ertragskraft nicht auf Dauer ausgeschlossen. Daher könne es für die Zwecke der positiven Fortführungsprognose von Start-ups in deren Anfangsphase nicht auf die Ertragsfähigkeit des Start-ups ankommen. Schließlich liege es in der Natur eines Start-ups, dass es in der Regel zunächst nur Verluste generiere und von Darlehensfinanzierungen abhängig sei.

Entscheidend für die positive Fortführungsprognose sei vielmehr, dass das Unternehmen mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit in der Lage sei, seine im Prognosezeitraum fälligen Zahlungsverpflichtungen zu decken. Die dafür erforderlichen Mittel könnten dabei auch von Dritten als Fremd- oder Eigenkapital zur Verfügung gestellt werden.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf befasst sich im Weiteren damit, welcher Konkretisierungsgrad an die weitere Unternehmensfinanzierung des Start-ups durch die Investoren zu stellen ist, um von einer positiven Fortführungsprognose ausgehen zu können. Insoweit führt es aus, dass ein gesicherter rechtlicher und damit einklagbarer Anspruch auf die Finanzierungsbeiträge im Rahmen der Überschuldungsprüfung keine Voraussetzung für eine positive Fortführungsprognose sei. Schließlich würde dies einem Wahrscheinlichkeitsgrad von 100% entsprechen, während für eine positive Fortführungsprognose lediglich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erforderlich sei.

In dem entscheidungserheblichen Sachverhalt hatte der Investor mit einem Schreiben gegenüber der Schuldnerin seinen Finanzierungswillen kundgetan und dieser zugesagt, dass er auf ihre Anforderung hin das für die Erfüllung der eingegangenen Verbindlichkeiten benötigte Kapital bereitstellen werde. Er werde die Darlehensgewährung fortsetzen, solange das Unternehmenskonzept der Schuldnerin weiterhin überzeugend sei. Vor diesem Hintergrund ist nach Auffassung des Oberlandesgerichts Düsseldorf eine positive Fortführungsprognose gegeben, solange ein nachvollziehbares operatives Konzept vorgelegen habe, das die geplante Etablierung der Internetplattform für Gebraucht- und Nutzfahrzeuge als erfolgsversprechend erscheinen ließ.

Sofern daher aufgrund von vergangenen Finanzierungsrunden davon auszugehen sei, dass der Investor auch zukünftig weitere Finanzierungsbeiträge bereitstelle, könne dies die erforderliche hinreichende Wahrscheinlichkeit hinsichtlich einer weiteren Finanzierung und damit einer positiven Fortführungsprognose begründen.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf führt überdies weiter aus, dass der Geschäftsführer eines Start-ups zudem immer dann von einer positiven Fortführungsprognose ausgehen dürfe, solange nicht konkret wahrscheinlich sei, dass der Kapitalgeber das Start-up nicht weiter finanzieren wird.

Aus den vorstehenden Erwägungen hat das Oberlandesgericht Düsseldorf dann auch die Beschwerde des Insolvenzverwalters zurückgewiesen. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe sei von dem Landgericht zurecht zurückgewiesen worden, da die beabsichtigte Klage keine Aussicht auf Erfolg habe. Der Geschäftsführer habe aufgrund der Finanzierungszusage des Investors von einer positiven Fortführungsprognose ausgehen dürfen, sodass in dem relevanten Zeitraum keine Überschuldung der Gesellschaft vorgelegen habe, die zu einer Haftung des Geschäftsführers hätte führen können.

3. Bewertung und Praxisfolgen

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf nimmt eine angemessene Modifizierung der allgemeinen Regelungen und Voraussetzungen für die Bejahung einer positiven Fortführungsprognose für Start-ups vor und verringert damit die Haftungsrisiken für die Geschäftsführer solcher Unternehmen.

Insbesondere berücksichtigt das Oberlandesgericht Düsseldorf hinsichtlich des Konkretisierungsbedarfs zukünftiger Finanzierungen in angemessener Weise, dass Finanzierungsrunden von Start-ups in aller Regel kurzfristig und nicht auf Vorrat erfolgen. Finanzierungszusagen werden oftmals erst auf der Basis intensiver Prüfungen und unter Vorbehalt abgegeben. Zudem ist es aus der Sicht der Unternehmensgründer und auch der Bestandsinvestoren, soweit diese sich nicht an weiteren Finanzierungsrunden beteiligen können oder wollen, sinnvoll, neues Kapital erst dann aufzunehmen, wenn dies aus Liquiditätsgründen tatsächlich erforderlich ist. Schließlich verändern sich die Bewertungen von Start-ups häufig innerhalb sehr kurzer Zeit, sodass die Vorgenannten ein Interesse daran haben, ihre Beteiligung geringstmöglich zu verwässern.

Nicht überzeugend ist indes die Schlussfolgerung des Oberlandesgerichts Düsseldorf, dass der Geschäftsführer schon dann von einer positiven Fortführungsprognose ausgehen dürfe, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Bestandsinvestor, der das Unternehmen in der Vergangenheit mehrfach durch Finanzierungsbeiträge finanziert habe, seine Unterstützung in der Zukunft entziehen werde.

Eine solche nicht an ein aktives Verhalten/Handeln des Geschäftsführers anknüpfende Bewertung ist mit dem Sinn und Zweck der Insolvenzantragspflicht, nämlich dem Schutz des Rechtsverkehrs, insbesondere in Gestalt der zukünftigen Gläubiger des Unternehmens, nicht vereinbar. Auch um das insolvenzrechtliche Haftungsrisiko zu minimieren, sollten die Geschäftsführer von Start-ups daher regelmäßig aktiv mit den Bestandsinvestoren über die Folgefinanzierung des Unternehmens sprechen und dabei auch die diesbezügliche grundsätzliche Bereitschaft der Bestandsinvestoren abfragen. Die entsprechenden Gespräche sowie ein nachvollziehbares Konzept hinsichtlich des Geschäftsmodells des Start-ups sollten dann stets entsprechend schriftlich dokumentiert werden.

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EuGH bestätigt: Wie die Mutter, so die Tochter!

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EuGH bestätigt: Wie die Mutter, so die Tochter!

4. November 2021

Nachdem an dieser Stelle bereits die Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella ("Generalanwalt") in dem Vorabentscheidungsverfahren "Sumal" besprochen wurden (hier), widmet sich dieses Update dem mittlerweile ergangenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs ("EuGH") in dieser Sache (C-882/19). Kern des Vorabentscheidungsverfahrens war die Frage, inwieweit eine Tochtergesellschaft für den rechtskräftig durch Bußgeldbescheid der Europäischen Kommission festgestellten Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft (zivilrechtlich) haftet, wenn die in Anspruch genommene Gesellschaft nicht Adressat des Bußgeldbescheids ist. In seinen Schlussanträgen hatte der Generalanwalt die Meinung vertreten, dass die Haftung die wirtschaftliche Einheit in ihrer Gesamtheit treffe. Der EuGH ist den Schlussanträgen des Generalanwalts im Wesentlichen gefolgt und bestätigt damit, dass im Rahmen von kartellrechtlichen Schadensersatzprozessen sowohl eine "aufsteigende" als auch eine "absteigende" gesamtschuldnerische Haftung zugunsten der Geschädigten in Betracht kommt. Voraussetzung für die Haftung sei vor allem, ob Mutter- und Tochtergesellschaft eine wirtschaftliche Einheit bilden. Darüber hinaus äußert sich der EuGH auch zu den prozessualen Verteidigungsmitteln der Tochtergesellschaft, wenn diese für einen Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft in Anspruch genommen wird.

I. GRUNDLAGEN DER HAFTUNGSZURECHNUNG

Im Ausgangspunkt bekräftigt der EuGH seine sog. "Jedermann"-Rechtsprechung. Danach gebiete es das Unionsrecht, dass jedermann, der im ursächlichen Zusammenhang mit einem Kartellrechtsverstoß einen Schaden erlitten hat, die Möglichkeit haben muss, Kompensation zu erlangen. Aber auch die Antwort auf die Frage, wer für einen kartellbedingt entstandenen Schaden verantwortlich ist, sei unmittelbar durch das Unionsrecht vorgegeben. Insoweit führt der EuGH seine Linie aus dem "Skanska"-Urteil (C-724/17) nicht nur fort, sondern bekräftigt diese ausdrücklich. Danach bilden das private- und public enforcement gemeinsam einen integralen Bestandteil des Systems, welches wettbewerbswidriges Verhalten unterbinden und sanktionieren soll. Aus diesem einheitlichen System folge, dass der Begriff des "Unternehmens" in Art. 101 Abs. 1 AEUV im Rahmen von Verwaltungs- und Schadensersatzverfahren identisch sei.

Zur Begründung führt der EuGH an, dass der Unionsgesetzgeber in beiden Bereichen den Begriff "Unternehmen" gewählt habe und nicht etwa "Gesellschaft" oder "juristische Person" (unter Bezugnahme auf Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 = public enforcement und Art. 2 Nr. 2 Richtlinie 2014/104/EU = private enforcement). Entscheidendes Kriterium sei ein einheitliches Verhalten auf dem Markt. Insofern spiele es keine Rolle, ob das so bestimmte Unternehmen aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive mehrere natürliche oder juristische Personen vereint. Das Unternehmen sei im Rahmen des Wettbewerbsrechts als "wirtschaftliche Einheit" zu begreifen, welches aus einer "einheitlichen Organisation persönlicher, materieller und immaterieller Mittel" bestehe. 

Kartellrechtsverstöße müssten nach dem Grundsatz der persönlichen Haftung einer solchen wirtschaftlichen Einheit zugerechnet werden, unabhängig davon, welcher Teil dieser Einheit den Verstoß konkret begangen hat. Ein Verstoß wiederum müsse entweder bestandskräftig von der Kommission oder aber von dem betreffenden nationalen Gericht selbst festgestellt werden. Stelle die Kommission einen Kartellrechtsverstoß verbindlich fest, komme es nicht darauf an, ob in dem Beschluss das konkrete Rechtssubjekt genannt ist, gegenüber dem Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden sollen. Entscheidend sei, dass in dem Beschluss mindestens ein anderes Rechtssubjekt genannt ist, mit dem der Anspruchsgegner eine wirtschaftliche Einheit bildet.

II. "AUFSTEIGENDE HAFTUNG" DER MUTTER- FÜR DIE TOCHTERGESELLSCHAFT!

Soweit es nach "Skanska" noch Zweifel am Bestehen einer aufsteigenden Haftung der Muttergesellschaft für das (kartellrechtswidrige) Verhalten der Tochtergesellschaft im Kartellschadensersatzrecht gab, beseitigt der EuGH diese in seinem Urteil und bejaht eine solche für den Fall, dass Mutter- und Tochtergesellschaft gemeinsam eine wirtschaftliche Einheit bilden. Hier stellt der EuGH auf das zuvor erwähnte einheitliche Auftreten auf dem Markt ab. Ein solches soll vor allem dann gegeben sein, wenn die Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten nicht selbstständig bestimmt, sondern beide Rechtssubjekte durch eine wirtschaftliche, organisatorische und rechtliche Beziehung derart verbunden sind, dass die Tochtergesellschaft im Wesentlichen den Weisungen der Muttergesellschaft unterliegt. Der Begriff "Unternehmen" und damit der Begriff "wirtschaftliche Einheit" führe laut EuGH von Rechts wegen zu einer gesamtschuldnerischen Haftung der Einheiten, die zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung die wirtschaftliche Einheit bilden.

III. "ABSTEIGENDE HAFTUNG" DER TOCHTER- FÜR DIE MUTTERGESELLSCHAFT!

Auch eine absteigende Haftung wird vom EuGH im Ergebnis bejaht. Dabei spiele es keine Rolle, ob das in Anspruch genommene Rechtssubjekt selbst Adressat eines Bußgeldbescheids ist. Zumindest spreche "grundsätzlich nichts dagegen, dass ein Opfer einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise gegen eine der rechtlichen Einheiten, die die wirtschaftliche Einheit und damit das Unternehmen bilden, das durch eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV den Schaden dieses Opfers verursacht hat, eine Schadensersatzklage erhebt". Voraussetzung sei auch hier, dass eine wirtschaftliche Einheit zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft besteht, beide also Teil desselben Unternehmens sind. Damit bringt der EuGH zum Ausdruck, dass der Begründungsansatz der Haftungszurechnung sowohl bei der aufsteigenden als auch bei der absteigenden Haftung derselbe ist. 

Einschränkend führt der EuGH aus, die Tochtergesellschaft dürfe nicht für Zuwiderhandlungen der Muttergesellschaft haftbar gemacht werden, "die im Rahmen wirtschaftlicher Tätigkeiten begangen wurden, die in keinem Zusammenhang mit ihrer eigenen Tätigkeit stehen und an denen sie in keiner Weise, auch nicht mittelbar, beteiligt war". Unklar bleibt jedoch, unter welchen Voraussetzungen dieser geforderte Zusammenhang anzunehmen ist. Konkretisierte der Generalanwalt dieses Erfordernis noch dadurch, dass das Verhalten der Tochtergesellschaft auch konkret zur Umsetzung des Kartellrechtsverstoßes der Muttergesellschaft beigetragen haben muss (z.B. durch den Vertrieb der kartellbefangenen Produkte), thematisiert der EuGH den Produktvertrieb in seinem Urteil nur im Zusammenhang mit der Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit und damit an vorgezogener Stelle. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn der EuGH klarere Kriterien aufgezeigt hätte, wann ein ausreichender Zusammenhang zwischen dem Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft und der Tätigkeit der Tochtergesellschaft vorliegt bzw. eine (mittelbare) Beteiligung der Tochtergesellschaft an dem Verstoß zu bejahen ist. Aus Gründen der Rechtssicherheit darf die insofern noch durch die Rechtsprechung genauer auszutarierende Schwelle zur Bejahung einer solchen Beteiligung nicht zu niedrig angesetzt werden.

Zur Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze müssten der Tochtergesellschaft im Falle der gerichtlichen Auseinandersetzung alle zweckdienlichen Verteidigungsmittel im Prozess zur Verfügung stehen, insbesondere muss diese bestreiten können, Teil desselben Unternehmens (bzw. der wirtschaftlichen Einheit) zu sein wie die kartellrechtswidrig handelnde Muttergesellschaft. Aus dem Umstand, dass eine Kommissionsentscheidung nur gegen die Muttergesellschaft ergangen ist, dürften der Tochtergesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Gewährung rechtlichen Gehörs keine prozessualen Nachteile entstehen. Liege jedoch eine bindende Kommissionsentscheidung vor, die einen Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft bestätigt und sind die Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Einheit gegeben, stehe nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 auch gegenüber der Tochtergesellschaft bindend fest, dass die wirtschaftliche Einheit einen Wettbewerbsverstoß begangen hat. Ohne eine bindende Entscheidung der Kommission stehe es der in Anspruch genommenen Tochtergesellschaft frei, auch den Wettbewerbsverstoß an sich zu bestreiten.

Zudem lasse sich aus der Sanktionierung einer bestimmten juristischen Person nicht ableiten, dass diese für den Wettbewerbsverstoß alleine verantwortlich ist. Die Kommission könne nach freiem Ermessen entscheiden, welcher juristischen Person sie eine Geldbuße auferlegt, ohne die anderen Rechtssubjekte derselben wirtschaftlichen Einheit dadurch von einer Haftung zu befreien oder gar das Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit an sich zu verneinen.

IV. EINORDNUNG UND AUSBLICK

Die Sumal-Entscheidung des EuGH scheint den Weg für die zivilrechtliche Inanspruchnahme unterschiedlicher Gesellschaften einer wirtschaftlichen Einheit sowohl in aufsteigender als auch in absteigender Linie zu ebnen. Bezugspunkt der Verantwortlichkeit ist danach das auf dem jeweiligen Markt agierende Unternehmen als wirtschaftliche Einheit und nicht eine gesellschaftsrechtlich determinierte juristische oder natürliche Person. Damit dürfen sich diejenigen bestätigt fühlen, die schon seit Längerem die wirtschaftliche Einheit nach ihrer Tätigkeit auf dem Markt und damit losgelöst vom Konzernbegriff bestimmen (Kersting/Otto, Die Marktbezogenheit der wirtschaftlichen Einheit, FS Wiedemann, S. 235).

Unterschiedliche wirtschaftliche Einheiten innerhalb eines Konzerns

Mit Blick auf die "Grenzen" einer möglichen Haftung verschiedener Gesellschaften einer wirtschaftlichen Einheit hat der EuGH interessanterweise angenommen, dass es innerhalb eines Konzerns mehrere wirtschaftliche Einheiten geben kann, die in verschiedenen wirtschaftlichen Bereichen tätig sind und in keinem Zusammenhang zueinander stehen. Als Beispiel führt der EuGH konglomerate Unternehmensgruppen an. Eine Inanspruchnahme der Tochter- für das Verhalten der Muttergesellschaft könne in solchen Unternehmensgruppen daher nicht automatisch erfolgen. Es sei vielmehr stets im Einzelfall zu prüfen, ob eine wirtschaftliche Einheit tatsächlich besteht und ein ausreichender - insofern noch näher zu spezifizierender - Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Tätigkeit von Mutter- und Tochtergesellschaft begründet werden kann.

Erstreckung der Haftung auf Schwestergesellschaften?

Da die Entscheidung in der Rechtssache "Sumal" ausschließlich die Haftungsverhältnisse zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft zum Gegenstand hatte, hat sich der EuGH nicht unmittelbar zur Frage der Haftung zwischen Schwestergesellschaften innerhalb eines Konzerns verhalten. Gleichwohl stellt sich die Folgefrage, ob eine Schwestergesellschaft für einen Kartellrechtsverstoß einer anderen Schwestergesellschaft, die beide Teil derselben wirtschaftlichen Einheit sind, in Anspruch genommen werden kann. Indem zur Begründung der Passivlegitimation auf die wirtschaftliche Einheit abgestellt wird, schließt die Argumentation des EuGH eine solche Haftungszurechnung zumindest nicht aus. Die Voraussetzungen der Haftung dürften parallel zu den Haftungsvoraussetzungen der aufsteigenden und absteigenden Haftung bestehen. Danach müssten zwischen den Schwestergesellschaften (über die Muttergesellschaft vermittelte?) wirtschaftliche, organisatorische und rechtliche Bindungen bestehen und die wirtschaftliche Tätigkeit der einen Schwestergesellschaft einen konkreten Bezug zu dem Kartellrechtsverstoß der anderen Schwestergesellschaft aufweisen. Die Begründung einer wirtschaftlichen Einheit könnte hier auf größere Schwierigkeiten stoßen als im Rahmen eines Mutter-Tochter-Verhältnisses. Darüber hinaus bestehen hier erhebliche Unsicherheiten bei der Bestimmung eines ausreichenden Bezugs der Tätigkeit von Schwestergesellschaft A zum kartellrechtswidrigen Verhalten der Schwestergesellschaft B. Werden die Anforderungen an eine Haftungszurechnung zu niedrig angesetzt, drohen eine uferlose Ausweitung der Haftung und ein europaweites "Forum Shopping".

Auswirkungen auf die Rechtsprechung der deutschen Gerichte?

Die deutsche Rechtsprechung stand einer Haftungszurechnung in absteigender Linie (LG München I, Urteil vom 7. Juni 2019, 37 O 6039/18) sowie zwischen Schwestergesellschaften (LG Mannheim, Urteil vom 24. April 2019, 14 O 117/18 Kart) bislang ablehnend gegenüber. Die Gerichte ließen eine Haftungszurechnung am Prinzip der persönlichen Verantwortung scheitern. Eine Haftungszurechnung richte sich im Kartellrecht vor allem nach dem Kriterium des bestimmenden Einflusses, welches in aufsteigender Richtung ebenso wenig gegeben sei wie zwischen Schwestergesellschaften. Diese Argumentation weist jedenfalls mit Blick auf die Haftungszurechnung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft gewisse Widersprüche zu der nun ergangenen Entscheidung des EuGH auf, obgleich das Urteil des EuGH weiterhin Auslegungsspielraum lässt. Das LG Dortmund hatte sich bereits 2020 in einem obiter dictum (Urteil vom 8. Juli 2020, 8 O 75/19 Kart) dafür ausgesprochen, dass die kartellrechtliche Zuwiderhandlung einer einzelnen Konzerngesellschaft vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Einheit auch für alle anderen Unternehmensteile ein Eigenverhalten im haftungsrechtlichen Sinne darstelle und ausreichend ist, die Haftungsverantwortlichkeit jedes einzelnen Rechtsträgers der wirtschaftlichen Einheit zu begründen. Es steht zu erwarten, dass sich diese Ansicht nun rasch verbreiten wird.

Ausblick

Mit dem vorliegenden Urteil hat der EuGH die private Rechtsdurchsetzung weiter gestärkt. Geschädigte können zukünftig auf einen größeren Kreis potentieller Anspruchsgegner zugreifen, soweit die kartellrechtswidrig handelnde Muttergesellschaft über Tochtergesellschaften verfügt, die zu derselben wirtschaftlichen Einheit gehören und bei denen ein Zusammenhang zwischen der jeweiligen wirtschaftlichen Tätigkeit und dem Kartellrechtsverstoß der Muttergesellschaft bejaht werden kann. Damit geht zugleich eine größere Anzahl potentieller Gerichtsstände einher, wenn diese Tochtergesellschaften ihren Sitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben. Insoweit stellt der EuGH klar, dass Art. 7 Nr. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 sowohl den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs als auch den Ort des für diesen Schaden ursächlichen Geschehens erfasst und somit eine Klage an beiden Orten zulässig wäre. Für die Praxis wird sich in Zukunft vor allem die Frage stellen, welche Qualität der Zusammenhang zwischen "der wirtschaftlichen Tätigkeit der Tochtergesellschaft und dem Gegenstand der Zuwiderhandlung" der Muttergesellschaft in Fällen aufweisen muss, die weniger eindeutig sind, als dass die Tochtergesellschaft kartellbefangene Waren abgesetzt hat.

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Dr. Markus Wirtz

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