Neue Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Gekommen um zu bleiben!

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Neue Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Gekommen um zu bleiben!

30. Mai 2022

Am 1. Juni 2022 treten die überarbeitete Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (EU) 2022/720 (Vertikal-GVO) sowie die dazugehörigen Vertikal-Leitlinien (Vertikal-LL) der Europäischen Kommission (Kommission) in Kraft und werden uns bis zum 31. Mai 2034 begleiten. Sie ersetzen die bisherigen Fassungen der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL, die am 31. Mai 2022 auslaufen und nicht nur aufgrund der zunehmenden Digitalisierung dringend reformbedürftig waren.

Die Vertikal-GVO bzw. die Vertikal-LL sind in der kartellrechtlichen Praxis von besonderer Relevanz, da sie die zentralen Vorgaben der Kommission zur kartellrechtlichen Bewertung von Vertriebssystemen enthalten. Hieran ändert sich nichts. Auch unter der neuen Vertikal-GVO sind vertikale Vereinbarungen, die keine Kernbeschränkungen enthalten und deren Parteien die 30%-Marktanteilsschwelle einkaufs- wie absatzseitig nicht überschreiten, gruppenfreigestellt.

Ungeachtet dessen sehen die Vertikal-GVO bzw. die Vertikal-LL in verschiedenen Bereichen wichtige Neuerungen vor, die erhebliche praktische Auswirkungen haben werden. Diese betreffen:

  • die Bewertung dualer Vertriebssysteme (I.),
  • die Möglichkeiten zur Inanspruchnahme des Handelsvertreterprivilegs (II).,
  • die umfangreichen Anpassungen beim Online-Vertrieb (III.),
  • Preisbindungen der zweiten Hand (IV.),
  • die Möglichkeiten zur Nutzung und Kombination verschiedener Vertriebssysteme (V.) sowie
  • die Freiheiten bei der Ausgestaltung von Wettbewerbsverboten (VI.).

Die leitenden Motive für die Änderungen waren (i) die Verbesserung der Passgenauigkeit der Freistellung (Safe Harbour), (ii) die Erweiterung und Verbesserung der Regelungen bzw. Hinweise insbesondere beim Online-Vertrieb und schließlich (iii) die Reduktion der Regelungskomplexität. Ob die Kommission diesen Ansprüchen gerecht geworden ist, wird sich angesichts der Vielgestaltigkeit der unterschiedlichen Regelungsbereiche wohl erst in den kommenden Jahren zeigen. Bereits jetzt lässt sich jedoch festhalten, dass sich in den Neufassungen zwar erfreuliche Klarstellungen finden, die Rechtssicherheit schaffen, aber auch neue Stolpersteine entstanden sind, die Handlungsbedarf bei vielen Unternehmen begründen dürften.

Mit Blick auf die weitere Entwicklung ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Vertikal-LL zwar praktisch von großer Bedeutung sind, weil sie die Rechtsauffassung der Kommission niederlegen, aber für die nationalen Gerichte und Behörden nicht rechtlich verbindlich sind. Daher bleibt abzuwarten, wie die nationalen Wettbewerbsbehörden, allen voran das Bundeskartellamt, die Ansätze der Kommission in den einzelnen Bereichen in die bisherige Praxis integrieren werden.

I. Dualer Vertrieb

Ein Schwerpunktthema in den Entwürfen zur Vertikal-GVO bzw. den Vertikal-LL und der begleitenden Diskussion war der duale Vertrieb, dessen praktische Bedeutung angesichts der Relevanz des Online-Handels in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat und den die Kommission vermehrt kritisch sieht.

Diese kritische Grundhaltung der Kommission manifestiert sich auch in der finalen Fassung der Vertikal-GVO und der Vertikal-LL. Hintergrund ist, dass mit dem dualen Vertrieb aufgrund der Doppelrolle, die der Hersteller einnimmt, d.h. er ist zugleich Vertragspartner der Vertriebshändler (Vertikalverhältnis) und deren Wettbewerber (Horizontalverhältnis), das Risiko möglicher wettbewerbsbeschränkender Wirkungen einhergeht. Jenseits möglicher Absprachen auf horizontaler Ebene (Kollusion) resultieren diese Bedenken insbesondere aus dem (zu einem gewissen Grad) unvermeidlichen Informationsaustausch im Vertikalverhältnis, der Auswirkungen auf das Horizontalverhältnis haben kann.

Ungeachtet dieser Ausgangslage war der duale Vertrieb nach bisheriger Rechtslage bei Einhaltung der 30%-Marktanteilsschwellen und des Verbots der Kernbeschränkungen freigestellt. Zur Frage, wie weit diese vertikale Freistellungswirkung angesichts der horizontalen Dimension des dualen Vertriebs reichte, hat die Kommission in der Vergangenheit nicht dezidiert Stellung genommen. Dies ändert sich mit der neuen Vertikal-GVO. Zwar behält die Kommission ihren grundsätzlichen Ansatz bei, den dualen Vertrieb unter bestimmten Voraussetzungen der Vertikal-GVO zu unterwerfen, sieht aber im Detail praktisch sehr bedeutsame Neuerungen vor (eine vertiefte, kritische Diskussion verschiedener Aspekte findet sich auch im Blogbeitrag Möller/Weise, Dualer Vertrieb auf dem Prüfstand (hier)).

Informationsaustausch

An dem ursprünglich von der Kommission vorgeschlagenen Konzept, bei (möglichen) Marktanteilen von über 10%, aber nicht mehr als 30%, den Informationsaustausch im dualen Vertrieb nicht freizustellen, sondern zwingend einer Einzelfallprüfung am Maßstab der Horizontal-Leitlinien zu unterwerfen, war erhebliche Kritik geäußert worden (vgl. dazu im Detail Möller/Schulz/Weise, Update zum Dualen Vertrieb – Kommission legt Bewertungskonzept zum Informationsaustausch vor (hier)).

Diese Kritik hat die Kommission aufgegriffen und die umstrittene 10%-Schwelle gestrichen, so dass der Informationsaustausch im Rahmen eines nicht wechselseitigen dualen Vertriebs einheitlich und unabhängig von den Einzelhandelsmarktanteilen zu bewerten ist. Zudem hat die Kommission das Bewertungskonzept für den Informationsaustausch im Rahmen des dualen Vertriebs unmittelbar in die Vertikal-GVO bzw. die Vertikal-LL integriert. Ein zulässiger Informationsaustausch zwischen Anbietern und Abnehmern setzt demnach voraus, dass dieser (i) direkt die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft und (ii) zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren erforderlich ist. Sind eine oder beide Voraussetzungen nicht erfüllt, entfällt die Freistellung der Vertikal-GVO und eine Einzelfallprüfung wird erforderlich. Bei der Prüfung ist irrelevant, ob die Informationen auf Basis einer vertikalen Vereinbarung oder informell ausgetauscht werden, weil z.B. eine Partei die Informationen ohne entsprechende Aufforderung der Gegenseite offenlegt (Vertikal-LL, Rn. 97).

Um die notwendige Qualifizierung zu erleichtern, hat die Kommission eine nicht abschließende "weiße" und eine "schwarze" Liste mit Informationen erstellt, die grundsätzlich ausgetauscht werden dürfen (Vertikal-LL, Rn. 99) bzw. deren Austausch im Regelfall kritisch ist (Vertikal-LL, Rn. 100).

  • Als Beispiele für Informationen, die zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren erforderlich sein können, führt die Kommission u.a. den Austausch technischer Informationen (z.B. zur Zertifizierung, Unterhaltung oder Reparatur der Vertragswaren), logistischer Informationen (z.B. zu Produktionsprozessen, Lagerhaltung etc.), von Informationen zur Vermarktung (z.B. zu Werbekampagnen, neuen Produkten etc.) oder aggregierter Absatzinformationen (z.B. allgemein zum Absatz der Waren durch andere Händler) an.
  • Als Informationen, deren Austausch als im Regelfall nicht erforderlich angesehen wird, qualifiziert die Kommission hingegen den Austausch von Informationen zu künftigen Absatzpreisen der Händler oder des Herstellers oder den Austausch detaillierter Kundeninformationen (z.B. kundenspezifische Absatzinformationen).

Inwieweit die Kommission zu der Bewertung gelangt, dass die ausgetauschten Informationen direkt mit der vertikalen Vereinbarung zusammenhängen, richtet sich auch nach dem konkreten Vertriebsmodell. So sind dies im Rahmen des Alleinvertriebs oder eines selektiven Vertriebs- oder Franchisesystems ggf. andere Informationen als im freien Vertrieb (z.B. Informationen zur Einhaltung der Selektionskriterien im Rahmen des selektiven Vertriebs; Vertikal-LL, Rn. 98).

Sofern Informationen ausgetauscht werden, deren Austausch nach diesen Vorgaben nicht erforderlich ist, folgt hieraus allerdings nicht unmittelbar ein Verstoß gegen das Kartellrecht. Bei einem nicht freigestellten Informationsaustausch muss vielmehr eine Einzelfallbewertung der wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen erfolgen. Zudem profitiert die Vereinbarung im Übrigen weiterhin von der Freistellung, sofern die Freistellungsvoraussetzungen erfüllt sind.

Um eine kartellrechtskonforme Ausgestaltung des dualen Vertriebs mit Blick auf den Informationsaustausch sicherzustellen, verbleibt zudem immer noch die Möglichkeit, geschäftlich unabdingbare Informationsflüsse durch organisatorische Maßnahmen wie räumliche und personelle Trennungen sowie die Nutzung separater IT-Systeme (Firewalls) abzusichern (Vertikal-LL, Rn. 103).

Mehrstufiger Vertrieb

Wichtige Neuerungen ergeben sich auch beim mehrstufigen, dualen Vertrieb. So ist die Vertikal-GVO unabhängig davon anwendbar, auf welcher Stufe es zum dualen Vertrieb kommt (Hersteller, Importeur oder Großhändler), solange der Abnehmer, der als Importeur, Großhändler oder Einzelhändler auf der nachgelagerten Stufe agiert, nicht auch Wettbewerber auf der vorgelagerten Stufe ist (Art. 2 Abs. 4 lit. a Vertikal-GVO; Vertikal-LL, Rn. 94). Auch wenn damit in mehrstufigen Vertriebssystem nicht freistellungsfähige Konstellationen verbleiben (z.B., wenn ein Hersteller zugleich auch auf der Großhandelsstufe aktiv ist und der Abnehmer sowohl Groß- als auch Einzelhandelsfunktionen ausübt), ist diese Ausweitung des Anwendungsbereichs grundsätzlich zu begrüßen, zumal die Differenzierung der verschiedenen Vertriebsstufen in der Praxis häufig nicht treffsicher durchzuführen ist.

Hybride Online-Plattformen

Mit Blick auf den Internetvertrieb sieht die Vertikal-GVO schließlich eine Sonderregel für sog. hybride Online-Plattformen vor. Darunter sind Plattformen zu verstehen, auf denen der Betreiber im Wettbewerb mit den Nutzern seiner Vermittlungsdienste Waren/Dienstleistungen verkauft (wie z.B. Amazon Marktplatz).

Art. 2 Abs. 6 Vertikal-GVO legt fest, dass Vereinbarungen mit hybriden Online-Vermittlungsdiensten im Rahmen dualer Vertriebssysteme unabhängig von ihren Marktanteilen nicht gruppenfreistellungsfähig sind. Praktisch bedeutet dies, dass Betreiber hybrider Online-Vermittlungsdienste – sofern eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt – nur bei Erfüllung der Kriterien für eine Einzelfreistellung rechtssicher in ein duales Vertriebssystem einbezogen werden können (dazu Vertikal-LL, Rn. 104 ff.).

Die Reaktionen auf den Ausschluss hybrider Plattformen von der Gruppenfreistellung, der bereits in den Entwürfen vorgesehen war, fielen gemischt aus. Während der Ausschluss bei vielen nationalen Wettbewerbsbehörden, u.a. beim Bundeskartellamt, Unterstützung fand, wurde die Pauschalität des Ausschlusses und die damit einhergehenden Unsicherheiten bei der Einbeziehung hybrider Online-Vermittlungsdienste teilweise scharf kritisiert. In Antwort darauf betont die Kommission, hybride Plattformen seien für den Fall, dass diese nicht über Marktmacht verfügen und keine Kernbeschränkung enthalten, keine Durchsetzungspriorität (Vertikal-LL, Rn. 109). Inwieweit dies jedoch auch für nationale Behörden gilt, die wie z.B. das Bundeskartellamt hybriden Plattformen bereits bislang skeptisch gegenüberstanden, bleibt abzuwarten. Der Verweis auf die Durchsetzungsprioritäten hilft zudem auch nicht mit Blick auf die Anwendung des Kartellrechts vor nationalen Gerichten. Schließlich kann sich die Bestimmung des Vorliegens von Marktmacht in Abhängigkeit vom konkreten Geschäftsmodell der Plattform schwierig gestalten (dazu auch Vertikal-LL, Rn. 108).

II. Handelsvertreter

Für die in der Praxis bedeutsamen Handelsvertreterverträge enthalten die neuen Vertikal-LL wichtige Klarstellungen (Vertikal-LL, Rn. 29 ff.).

Echte Handelsvertreter zeichnen sich dadurch aus, dass sie beim Vertrieb der Produkte für ihren Prinzipal – im Gegensatz zu unechten Handelsvertretern oder eigenständigen Händlern – keine oder nur unbedeutende unternehmerische Risiken tragen. In der Folge sind sie der Organisation des Prinzipals zuzurechnen und nicht als eigenständige Marktteilnehmer anzusehen. Das Kartellverbot findet daher zwischen Prinzipal und Handelsvertreter mit Blick auf den Vertrieb der Produkte des Prinzipals keine Anwendung, womit z.B. Preisvorgaben des Prinzipals gegenüber dem echten Handelsvertreter, anders als gegenüber Vertriebshändlern, zulässig sind (sog. Handelsvertreterprivileg).

Wenngleich die Grundsätze des Handelsvertreterprivilegs anerkannt sind, birgt die rechtskonforme Ausgestaltung echter Handelsvertretersysteme erhebliche praktische Herausforderungen. Dabei bereiten insbesondere die Organisation und die Verteilung der betrieblichen Risiken in Randbereichen Schwierigkeiten. In den neuen Vertikal-LL nimmt die Kommission zu einigen praktisch bedeutsamen Problembereichen Stellung und bietet so gewisse Hilfestellungen für die Praxis:

  • Zunächst stellt die Kommission klar, dass ein zwischenzeitlicher Eigentumserwerb an den verkauften Waren durch den Handelsvertreter der Einordnung als echter Handelsvertreter und damit der Anwendbarkeit des Handelsvertreterprivilegs nicht entgegensteht (Vertikal-LL, Rn. 33 (a)).
  • Praktisch bedeutsam ist auch, dass die Kommission nunmehr verschiedene Ansätze zum Ausgleich etwaiger finanzieller Risiken bzw. Kosten beim Handelsvertreter erläutert und anerkennt. Danach soll es z.B. zukünftig möglich sein, etwaige Kosten des echten Handelsvertreters über prozentuale Pauschalsätze zu entgelten, sofern diese Pauschalsätze so angesetzt sind, dass sie die zu erwartenden produkt- und vertragsspezifischen Kosten des Handelsvertreters abdecken und im Falle höherer Kosten ggf. angepasst werden können (Vertikal-LL, Rn. 35).
  • Zusätzlich stellt die Kommission erfreulicherweise klar, dass auch sog. Handelsvertreter mit Doppelprägung zulässig sind. Von einer Doppelprägung spricht man, wenn der Handelsvertreter für ein- und denselben Hersteller zugleich als eigenständiger Händler und echter Handelsvertreter tätig wird. Voraussetzung ist nach Auffassung der Kommission, dass die in der jeweiligen Funktion vertriebenen Produkte hinreichend klar voneinander abgegrenzt werden können. Unproblematisch ist dies in Fällen, in denen die als Vertriebshändler bzw. als Handelsvertreter vertriebenen Produkte offensichtlich unterschiedlichen Märkten angehören. Bei der (möglichen) Zugehörigkeit zu einem einheitlichen Markt muss jedoch genau geprüft werden, ob die in der jeweiligen Rolle vertriebenen Produkte objektiv (hinreichend) unterscheidbar sind, z.B. aufgrund ihrer technischen oder qualitativen Eigenschaften oder ihrer Funktionalität. Sofern eine hinreichende Abgrenzbarkeit bejaht wird, muss zudem sichergestellt werden, dass der Abnehmer in seiner Funktion als Handelsvertreter – trotz der Doppelprägung – kein relevantes unternehmerisches Risiko trägt. Die insoweit von der Kommission vorgesehene Risikoabgrenzung und Kostentragung sind allerdings sehr komplex geraten (Vertikal-LL, Rn. 36 ff.). Es wird sich zeigen müssen, ob das Konzept praktisch handhabbar ist und es in der Praxis überhaupt Fallgestaltungen gibt, in denen es sich in wirtschaftlich tragfähiger Weise umsetzen lässt.

Die Ergänzungen der Kommission sind grundsätzlich zu begrüßen. Sie bieten eine bessere Orientierung und Sicherheit und eröffnen neue Gestaltungsoptionen, insbesondere beim Handelsvertreter mit Doppelprägung. Ungeachtet dieser grundsätzlich positiven Bewertung gilt jedoch auch zukünftig, dass die kartellrechtskonforme Ausgestaltung von Handelsvertretersystemen eine Herausforderung darstellt: Fehler führen in Anbetracht der gegenüber dem Handelsvertreter typischen Preisbindungen, die bei regulären Händlern als Kernbeschränkungen verboten sind, unmittelbar in einen bußgeldrelevanten Bereich. Unternehmen, die ein Handelsvertretersystem betreiben oder ein solches aufsetzen wollen, sollten die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben daher sorgfältig prüfen, wobei nach erster Einschätzung insbesondere die neuen Spielräume beim Einsatz von Handelsvertretern mit Doppelprägung mit Vorsicht zu genießen sind.

III. Online-Vertrieb

Aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Online-Handels, insbesondere der sog. Plattformwirtschaft (z.B. der Amazon Marktplatz), hat sich die Kommission veranlasst gesehen, diesen Bereich in der neuen Vertikal-GVO und den neuen Vertikal-LL unter Einbeziehung der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung umfassender zu adressieren.

Dabei folgt die Kommission bei ihrer Bewertung etwaiger Vorgaben für den Online-Vertrieb dem übergeordneten Grundsatz, dass es dem Hersteller – unabhängig vom gewählten Vertriebssystem – zwar gestattet ist, die Modalitäten des Online-Vertriebs seiner Produkte festzulegen, der Internetvertrieb als solcher aber dadurch nicht, auch nicht de facto, verhindert oder erheblich eingeschränkt werden darf (Vertikal-LL, Rn. 206 ff., vgl. nunmehr auch Art. 4 lit. e Vertikal-GVO).

Praktische Bedeutung erlangt der skizzierte Grundsatz insbesondere bei den folgenden Themenbereichen:

Doppelpreissysteme

Eine Konstellation, die die Kommission in den neuen Vertikal-LL großzügiger beurteilt, sind sog. Doppelpreissysteme, bei denen Hersteller die ihren Händlern gewährten Großhandelskonditionen vom Absatzweg (offline/online) abhängig machen (z.B. unterschiedliche Preise, Differenzierung bei der Rabattgewährung oder bei Zuschüssen etc.).

Doppelpreissysteme wurden wegen der darin liegenden Benachteiligung des Online-Vertriebs bisher grundsätzlich als unzulässige Kernbeschränkungen angesehen. Zulässig sollten – jenseits der theoretisch denkbaren Einzelfreistellung – lediglich sog. Fixkostenzuschüsse sein, mit denen etwaige höhere Kosten des stationären Vertriebs ausgeglichen wurden.

Zukünftig verfolgt die Kommission einen deutlich großzügigeren Ansatz, wonach Doppelpreissysteme von einer Freistellung nach der Vertikal-GVO profitieren können. Entscheidend ist, dass die gewählte Differenzierung – in Ansehung bestehender Kostenunterschiede der unterschiedlichen Vertriebskanäle – darauf abzielt, Anreize für angemessene Investitionen in Online- bzw. Offline-Vertrieb zu schaffen bzw. diese entlohnt (z.B. Ausstattung des Verkaufsraums, Schulung des Personals etc.). Wie bisher soll jedoch eine verbotene Kernbeschränkung vorliegen, wenn die Differenzierung in der Sache darauf abzielt, den Online-Vertrieb zu verhindern (Vertikal-LL, Rn. 209).

Der in den neuen Leitlinien niedergelegte Bewertungsansatz ist zu begrüßen, trägt er doch den praktischen Bedürfnissen nach einer Flexibilisierung der Vertriebsgestaltung Rechnung. Wie weit diese Flexibilisierung geht, wird sich jedoch in der Praxis zeigen müssen. Wo verläuft die Trennlinie zwischen noch zulässiger (beabsichtigter) Förderung des stationären Vertriebs und unzulässiger Verdrängung des Online-Vertriebs, die als Kernbeschränkung einzuordnen wäre? Wie konkret müssen unterschiedliche Kosten der Vertriebskanäle, die ausgeglichen werden sollen, belegt werden? Es bleibt abzuwarten, wie sich die Kommissionspraxis hier entwickelt.

Aus deutscher Perspektive wird zudem interessant sein, wie sich das Bundeskartellamt positionieren wird, das bei Doppelpreissystemen bisher traditionell einen strengen Ansatz verfolgte. Angesichts der (vorerst) bestehenden Unsicherheiten, sollten Hersteller von einer Konditionenspaltung daher nur vorsichtig Gebrauch machen. Eine Differenzierung der Großhandelskonditionen für den Online- und Offline-Vertrieb sollte in jedem Fall an den unterschiedlichen Kostenstrukturen orientiert sein und sorgfältig auf ihre tatsächlichen Wirkungen überprüft werden, um dem möglichen Vorwurf eines unzulässigen Ausschlusses des Online-Vertriebs zu begegnen.

Äquivalenzprinzip

Für den selektiven Vertrieb praktisch relevant ist zudem die Streichung des sog. Äquivalenzprinzips, wonach – jenseits etwaiger Doppelpreissysteme – qualitative Selektionskriterien für den Online- und Offline-Vertrieb bisher im Grundsatz gleichwertig sein mussten. Durch die Streichung erkennt die Kommission an, dass es sich bei Online- und Offline-Vertrieb um zwei grundsätzlich unterschiedliche Vertriebswege handelt, an die auch unterschiedliche Anforderungen gestellt werden können (z.B. Vorgaben zur Übernahme von Rücksendungskosten oder zum Angebot bestimmter (sicherer) Bezahloptionen im Online-Handel). Ungeachtet dessen ist allerdings zu berücksichtigen, dass die gewählten Selektionskriterien für den Online-Vertrieb auch zukünftig nicht zu einem (faktischen) Ausschluss desselben führen dürfen (Vertikal-LL, Rn. 235).

Die Streichung des Äquivalenzprinzips ist zu begrüßen, wenngleich sich auch hier in der Praxis die Frage stellen wird, wann eine zulässige Differenzierung zwischen Online- und Offline-Vertrieb in eine unzulässige Beschränkung des Internetvertriebs umschlägt. Dem vielfach geäußerten Wunsch nach einer Aufnahme von Orientierungshilfen in die Vertikal-LL ist die Kommission leider nicht nachgekommen, sodass Unternehmen, die von den neu gewonnenen Freiheiten Gebrauch machen wollen, mit erheblichen Rechtsunsicherheiten konfrontiert sind.

Paritätsklauseln

Eine praktisch ebenso bedeutsame Klarstellung findet sich nunmehr in Art. 5 Abs. 1 lit. d Vertikal-GVO, wonach sog. weite Paritätsklauseln von Online-Vermittlungsdiensten künftig von der Gruppenfreistellung ausgenommen sein sollen. Im Rahmen der betroffenen weiten (Einzelhandels-)Paritätsklauseln verbieten Betreiber von Online-Plattformen ihren Nutzern, die über die Plattform angebotenen Produkte/Dienstleistungen bei konkurrierenden Online-Vermittlungsdiensten zu günstigeren Konditionen anzubieten. Nachdem derartige Klauseln u.a. vom Bundeskartellamt bei Hotelbuchungsportalen bereits als wettbewerbsschädlich eingestuft worden waren, nimmt auch die Kommission sie zukünftig vollständig vom Anwendungsbereich der Vertikal-GVO aus (Vertikal-LL, Rn. 360 ff.).

Umgekehrt stellt die Kommission klar, dass sog. enge (Einzelhandels-)Paritätsklauseln, die das Angebot günstigerer Konditionen auf einem eigenen Online-Kanal des Abnehmers (eigene Website) oder offline ausschließen, von der Freistellung durch die Vertikal-GVO gedeckt sind, sofern die 30%-Marktanteilsschwelle nicht überschritten wird. Gleiches gilt für weite und enge Paritätsklauseln, die nicht von einem Online-Vermittlungsdienst verwendet werden (Vertikal-LL, Rn. 359).

Mit Blick auf eine mögliche Einzelfreistellung außerhalb des Anwendungsbereichs der Vertikal-GVO zeigt die Kommission zudem ein differenziertes Bewertungssystem auf, was zukünftig eine größere Sicherheit bei der Bewertung von Paritätsklauseln im Allgemeinen bieten dürfte (Vertikal-LL, Rn. 372 ff.). Für Deutschland ist allerdings ergänzend die eher strenge Entscheidungspraxis des Bundesgerichtshofs und des Bundeskartellamts zu berücksichtigen, sodass eine Einzelfreistellung von Paritätsklauseln voraussichtlich auch weiterhin auf hohe Hürden treffen wird.

Plattformverbote

Erfreulich klar positioniert sich die Kommission auch bei den bisher sehr kontrovers diskutierten Plattformverboten, wonach Hersteller ihren Händlern einen Verkauf über Plattformen wie den Amazon Marktplatz verbieten oder nur unter bestimmten Bedingungen erlauben. Nach Auffassung der Kommission sind sowohl pauschale als auch bedingte Plattformverbote künftig möglich, und zwar unabhängig vom betroffenen Produkt oder Vertriebssystem. Es handelt sich bei Plattformverboten nach Ansicht der Kommission grundsätzlich nicht um eine unzulässige Beschränkung der effektiven Nutzung des Internets als Vertriebskanal, sondern lediglich um eine Ausgestaltung der Modalitäten des Internetvertriebs (Vertikal-LL, Rn. 208(c), 332 ff.). Dem Händler verbleibt weiterhin die Möglichkeit z.B. über eine eigene Internetpräsenz zu verkaufen (und diese zu bewerben).

Interessant wird auch hier sein, wie sich das Bundeskartellamt, das bisher einen deutlich strikteren Ansatz vertrat, positionieren wird. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Bundeskartellamt – in Teilen – bei seiner strengeren Linie bleibt und versucht, dies mit den Besonderheiten des Onlinevertriebs in Deutschland zu rechtfertigen.

Online-Werbung (insbesondere Preisvergleichsdienste)

Von praktisch großer Bedeutung sind auch die Ausführungen der Kommission zur Online-Werbung, die die Kommission als wesentlichen Bestandteil eines effektiven Internetvertriebs ansieht.

Beschränkungen der Online-Werbung von Händlern sind vor diesem Hintergrund daher nur freigestellt, wenn hiermit nicht die effektive Nutzung des Internets als Vertriebskanal verhindert wird. Entsprechend sieht die Kommission das (faktische) Verbot, bestimmte (wichtige) Werbekanäle zu nutzen (z.B. Ausschluss von Suchmaschinenwerbung oder das Verbot, Marken oder Warenzeichen zur Werbung im Internet zu nutzen), als unzulässige Kernbeschränkung an. Möglich bleiben allerdings qualitative Vorgaben zur Online-Werbung in den jeweiligen Kanälen (Vertikal-LL, Rn. 206(g), 210).

Praktisch bedeutsam sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen der Kommission zu sog. Preisvergleichsdiensten (z.B. idealo). Angesichts der Bedeutung solcher Seiten, insbesondere für kleinere Händler, die ihre Produkte über ihre eigene Website verkaufen, sieht die Kommission in einem Totalverbot – auch im Rahmen selektiver Vertriebssysteme – eine nicht freistellungsfähige Beschränkung des passiven Verkaufs. Entsprechende Verbote seien geeignet, den Internetvertrieb maßgeblich zu erschweren. Im Einklang mit ihren allgemeinen Ausführungen zur Online-Werbung hält die Kommission es allerdings für zulässig, wenn Hersteller qualitativ begründete Anforderungen an die Nutzung von Preisvergleichsdiensten stellen (Vertikal-LL, Rn. 206(g), 343 ff.).

Hersteller, die Vorgaben zur Nutzung von Preisvergleichsseiten bzw. allgemein zur Werbung im Internet machen, werden genau prüfen müssen, ob ihre Vorgaben sich noch im Bereich der Qualitätssicherung bewegen. Entscheidend wird dabei insbesondere sein, ob sie geeignet sind, die Möglichkeit der Händler für Werbung im Internet übermäßig einzuschränken und daher ggf. als unzulässige Kernbeschränkung eingestuft werden könnten (z.B., weil die Qualitätsanforderungen so gestaltet sind, dass wesentliche Online-Werbedienste unabhängig vom Bemühen des Händlers nicht genutzt werden können).

Online-Vermittlungsdienste

Schließlich bringen die Entwürfe der Vertikal-LL bzw. der Vertikal-GVO bedeutsame Veränderungen bei der kartellrechtlichen Bewertung des Vertriebs über Online-Vermittlungsdienste (Art. 1 Abs. 1 lit. e Vertikal-GVO).

Praktisch relevant ist, dass die Kommission Online-Vermittlungsdienste nunmehr wohl auch mit Blick auf die Verkäufe über die Plattform (und nicht nur mit Blick auf die Vermittlungsleistungen) als "Anbieter" einordnet (Art. 1 Abs. 1 lit. d Vertikal-GVO, Vertikal-LL, Rn. 67). Ziel dieser Definition ist es, Verhaltensspielräume von Online-Vermittlungsdiensten gegenüber ihren Nutzern im Vergleich zum status quo stärker zu kontrollieren. Das hat Folgen insbesondere bei der Bewertung von Preisbindungen. Unter der bisherigen Vertikal-GVO waren Vorgaben des Betreibers einer Online-Plattform zur Preissetzung der Verkäufer auf dieser Online-Plattform bei Marktanteilen von nicht mehr als 30% vom Kartellverbot freigestellt. Die nunmehr erfolgte Einordnung der Plattformbetreiber als "Anbieter", hat zur Folge, dass Fest- oder Mindestpreisvorgaben gegenüber den über die Plattform ihre Produkte oder Dienstleistungen anbietenden Verkäufern als unzulässige Preisbindung der zweiten Hand zu qualifizieren sind (Vertikal-LL, Rn. 67).

Schließlich ist die Kommission der Auffassung, dass Online-Vermittlungsdienste grundsätzlich nicht als echte Handelsvertreter der Verkäufer angesehen werden können. Etwaige Regelungen im Verhältnis Plattform/Verkäufer sind daher am Kartellverbot zu messen und müssen bei Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung die Voraussetzungen der Vertikal-GVO erfüllen (Vertikal-LL, Rn. 46).

Trotz der erheblichen Kritik, die bereits in der Entwurfsphase an der allgemeinen Kategorisierung von Plattformen als Anbieter und der Argumentation zum Handelsvertreterprivileg laut wurde, ist die Kommission bei ihrem Ansatz geblieben. Betreiber und Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten sollten daher ihre bisherige Praxis unter kartellrechtlichen Aspekten auf den Prüfstand stellen.

IV. PREISBINDUNGEN DER ZWEITEN HAND

Preisbindungen der zweiten Hand werden wie bisher – unabhängig vom gewählten Vertriebssystem – als unzulässige Kernbeschränkungen eingeordnet. Abgesehen von unverbindlichen Preisempfehlungen und Höchstpreisen ist eine Einflussnahme des Herstellers auf die Preissetzungshoheit der Händler auch zukünftig unzulässig, wobei die Kommission aber praktisch relevante Feinjustierungen vorgenommen hat.

Fulfillment Contracts

Von Unsicherheiten geprägt war bisher die Preissetzung im Rahmen sog. Fulfillment Contracts, wonach ein (Zwischen-)Händler einen bereits zwischen einem Anbieter und einem Kunden verhandelten Vertrag zu vorgegebenen Konditionen (z.B. zu fest vereinbarten Sonderpreisen) ausführt. Auch bislang sprachen bereits sehr gute Argumente dagegen, die in solchen Situationen anzutreffende Vorgabe an den (Zwischen-)Händler, zu den bereits verhandelten Konditionen zu liefern, als Preisbindung der zweiten Hand einzuordnen. Dennoch ist die jetzt vorgenommene Konkretisierung durch die Kommission willkommen. Diese stellt nunmehr klar, dass eine Preisbindung der zweiten Hand in der beschriebenen Konstellation jedenfalls dann nicht vorliegt, wenn der Anbieter (und nicht der Kunde) die Auswahl des erfüllenden Unternehmens übernimmt (Vertikal-LL, Rn. 193).

Minimum Advertised Prices

Eine interessante Kehrtwende hat die Kommission bei sog. Minimum Advertised Prices (MAP) vollzogen. Mittels MAP untersagen Hersteller ihren Händlern, Preise unterhalb eines bestimmten Betrags zu bewerben. Dem Händler bleibt es in dieser Konstellation jedoch formal unbenommen, die Verkaufspreise frei zu setzen. Unter der bisher geltenden Vertikal-GVO wurden MAP aufgrund ihrer Nähe zu Mindestpreisen gleichwohl regelmäßig als unzulässige Preisbindung der zweiten Hand angesehen.

Im Entwurf der Vertikal-LL hatte die Kommission noch überraschend ausgeführt, MAP könnten grundsätzlich zulässig sein, sofern sie im Einzelfall nicht faktisch auf eine Preisbindung der zweiten Hand hinauslaufen. Diese – u.a. vom Bundeskartellamt sowie von Verbraucherverbänden stark kritisierte – "Liberalisierung" hat die Kommission in der finalen Fassung der Vertikal-LL ausdrücklich zurückgenommen. Nunmehr heißt es in Rn. 187(d) und 189 der Vertikal-LL, dass MAP als Preisbindung der zweiten Hand angesehen werden und damit unzulässig sind. Von ihrer Verwendung ist daher dringend abzuraten.

V. ALLEINVERTRIEB, SELEKTIVER VERTRIEB UND FREIER VERTRIEB

Auch beim Alleinvertrieb, selektiven Vertrieb und freien Vertrieb finden sich praktisch relevante Neuerungen in der neuen Vertikal-GVO bzw. den Vertikal-LL:

Allgemeine Änderungen

Zunächst erweitert die Kommission die Möglichkeiten zur Kombination der unterschiedlichen Vertriebssysteme. Ausdrücklich zulässig soll zukünftig – anders als nach der bisherigen Rechtslage – die Kombination von Allein- und Selektivvertrieb sowie freiem Vertrieb in unterschiedlichen Gebieten sein:

  • Gebiete, in denen ein Alleinvertrieb vorgesehen ist, können gegen aktive Lieferungen aus Gebieten mit einem selektiven oder freien Vertrieb geschützt werden (Art. 4 lit. c) (i) Nr. 1, lit. d) (i) Vertikal-GVO).
  • Gebiete, in denen ein selektiver Vertrieb vorgesehen ist, können gegen aktive und passive Lieferungen aus anderen Vertriebsgebieten an nicht-zugelassene Händler geschützt werden (Art. 4 lit. b) (ii), lit. d) (ii) Vertikal-GVO).

Eine Kombination von Alleinvertrieb und selektivem Vertrieb in ein und demselben Gebiet (z.B. Alleinvertriebsgroßhändler, ausgewählte Einzelhändler) unterfällt weiterhin nicht der Freistellung (Vertikal-LL, Rn. 236).

Erweiterte Möglichkeiten soll es zukünftig auch in mehrstufigen Vertriebsstrukturen geben. Während nach der bisherigen Rechtslage die Verpflichtung der Großhändler zur Weitergabe von Verkaufsbeschränkungen an ihre Abnehmer (= Einzelhändler) unzulässig war, erachtet die Kommission diesen Ansatz nun als zu restriktiv. Nach der neuen Vertikal-GVO besteht die Möglichkeit, Verkaufsbeschränkungen an Unternehmen auf der nachgelagerten Marktstufe zum Schutz von Allein- und selektivem Vertrieb weiterzugeben (Art. 4 lit. b) (i, ii), lit. c (i) Nr. 1 und 2, lit. d (i, ii) Vertikal-GVO.

  • Anbieter dürfen ihre Händler im Rahmen der Beschränkungen nach Art. 4 lit. b (i), lit. c (i) Nr. 1, lit. d (i) Vertikal-GVO (Verbot des aktiven Verkaufs in exklusive Gebiete/an exklusive Kunden) verpflichten, die Beschränkung an "Direktkunden" weiterzugeben. Der Anbieter darf jedoch nicht verlangen, dass sie die Beschränkungen des aktiven Verkaufs an Kunden weitergeben, die in der Vertriebskette weiter unten stehen (Vertikal-LL, Rn. 220, 229).
  • Bei Beschränkungen des aktiven und passiven Verkaufs in Gebiete, in denen der Anbieter ein selektives Vertriebssystem betreibt, darf der Lieferant von den Abnehmern dagegen verlangen, die gleichen Beschränkungen ihren direkten wie indirekten "Kunden" aufzuerlegen, um den geschlossenen Charakter des selektiver Vertriebssystems zu schützen (Art. 4 lit. b (ii), lit. c (i) Nr. 2, lit. d (ii) Vertikal-GVO; Vertikal-LL, Rn. 223, 230, 241).

Die vorgesehenen, erweiterten Möglichkeiten zur Ausgestaltung verschiedener (mehrstufiger) Vertriebssysteme sind insgesamt sinnvoll und wurden bereits in der Konsultation zur Entwurfsfassung überwiegend positiv aufgenommen. Gleichwohl sind sie in der Umsetzung komplex. Unternehmen, die von den neu gewonnenen Freiheiten Gebrauch machen wollen, werden um eine detaillierte Prüfung daher nicht umhinkommen.

Alleinvertrieb

Beim Alleinvertrieb soll künftig – anders als nach der bisher geltenden Rechtslage – ein sog. geteilter Alleinvertrieb bzw. Gruppen-Alleinvertrieb zulässig sein. Dies bedeutet, dass eine Kundengruppe oder ein Gebiet mehreren Händlern zugleich exklusiv zugewiesen werden kann. Voraussetzung ist lediglich, dass die Anzahl der pro Gebiet oder Kundengruppe ernannten Händler fünf nicht überschreitet (Art. 4 lit. b) (i), lit. c (i), lit. d (i) Vertikal-GVO, Vertikal-LL, Rn. 121). Damit hat die Kommission auf die Forderung nach einer eindeutigen Festlegung der noch zulässigen Anzahl von Händlern reagiert. Denn in der Entwurfsversion galt die Möglichkeit eines geteilten Alleinvertriebs nur mit der Einschränkung, dass die Anzahl der zugelassenen Händler in einem angemessenen Verhältnis zum gewünschten Investitionsverhalten stehen müsse, um sicherzustellen, dass auf jeden Händler ein ausreichendes Geschäftsvolumen entfällt. Angaben dazu, wie diese begrenzte Zahl von Abnehmern ermittelt werden sollte, waren weder dem Entwurf der Vertikal-GVO noch der Vertikal-LL zu entnehmen.

Die Erweiterung der Möglichkeiten zum Alleinvertrieb ist zu begrüßen, erlaubt sie doch der Praxis ein gewisses Maß an Flexibilität bei der (vorübergehenden) Einbindung zusätzlicher Händler, die bislang die Freistellungsfähigkeit des gesamten Alleinvertriebssystems gefährdete. Es ist erfreulich, dass die Kommission mit der Reform anerkennt, dass die typische Gefahr des Alleinvertriebs, den markeninternen Wettbewerb zu schwächen, im Szenario des geteilten Alleinvertriebs geringer ist, als wenn lediglich ein Alleinvertriebshändler das betreffende Gebiet/die betreffende Kundengruppe bearbeitet. Vor allem zu begrüßen ist, dass die Kommission in der finalen Fassung eine quantitative Begrenzung der zulässigen Anzahl der Alleinvertriebshändler aufgenommen hat. Diese schafft nicht nur mehr Rechtssicherheit für die Unternehmen, sondern ist auch der Höhe nach so gewählt, dass einerseits die Investitionsanreize für die Händler aufrechterhalten werden, andererseits dem Anbieter hinreichende Flexibilität für die Organisation seines Vertriebssystems zugestanden wird.

Selektiver Vertrieb

Zur Streichung des Äquivalenzprinzips siehe oben unter III.

VI. WETTBEWERBSVERBOTE (EVERGREEN-KLAUSELN)

Aus Praxissicht zu begrüßen ist schließlich die Flexibilisierung bei der Gestaltung von Wettbewerbsverboten (Art. 5 Abs. 1 lit. a Vertikal-GVO). Bisher konnten Wettbewerbsverbote nur wirksam vereinbart werden, wenn ihre Laufzeit auf maximal fünf Jahre befristet war. Wettbewerbsverbote, die sich nach fünf Jahren automatisch verlängerten, waren auch dann unwirksam, wenn dem Abnehmer ein Kündigungsrecht zustand. In der Praxis führte dies dazu, dass entweder der gesamte Vertrag oder das Wettbewerbsverbot auf fünf Jahre befristet werden musste.

Diese Notwendigkeit zur Befristung wird nunmehr abgemildert. Nach Auffassung der Kommission soll eine automatische Verlängerung des Wettbewerbsverbots nach fünf Jahren zukünftig zulässig sein, sofern dem Abnehmer die Möglichkeit eröffnet wird, das Wettbewerbsverbot nach Ablauf der fünf Jahre effektiv, d.h. innerhalb angemessener Fristen und zu angemessenen Kosten, neu zu verhandeln oder zu kündigen. Für die "Effektivität" des Kündigungs- oder Verhandlungsrechts soll eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung maßgeblich sein, die vor allem etwaige Beendigungshindernisse (z.B. Bindung an Darlehen) berücksichtigt (Vertikal-LL, Rn. 248).

VII. FAZIT

Die Analyse zeigt, dass sich die Kommission nicht auf eine Feinjustierung einzelner Aspekte beschränkt, sondern sich bemüht hat, praktisch relevante Änderungen anzustoßen und erkannte Defizite in den bisherigen Vorschriften und Leitlinien abzustellen. Viele Ansätze der Kommission sind ausdrücklich zu begrüßen, wenngleich nicht alles gelingt und – vermeidbare – Unsicherheiten verbleiben. Aus Sicht der Praxis wird vor diesem Hintergrund insbesondere entscheidend sein, wie die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte, allen voran das Bundeskartellamt, die neuen Vorgaben auslegen und anwenden werden.

Sicher ist jedenfalls, dass die neue Vertikal-GVO sowie die Vertikal-LL die vertriebskartellrechtliche Praxis für die Dauer ihrer Geltung bis zum 31. Mai 2024, einem Zeitraum, der häufig als zu lang kritisiert wurde, maßgeblich prägen werden. Viele Unternehmen müssen in der Konsequenz ihre aktuellen Vertriebssysteme auf den Prüfstand stellen.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Neue Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Gekommen um zu bleiben!

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