Mandatspausen von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern – Gesellschaftsrechtliche Implikation der #stayonboard-Initiative

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Mandats­pausen von Vor­stands- und Auf­sichts­rats­mitgliedern – Gesell­schafts­rechtliche Imp­lika­tion der #stayonboard-Initiative

21. August 2020

Am 3. März 2020 informierte das börsennotierte e-Commerce-Unternehmen Westwing Group AG darüber, dass die Gründerin und Chief Creative Officer Delia Lachance von ihrem Amt als Vorstandsmitglied zum 1. März 2020 zurückgetreten sei, da sie für einen Zeitraum von sechs Monaten Mutterschutz und anschließend Elternzeit in Anspruch nehmen wolle und hierfür – wie erforderlich – ihr Vorstandsamt niedergelegt habe.

In der Folge entbrannte sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch der juristischen Fachöffentlichkeit eine Debatte darüber, ob es noch zeitgemäß sei, dass Vorstandsmitglieder ihr Vorstandsamt auch für den Fall einer nur vorübergehenden Nichtausübung, wie etwa bei einer Schwangerschaft, Elternzeit, längerfristigen Krankheit oder der Pflege naher Angehöriger, niederlegen müssen, um nicht auch für solche Maßnahmen und Entscheidungen zu haften, die während der eigenen Abwesenheit getroffen und umgesetzt werden.

Die Diskussion mündete nicht zuletzt in die Gründung der Initiative #stayonboard, in der sich namhafte Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Rechtswissenschaft zusammengeschlossen haben, um eine Gesetzesänderung anzustreben, die Geschäftsleitern die Möglichkeit einräumt, ihr Mandat/Amt für die Dauer von bis zu sechs Monaten ruhen zu lassen, ohne ein entsprechendes Haftungsrisiko fürchten zu müssen.

In diesem Beitrag soll die gesellschaftsrechtliche Implikation der #stayonboard-Initiative dargestellt und der Lösungsvorschlag der Initiative beleuchtet werden.

DERZEITIGE RECHTLICHE AUSGANGSLAGE | STATUS QUO

1. Geschäftsleiter

Sowohl das Aktiengesetz (AktG) als auch das GmbH-Gesetz (GmbHG) sehen bislang keine Möglichkeit vor, ein Geschäftsleiteramt haftungsbefreiend zu unterbrechen oder ruhen zu lassen. 

Ein Geschäftsleiter hat gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 AktG/§ 43 Abs. 1 und 2 GmbHG fortwährend die Pflicht, bei seiner Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Es besteht für Geschäftsleiter keine Möglichkeit, diese Pflicht auf andere Mitglieder der Geschäftsleitung mit haftungsbefreiender Wirkung zu übertragen. Nimmt ein Mitglied der Geschäftsleitung sein Amt, z.B. aufgrund einer Schwangerschaft oder einer Krankheit, nicht wahr und übernimmt ein anderes Vorstandsmitglied sein Ressort, so trifft das "pausierende" Mitglied gleichwohl weiterhin eine Überwachungspflicht im Hinblick auf die anderen Mitglieder der Geschäftsleitung. Im Falle eine Verletzung dieser Pflicht haftet das "pausierende" Mitglied der Geschäftsleitung der Gesellschaft gegenüber für Schäden aus § 93 Abs. 2 S. 1 AktG bzw. § 43 Abs. 2 GmbHG. Eine vollständige und haftungsbefreiende Delegation dieser Pflicht auf die anderen Mitglieder der Geschäftsleitung ist nicht möglich.

Will ein Vorstandsmitglied einer zivilrechtlichen Haftung aus § 93 Abs. 2 S. 1 AktG sowie ggf. auch einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, z.B. wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht, entgehen, so muss es daher de lege lata sein Amt zwingend niederlegen. Entsprechendes gilt gem. § 43 Abs. 2 GmbHG für den Geschäftsführer einer GmbH.

Überdies können sich sowohl die Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft als auch die Geschäftsführer einer GmbH nicht auf die Vorschriften des Mutterschutzgesetzes, die Vorschriften über die Elternzeit oder Pflegezeit berufen, um eventuell auf diesem Wege in den Genuss einer haftungsbefreienden Pause von ihrem Geschäftsleiteramt zu kommen. Denn diese gesetzlichen Regelungen finden ausschließlich auf Arbeitnehmer/innen Anwendung. Geschäftsleiter/innen sind jedoch gerade keine Arbeitnehmer/innen, da sie schließlich keinerlei Weisungen im Hinblick auf die Ausübung ihrer Tätigkeit unterliegen.

2. Mitglieder des Aufsichtsrats

Gleiches gilt auch für Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft. Auch für diese sieht das Aktiengesetz keine Möglichkeit einer haftungsbefreienden Mandatspause bzw. ein Ruhenlassen des Mandats vor. Denn auch sie können die ihnen gemäß § 111 Abs. 1 AktG obliegende Pflicht zur Überwachung der Geschäftsführung nicht delegieren. Dies folgt aus § 111 Abs. 6 AktG, wonach die Mitglieder des Aufsichtsrats zur persönlichen Wahrnehmung ihres Amtes verpflichtet sind. Üben sie daher während einer "Pause" ihr Amt und damit ihre Überwachungspflicht nicht aus, obwohl sie weiterhin als Mitglied des Aufsichtsrats bestellt sind, setzen sie sich dem Risiko einer Haftung nach § 116 AktG aus. Auch ein Aufsichtsratsmitglied kommt daher nach der derzeitigen Rechtslage nur dann in den Genuss einer Haftungsfreiheit, wenn es sein Mandat niederlegt.

Lösungsvorschläge der Initiative #stayonboard

Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage hat die Initiative #stayonboard ein Eckpunktepapier veröffentlicht, in dem sie sich für eine Novellierung des geltenden Aktienrechts einsetzt. Durch diese Novellierung soll für den/die Mandatsträger/innen die Möglichkeit geschaffen werden, sein/ihr Mandant für einen bestimmten Zeitraum ruhend zu stellen, ohne dabei eine Haftung zu fürchten. Entsprechende Regelungen sollen auch für die anderen Rechtsformen geschaffen werden, wie etwa die GmbH.

1. Vorstandsmitglieder

In Bezug auf Vorstandsmitglieder schlägt #stayonboard vor, dass die Regelung des § 84 AktG dahingehend geändert werden soll, dass Vorstandsmitglieder ein Recht auf ein vorübergehendes Ruhenlassen ihres Mandats erhalten. Dieses Recht soll an konkret festgelegte Umstände, wie z.B. eine längere Krankheit oder Umstände, die Arbeitnehmer/innen zu Mutterschutz, Elternzeit oder Pflegezeit berechtigten würden, gekoppelt sein. Ferner soll eine Höchstdauer für die Mandatspause von z.B. bis zu 6 Monaten festgelegt werden. Im Anschluss an die Mandatspause soll das Mandat automatisch wiederaufleben. Kündigt ein Vorstandsmitglied eine Mandatspause an oder befindet es sich in einer solchen, soll eine Abberufung nicht möglich sein, sofern kein verhaltensbedingter Grund für eine Abberufung aus wichtigem Grund vorliegt.

Damit auch die Interessen des Unternehmens Berücksichtigung finden, sieht das Eckpunktepapier der Initiative vor, dass es nicht nur eine Pflicht des Vorstandsmitglieds zur rechtzeitigen Ankündigung des Ruhenlassens geben soll, sondern auch Ausnahmetatbestände normiert werden, durch die sichergestellt werden soll, dass das Ruhenlassen nicht zur Unzeit verlangt werden kann oder wenn diesem gewichtige Gründe des Unternehmenswohls entgegenstehen.

Das Konzept von #stayonboard sieht darüber hinaus vor, dass sowohl die Tatsache des Ruhens des Mandates als auch dessen Zeitraum in das Handelsregister einzutragen sind. Dadurch soll den berechtigten Interessen der Öffentlichkeit Rechnung getragen und die erforderliche Transparenz hergestellt werden.

2. Aufsichtsratsmitglieder und Leitungsorgane anderer Rechtsformen

Im Hinblick auf Mitglieder der Leitungsorgane anderer Rechtsformen spricht sich die Initiative für vergleichbare Regelungen aus, um auch diesen eine Mandats- bzw. Amtspause zu ermöglichen. 

Hingegen spricht sich die Initiative mit Blick auf die Mitglieder von Aufsichtsräten nicht ausdrücklich für die Möglichkeit einer Mandatspause aus, erachtet eine solche aber auch hier als möglich. Diese differenzierte Betrachtung wird – nachvollziehbar – damit begründet, dass der Zeit- und Arbeitsaufwand der Wahrnehmung eines Aufsichtsratsmandats geringer sei als die eines Leitungsorgans und im Hinblick auf die Aufsichtsräte noch weitere Aspekte, wie etwa die Parität zwischen Arbeitnehmerseite und Eigentümern sowie bestehende Quotenregelungen beachtet werden müssen.

Fazit & Ausblick

Die in dem Eckpunktepapier durch die #stayonboard-Initiative vorgeschlagenen Änderungen des Aktiengesetzes sowie die angeregten Änderungen weiterer gesellschaftsrechtlicher Vorschriften sind grundsätzlich zu begrüßen. Insoweit stellt sich nämlich tatsächlich die berechtigte Frage, warum es nicht auch Geschäftsleitern möglich sein soll, in Elternzeit zu gehen oder eine längere Krankheit in Ruhe auszukurieren, ohne dabei entweder weiterhin einem Haftungsrisiko für die in dieser Zeit getroffenen Entscheidungen und umgesetzten Maßnahmen ausgesetzt zu sein oder stattdessen das Vorstandsmandat oder Geschäftsführeramt vollständig niederlegen zu müssen. Dieser Möglichkeit steht insbesondere auch nicht das Unternehmenswohl entgegen, wenn die Interessen des betroffenen Unternehmens durch eine angemessene Ankündigungsfrist oder Ausschlussgründe, bei deren Vorliegen ein Ruhenlassen des Mandats nicht möglich sein soll, gesetzlich normiert werden. 

Dass dem Unternehmensinteresse ein entsprechender Stellenwert eingeräumt wird bzw. das Ruhenlassen des Mandats bei entgegenstehenden Gründen des Unternehmenswohls nicht in Betracht kommt, ist auch von entscheidender Bedeutung, da Geschäftsleiter dazu verpflichtet sind, zum Wohle des Unternehmens zu handeln und sich bei Antritt ihres Mandats diesem bewusst verpflichtet haben.

Klar ist jedoch auch, dass während einer Mandatspause bzw. des Ruhenlassens durch entsprechende Vorkehrungen und technische Maßnahmen gewährleistet sein muss, dass der/die pausierende Geschäftsleiterin in dieser Zeit auch tatsächlich keinerlei Einfluss auf Entscheidungen der Gesellschaft nehmen und auch keinerlei Einblicke in die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft erhält bzw. nehmen kann. Andernfalls wäre eine Haftungsfreistellung nicht gerechtfertigt.

Für die Zeit nach den Sommerferien hat #stayonboard die Veröffentlichung eines eigenen Gesetzentwurfes angekündigt, der sicherlich auf entsprechendes Interesse der Öffentlichkeit stoßen wird. Abzuwarten bleibt, ob auch die Bundesregierung einen entsprechenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf erkennt und den "Ball" aufnimmt. Die ersten Reaktionen aus Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz stimmen insoweit jedoch positiv.

GLADE MICHEL WIRTZ wird Sie an dieser Stelle fortlaufend über die weitere Entwicklung sowie den jeweiligen Stand der Diskussion und eines etwaigen Gesetzgebungsprozesses informieren. Gerne stehen wir auch für einen Austausch zu diesem Thema jederzeit zur Verfügung.

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Fabian von Lübken

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Konkurrierende Kapitalanleger-Musterverfahren

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Konkurrierende Kapitalanleger-Musterverfahren

11. August 2020

In zwei kürzlich ergangenen Entscheidungen hat sich der Bundesgerichtshof mit Fragen von konkurrierenden Kapitalanleger-Musterverfahren und der Auslegung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) befasst. Zum einen entschied der zweite Senat mit Beschluss vom 16. Juni 2020, dass das beim Oberlandesgericht Braunschweig anhängige Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Volkswagen AG einem weiteren Kapitalanleger-Musterverfahren beim Oberlandesgericht Stuttgart gegen die Porsche Automobil Holding SE ("Porsche SE") nicht entgegen steht, ein solches vielmehr durchzuführen ist (Az. II ZB 10/19). Zum anderen entschied er in diesem Zusammenhang, dass ein derzeit nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ausgesetztes Berufungsverfahren gegen die Porsche SE fortzusetzen ist (Az. II ZB 30/19). 

AUSGANGSLAGE

Am 22. September 2015 veröffentlichte die Volkswagen AG eine Ad-hoc-Meldung, der zufolge nach bisherigen internen Prüfungen weltweit rund 11 Mio. Fahrzeuge mit Dieselmotoren des Typs EA 189 Auffälligkeiten bezüglich ihres Stickoxidausstoßes aufwiesen, weshalb sie beabsichtige, im dritten Quartal des laufenden Geschäftsjahres rund EUR 6,5 Mrd. ergebniswirksam zurückzustellen.

Die Porsche SE ist als Holdinggesellschaft mit rund 52 % der Stimmrechte an der Volkswagen AG beteiligt. Am 22. September 2015 informierte auch sie in einer Ad-hoc-Meldung über diese Umstände und wies darüber hinaus darauf hin, dass bei ihr infolge der Kapitalbeteiligung an der Volkswagen AG ein entsprechender ergebnisbelastender Effekt zu erwarten sei. In der Zeit ab Mitte September 2015 verloren die Aktienkurse der Stamm- und Vorzugsaktien der Volkswagen AG und der Porsche SE deutlich an Wert. 

Seit Frühjahr 2017 läuft in diesem Kontext vor dem Oberlandesgericht Braunschweig ein Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Volkswagen AG und die Porsche SE. Die Auftaktverhandlung fand am 10. September 2018 statt. In dem Verfahren soll geklärt werden, ob die Emittenten Anleger zu spät über Risiken im Zusammenhang mit Dieselabgasemissionen informiert haben. Die Volkswagen AG weist in ihrem Geschäftsbericht 2019 darauf hin, dass in diesem Zusammenhang Ansprüche in Höhe von ca. EUR 9,6 Mrd. rechtshängig sind und sie der Auffassung ist, ihre kapitalmarktrechtlichen Pflichten ordnungsgemäß erfüllt zu haben.

Die Porsche SE wurde darüber hinaus aufgrund ihres Sitzes in Stuttgart von mehreren Investoren am Landgericht Stuttgart auf Schadensersatz verklagt. In dem Zusammenhang erließ das Landgericht Stuttgart am 28. Februar 2017 einen Vorlagebeschluss zur Einleitung eines Kapitalanleger-Musterverfahrens vor dem Oberlandesgericht Stuttgart (Az. 22 AR 1/17 Kap, abrufbar im Klageregister des Bundesanzeigers). Das Oberlandesgericht Stuttgart stellte demgegenüber mit Beschluss vom 27. März 2019 fest, dass ein Musterverfahren wegen der Sperrwirkung des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Braunschweig nach § 7 KapMuG unzulässig sei. Die Bestimmung eines Musterklägers wurde abgelehnt.

Das Landgericht Stuttgart verurteilte die Porsche SE zwischenzeitlich zur Zahlung von Schadensersatz in Millionenhöhe. Auf die Berufungen der Klägerinnen und der Porsche SE hat das Berufungsgericht das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Kapitalanleger-Musterverfahren in Braunschweig und in Stuttgart ausgesetzt. Das Kapitalanleger-Musterverfahren in Braunschweig sei rechtlich und tatsächlich vorgreiflich, weil es im Kern um dieselbe Frage – wurden Anleger zu spät über die finanziellen Folgen der Auffälligkeiten bezüglich des Stickoxidausstoßes des EA 189 informiert? – gehe. Zudem sei das Verfahren auch im Hinblick auf das – für unzulässig erklärte und tatsächlich nicht eingeleitete – Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart auszusetzen.

KAPITALANLEGER-MUSTERVERFAHREN GEGEN DIE PORSCHE SE IN STUTTGART ZULÄSSIG

In dem ersten Beschluss in Sachen II ZB 10/19 beschäftigte sich der Bundesgerichtshof mit der Frage der Sperrwirkung des Kapitalanleger-Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Braunschweig für ein weiteres Musterverfahren in Stuttgart. Eine solche Sperrwirkung bestehe im Ergebnis nicht – ein weiteres Musterverfahren gegen die Porsche SE sei zulässig. 

Ein Kapitalanleger-Musterverfahren sei aus Sicht des Bundesgerichtshofs wegen der Sperrwirkung des Vorlagebeschlusses gemäß § 7 Satz 1 KapMuG lediglich ausgeschlossen, soweit die Entscheidung über die Feststellungsziele in einem bereits eingeleiteten Musterverfahren die Prozessgerichte in den Verfahren, die im Hinblick auf die Feststellungsziele des weiteren Musterverfahrens nach § 8 Abs. 1 KapMuG auszusetzen wären, binde. Bei Schadensersatzansprüchen, die auf das Unterlassen einer öffentlichen Kapitalmarktinformation (insbesondere das Unterlassen einer Ad-hoc-Veröffentlichung) gestützt würden, habe eine Entscheidung über die Feststellungsziele eines bereits eingeleiteten Musterverfahrens nur dann bindende Wirkung für andere Prozesse, wenn diese "dieselbe öffentliche Kapitalmarktinformation" beträfen.

Das Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig sperre nach dieser Maßgabe das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart nicht, weil Gegenstand der Feststellungsziele des vor dem Oberlandesgericht Braunschweig eingeleiteten Musterverfahrens Schadensersatzansprüche wegen öffentlicher Kapitalmarktinformationen der Volkswagen AG seien, während das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart öffentliche Kapitalmarktinformationen der Porsche SE betreffen soll. Dass Vorgänge bei der Volkswagen AG jedenfalls mittelbar in beiden Verfahren von Bedeutung sind, sei nicht entscheidend. Es handle sich um verschiedene Kapitalmarktinformationen. Feststellungen eines Musterentscheids kämen keine Bindungswirkung für Folgeprozesse zu, denen lediglich parallele Fallgestaltungen zugrunde liegen.

ZU DEN VORAUSSETZUNGEN DER AUSSETZUNG GEMÄSS § 8 ABS. 1 KAPMUG

In seiner zweiten Entscheidung befasste sich der Bundesgerichtshof mit der Frage, ob ein anhängiges Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart gegen die Porsche SE zulässigerweise nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzt wurde (Az. II ZB 30/19). Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass weder in Bezug auf die Feststellungsziele des Braunschweiger Musterverfahrens noch in Bezug auf die Feststellungsziele des (noch nicht eingeleiteten) Musterverfahrens in Stuttgart eine Abhängigkeit im Sinne von § 8 Abs. 1 KapMuG vorliege. 

Zwar sei auch im Berufungsverfahren eine Aussetzung nach § 8 Abs. 1 KapMuG möglich, doch gelte dies nur, wenn die maßgeblichen Voraussetzungen erfüllt seien. Dies sei hier nicht der Fall. Im Hinblick auf das Musterverfahren in Braunschweig liege eine Abhängigkeit bereits deshalb nicht vor, weil die Feststellungen des Oberlandesgerichts Braunschweig keine Bindungswirkung im Sinne von § 22 Abs. 1 KapMuG für mögliche, auf die Verletzung von Informationspflichten gestützte Schadensersatzansprüche gegen die Porsche SE (am Landgericht Stuttgart) hätten. Das Musterverfahren in Braunschweig betreffe ausschließlich Schadensersatzansprüche gegen die Volkswagen AG. 

Auch in Bezug auf das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart sei eine Aussetzung aber letztlich nicht zulässig, weil diese mit hypothetischen Erwägungen begründet worden sei. Es sei rechtfehlerhaft, eine Aussetzung damit zu begründen, dass eine Erweiterung des Musterverfahrens um weitere Feststellungsziele naheliege. Eine Aussetzung sei lediglich dann zulässig, wenn im betreffenden Verfahren nur noch Tatsachen oder Rechtsfragen offen sind, die unabhängig vom Ausgang des Musterverfahrens nicht beantwortet werden können. Es sei einem Rechtsuchenden nicht zuzumuten, dass sein individueller Rechtsstreit ausgesetzt wird und er unabsehbare Zeit auf das Ergebnis des oft jahrelang dauernden Musterverfahrens warten muss, obwohl nicht feststeht, dass es auf den Ausgang des Musterverfahrens in seinem Prozess tatsächlich ankommt. Ein Prozessgericht dürfte seine Aussetzungsentscheidung nicht auf hypothetische Erwägungen stützen. 

Eine Aussetzung des Berufungsverfahrens gegen die Porsche SE komme im Ergebnis erst dann in Betracht, wenn das Berufungsgericht die Abhängigkeit der Entscheidung des dem Berufungsverfahren zugrundeliegenden Rechtsstreits von den Feststellungszielen des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Stuttgart feststellt. Nicht entscheidend war damit aus Sicht des Bundesgerichtshofs, dass das Oberlandesgericht Stuttgart den Vorlagebeschluss des Landgerichts Stuttgart vom 28. Februar 2017 für unzulässig erklärt und tatsächlich kein Musterverfahren eingeleitet hat. Dies spiele keine Rolle, sofern der entsprechende Beschluss noch nicht rechtskräftig sei.

EINORDNUNG DER ENTSCHEIDUNGEN UND AUSBLICK

Die jüngsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Sachen Porsche SE haben zur Folge, dass – neben dem bereits anhängigen Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig – ein weiteres Musterverfahren zu Fragen der Kapitalmarktinformationshaftung im Zusammenhang mit Auffälligkeiten des Dieselmotors EA 189 durchzuführen ist. Sobald das Oberlandesgericht Stuttgart die Akten aus Karlsruhe zurückerhält, muss es nach billigem Ermessen einen Musterkläger – im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig ist dies die Deka Investment GmbH – bestimmen und anschließend das Musterverfahren im Klageregister öffentlich bekanntmachen.

Angesichts der inhaltlichen Überschneidungen wird mit Spannung zu beobachten sein, inwiefern es zwischen dem noch einzuleitenden Musterverfahren beim Oberlandesgericht Stuttgart und dem bereits seit Jahren laufenden Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig, bei dem bereits in acht Terminen über prozessuale und materielle Fragestellungen verhandelt wurde, zu Wechselwirkungen kommen wird. In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass auch das Musterverfahren in Stuttgart einige Jahre dauern und schwierige Rechtsfragen aufwerfen wird. 

Der zweite Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16. Juni 2020, der die Fortsetzung des am Oberlandesgericht Stuttgart anhängigen Berufungsverfahrens gegen die Porsche SE anordnet (Az. II ZB 30/19), dürfte in tatsächlicher Hinsicht demgegenüber weniger Relevanz aufweisen. Denn sobald das Musterverfahren beim Oberlandesgericht Stuttgart um weitere Feststellungsziele erweitert wird (§ 15 Abs. 1 KapMuG), dürften – auch nach Maßgabe des Bundesgerichtshofs – die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 KapMuG gegeben und eine Aussetzung des Verfahrens geboten sein.

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