Ein strenges Verbandssanktionenrecht (in der derzeit diskutierten oder in ähnlicher Form) hätte voraussichtlich nicht nur spürbare Auswirkungen auf die Praxis der Unternehmensverteidigung. Es ergäben sich – auch unabhängig von einem Verdachtsfall – Rückwirkungen auf das Zusammenspiel zwischen Leitungs- und Kontrollorganen in Unternehmen sowie allgemein auf die Bewertungsmaßstäbe und Komplexität von unternehmensbezogenen Entscheidungen. Zu dem letztgenannten Aspekt aus gesellschaftsrechtlicher Sicht sieben Thesen:
1. Corporate Governance
Die Rolle und Bedeutung des Aufsichtsrats wird sich bei einem strengen Verbandssanktionenrecht mit Blick auf Compliance-relevante Sachverhalte weiter schärfen.
Der Aufsichtsrat hat die Aufgabe, die Tätigkeit des Vorstands zu überwachen und zu kontrollieren. Angesichts eines strengen Verbandssanktionenrechts dürfte der Aufsichtsrat daher geneigt sein, die Compliance-Bemühungen der Geschäftsleitung tendenziell enger zu begleiten. Um dies zu erreichen, wären aus der Sicht des Aufsichtsrats unterschiedliche Instrumente denkbar, z.B. die Einrichtung eines Compliance- bzw. Integritätsausschusses, die Erweiterung der Kommunikationskanäle des Aufsichtsrats in Richtung leitender Angestellter oder die Ausweitung von gesellschaftsrechtlich verankerten Zustimmungsvorbehalten.
Bei der Wahrnehmung seiner ihm zugewiesenen Überwachungsaufgabe hat der Aufsichtsrat freilich zu berücksichtigen, dass – wie auch der Bundesgerichtshof in seiner ARAG-Garmenbeck-Rechtsprechung anerkannt hat – dem Vorstand für die Leitung der Geschäfte ein weiter Handlungsspielraum zuzubilligen ist, ohne den unternehmerisches Handeln schlechterdings nicht denkbar ist.
2. Maßstab für Compliance-Management
Die Kernvokabel des Referentenentwurfs lautet "angemessene Vorkehrungen zur Vermeidung von Verbandsstraftaten". Wünschenswert ist eine gesetzliche Konkretisierung, wie solche "angemessenen Vorkehrungen" in der Unternehmensrealität aussehen sollen. Dies gilt insbesondere in Anbetracht der erheblichen Sanktionsandrohungen.
Eine Binsenweisheit ist, dass bei Risikogeneigtheit der Organisation ein risikoadjustiertes angemessenes CMS unabdingbar ist. Sind angemessene Vorkehrungen im Zeitpunkt der Begehung der Verbandsstraftat implementiert, führt dies nach der Logik des Referentenentwurfs immerhin im Fall der Begehung einer Verbandsstraftat durch eine Nichtleitungsperson (nicht dagegen im Fall der Begehung durch eine Leitungsperson) zur Durchbrechung des Zurechnungszusammenhangs zum Verband und damit zu einer Nicht-Verantwortlichkeit des Verbands. Ausschlaggebend für die Erreichung der mit der Implementierung des CMS unternehmensseitig intendierten Wirkung bleibt damit dessen Ernsthaftigkeit und jederzeitige (dokumentierte) Wirksamkeit.
3. Zertifizierungen
Die Nachfrage nach Zertifizierungen von CMS wird bei einem strengen Verbandssanktionenrecht zunehmen.
Zertifizierungen nach gängigen Standards können dazu beitragen, dass die Organe sich von der Wirksamkeit und Angemessenheit "ihres" CMS überzeugen können. Man sollte sich aber auch nichts vormachen. Jede Zertifizierung, egal nach welchem Standard, wird als solches nicht ausreichen, um Verfolgungsbehörden und Gerichte von der Angemessenheit getroffener Vorkehrungen zu überzeugen. Verfolgungsbehörden und Gerichte werden mit Recht selbst prüfen wollen und müssen, ob das in Frage stehende CMS im konkret relevanten Zeitpunkt effektiv genug war, um das in Rede stehende (mögliche) Fehlverhalten zumindest wesentlich erschwert zu haben. Entscheidend ist, dass Compliance ungeachtet einer Zertifizierung durch einen entsprechenden Tone from the Top tatsächlich gelebt wird.
4. Compliance Best-Practice
Ein strenges Verbandssanktionenrecht könnte sich auf eine Compliance-Best-Practice auswirken.
Insoweit beispielhaft zu nennen sind Compliance-Bemühungen im Hinblick auf Auslandsaktivitäten. Auslandsaktivitäten sind auch bereits derzeit im CMS mit zu berücksichtigen. Dies würde in Anbetracht der derzeitigen Überlegungen des BMJV indes ein noch wichtigerer Aspekt, da Auslandstaten nach dem Referentenentwurf unter bestimmten Voraussetzungen einer Verbandsstraftat gleichstehen sollen.
Auch interne Meldesysteme dürften eine weitere Bedeutungszunahme erfahren. Nicht nur ist inzwischen die EU-Whistleblower-RL in Kraft und bis Mitte Dezember 2021 in nationales Recht umzusetzen, wodurch ab dann für Unternehmen ab 50 Mitarbeitern die Einrichtung eines internen Meldesystems – unabhängig von ihrem Tätigkeitsfeld – verpflichtend wird. Zudem dürften Unternehmen angesichts eines strengen Verbandssanktionenrechts ein originäres Interesse daran haben, wirksame interne Meldesysteme vorzuhalten, um frühzeitig von (etwaigen) internen Missständen Kenntnis zu erlangen und so erforderlichenfalls rechtzeitig verbandsinterne Untersuchungen anstoßen zu können. Nur so lässt sich sicherstellen, dass Entscheidungsträger im Unternehmen im Fall von Ermittlungsverfahren keine Wissensnachteile haben und sich das Unternehmen entweder effektiv verteidigen oder aber die eigene Lage in Kooperation mit den Verfolgungsbehörden noch positiv gestalten kann.
5. Umstrukturierungen / M&A
Für Umstrukturierungen und M&A wird ein Verbandssanktionenrecht (in der derzeit diskutierten oder in ähnlicher Form) insbesondere im Bereich der Due Diligence, der Transaktionsstrukturierung und der Vertragsgestaltung zusätzliche Gestaltungsparameter setzen.
In Transaktionen gewänne insbesondere eine sorgfältige Compliance-Due Diligence durch den Erwerber noch weiter an Bedeutung, damit bei Zielgesellschaften "schlummernde" Risikolagen frühzeitig und zutreffend erkannt werden können.
Im Bereich der Vertragsgestaltung wären unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Compliance-Due Diligence gegebenenfalls z.B. spezifische Compliance-Garantien bzw. -Freistellungen, verkäuferseitige Mitwirkungspflichten im Verdachts- bzw. Ermittlungsfall für die Zeit nach dem Closing sowie, falls erforderlich, MAC-Klauseln, Kaufpreisanpassungsmechanismen und Rücktrittsrechte zu verhandeln.
Auch die sog. Post Closing-Due Diligence dürfte an Bedeutung gewinnen.
6. Verdachtsfall
Ein strenges Verbandssanktionenrecht wird zusätzliche Abwägungsanforderungen für die Unternehmensleitung nach sich ziehen. Insbesondere bei Verdacht einer Verbandsstraftat wird die Entscheidungskomplexität noch zunehmen.
Im Verdachtsfall wäre vom Unternehmen zusätzlich zu allen sonstigen To Do's unverzüglich zu prüfen, ob tatsächlich der Verdacht der Begehung einer Verbandsstraftat besteht, welcher Personenkreis diese begangen haben könnte, welche Aufdeckungswahrscheinlichkeit besteht und ob das Unternehmen sich "klassisch" verteidigen will oder vielmehr eine Kooperation mit den Verfolgungsbehörden nach Maßgabe von § 18 des Referentenentwurfs, die nur eine "uneingeschränkte" sein kann, anstreben sollte. Diese Vorprüfungen wären auch leitend bei der Entscheidung, ob eine "gute" interne Untersuchung nach Maßgabe der dann bestehenden (voraussichtlich) engen gesetzlichen Vorgaben angezeigt ist.
Im Referentenentwurf nicht eindeutig vorgegeben ist der späteste Zeitpunkt, zu dem sich ein Unternehmen noch rechtzeitig für eine Kooperation mit den Verfolgungsbehörden nach Maßgabe der §§ 18, 19 des Referentenentwurfs entscheiden könnte. Richtigerweise sollte insoweit auf den Zeitpunkt abgestellt werden, zu dem der Verband von den Verfolgungsbehörden erstmals in Kenntnis gesetzt wurde, dass gegen ihn wegen des Verdachts der Verantwortlichkeit für eine Verbandsstraftat ermittelt wird.
7. Organhaftung
Ein strenges Verbandssanktionenrecht bedeutet eine weitere Verschärfung der Vermögensrisiken für Organmitglieder im Haftungsfall.
Nach herrschender Auffassung sind heute neben klassischen Schadenspositionen insbesondere auch der Ahndungsanteil von Bußgeldern sowie Aufklärungskosten im Rahmen der Organhaftung regressfähig – beides Positionen, die merklich zunehmen würden, wobei insbesondere der Ahndungsanteil erheblich umfangreicher würde. Eine Begrenzung des Organregresses wird zwar seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert, ist aber zumindest im Referentenentwurf nicht vorgesehen. In der gesellschaftsrechtlichen Diskussion um etwaige Grenzen des Organregresses sollten mögliche Auswirkungen eines Verbandssanktionenrechts deshalb mit berücksichtigt werden.