Evolution statt Revolution? – Neue Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen auf europäischer und deutscher Ebene

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Evolution statt Revolution? – Neue Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen auf europäischer und deutscher Ebene

13. Juni 2023

Die Europäische Kommission ("Kommission") hat am 1. Juni 2023 begleitend zu den überarbeiteten Gruppenfreistellungsverordnungen für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen (F&E-GVO) und für Spezialisierungsvereinbarungen (Spezialisierung-GVO) auch aktualisierte Horizontalleitlinien (Horizontal-LL 2023) verabschiedet. Die Horizontal-LL 2023 werden nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU im Laufe des Juli 2023 in Kraft treten. In den Horizontal-LL 2023 widmet sich die Kommission in einem eigenständigen Kapitel auch der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen. Auf deutscher Ebene wird die Diskussion zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen durch zwei jüngst veröffentliche Bewertungen des Bundeskartellamts zur "Initiative Tierwohl" sowie zum Forum Nachhaltiger Kakao e.V. („Kakaoforum“) und eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz ("BMWK") zum Verhältnis zwischen Wettbewerb und Nachhaltigkeit weiter akzentuiert. Dieser Beitrag gibt einen Ausblick, wie die Kommission Nachhaltigkeitsvereinbarungen in Zukunft bewerten wird und welche Auswirkungen die Horizontal-LL 2023 auf die Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der europäischen und nationalen Rechtsanwendungspraxis voraussichtlich haben werden.

I. Evolution statt Revolution auf europäischer Ebene

Dass die Kommission Nachhaltigkeitsvereinbarungen in den Horizontal-LL 2023 ein eigenständiges Kapitel widmet, verdeutlicht die zunehmende Bedeutung der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen für die Kartellrechtspraxis. Die Horizontal-LL aus dem Jahr 2011 mussten noch ohne ein gesondertes Kapitel zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen auskommen. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager sieht in den aktuellen Horizontal-LL "ein wichtiges Instrument, um den grünen und digitalen Wandel voranzutreiben". In den Horizontal-LL 2023 lässt die Kommission die rechtlichen Erwägungen zur kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen aus dem Entwurf von März 2022, den wir in unserem Blogbeitrag vom 27. September 2022 besprochen haben, im Wesentlichen unberührt.

Die Kommission bleibt dementsprechend auf ihrem bereits eingeschlagenen Weg. So bringt sie erneut zum Ausdruck, dass die Kartellvorschriften im Ausgangspunkt Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern, die ein Nachhaltigkeitsziel verfolgen, nicht im Wege stehen sollen. Entsprechend behält die Kommission auch die weit gefasste Definition der Nachhaltigkeitsziele des Entwurfs von 2022 bei. Zudem stellt die Kommission in den Horizontal-LL 2023 klar, dass "Vereinbarungen, die sich nicht negativ auf Wettbewerbsparameter wie Preis, Quantität, Qualität, Auswahl oder Innovation auswirken, keinen Anlass zu wettbewerbsrechtlichen Bedenken geben". So fallen beispielsweise, aber nicht abschließend (i) Vereinbarungen, welche die Einhaltung hinreichend präzisier Vorgaben aus rechtlich bindenden internationalen Verträgen betreffen, (ii) Vereinbarungen zu unternehmensinternem Verhalten, (iii) branchenweite Sensibilisierungskampagnen und (iv) Vereinbarungen zur Einrichtung von Datenbanken mit Informationen über nachhaltige Lieferanten oder Händler nicht in den Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV. Ebenso übernimmt die Kommission in den Horizontal-LL 2023 den "Soft Safe Harbour" für Vereinbarungen über Nachhaltigkeitsstandards, die unter sechs kumulativ genannten Voraussetzungen schon nicht als Wettbewerbsbeschränkung i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV zu qualifizieren sind. Mit diesen Vereinbarungen über Nachhaltigkeitsstandards sind beispielsweise Vereinbarungen zur schrittweisen Abschaffung nicht nachhaltiger Produkte oder die Harmonisierung von Verpackungsgrößen und Produktinhalten zur Verringerung des Abfallanfalls gemeint.

Zugleich bleibt die Kommission bei ihrem restriktiven Ansatz zur kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Rahmen von Art. 101 Abs. 3 AEUV, vor allem mit Blick auf die "angemessene Verbraucherbeteiligung". Zwar können die insbesondere bei Nachhaltigkeitsvereinbarungen auftretenden kollektiven Gewinne, die auf einem anderen als dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt eintreten, grundsätzlich im Rahmen von Art. 101 Abs. 3 AEUV berücksichtigt werden. Eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV setzt aber weiterhin voraus, dass die von einer Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Verbraucher für die Wettbewerbsnachteile kompensiert werden. Sofern die Verbrauchervorteile auf einem anderen als dem von der Wettbewerbsbeschränkung erfassten Markt eintreten, verlangt die Kommission daher, dass die beiden Verbrauchergruppen sich in weiten Teilen überschneiden müssen.

Für die Praxis von Bedeutung sein wird auch das Zusammenspiel mit den neuen Gruppenfreistellungsverordnungen und den anderen Kapiteln in den Horizontal-LL 2023. Bei der kartellrechtlichen Prüfung ist im Blick zu behalten, dass eine Nachhaltigkeitsvereinbarung keine eigenständige Kategorie einer horizontalen Kooperationsvereinbarung darstellt. In der Praxis können beispielsweise auch Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern zu Forschung und Entwicklung Nachhaltigkeitsziele verfolgen. In diesem Fall kann eine solche Vereinbarung unter den Voraussetzungen der neuen F&E-GVO vom Kartellverbot freigestellt sein, ohne dass es auf die in den Leitlinien dargestellten Grundsätze zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen ankommt.

II. Mehr Evolution auf deutscher Ebene?

Auch auf deutscher Ebene entwickelt sich die Diskussion um den richtigen Umgang des Kartellrechts mit Nachhaltigkeitszielen weiter. Im März 2023 wurde eine Studie vorgestellt, die im Auftrag des BMWK das Verhältnis zwischen Wettbewerb und Nachhaltigkeit umfassend untersuchen soll. Im Zusammenhang mit der rechtlichen Verortung von Nachhaltigkeitszielen im Rahmen des Art. 101 AEUV wird in dem Dokument unter anderem die Option diskutiert, gesamtgesellschaftliche Vorteile weitergehender als bisher zu berücksichtigen und unter bestimmten Voraussetzungen auf eine Kompensation der von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Verbraucher zu verzichten. Im Kontext des Kartellverbots werden zudem weitere Optionen diskutiert, wie etwa eine Gruppenfreistellungsverordnung für Nachhaltigkeitsvereinbarung zu schaffen oder von den etablierten Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV zugunsten einer normativen Abwägung abzuweichen. Nach Aussagen des BMWK könnten die in der Studie diskutierten, teilweise weitreichenden Optionen zur möglichen Weiterentwicklung des Kartellrechts in einer künftigen GWB-Novelle berücksichtigt werden. Relevant ist dabei auch, dass sich die Ansätze nicht nur auf das Kartellverbot beschränken, sondern darüber hinaus die Fusionskontrolle, die Missbrauchsaufsicht und verschiedene Verfahrensfragen erfassen.

Die "Initiative Tierwohl" bleibt weiterhin einer der prominentesten praktischen Anwendungsfälle des Bundeskartellamts zu Nachhaltigkeitsinitiativen. Das Bundeskartellamt hat darauf hingewirkt, den verpflichtenden Preisaufschlag für die Abnehmer der teilnehmenden Erzeugerbetriebe zum Jahr 2024 abzuschaffen. Stattdessen führt die Initiative eine unverbindliche Empfehlung für eine Finanzierung der mit den Tierwohlkriterien verbundenen Mehrkosten ein. Das Bundeskartellamt stand einem verpflichtenden Preisaufschlag bereits zu Beginn von dessen Einführung aufgrund wettbewerblicher Bedenken kritisch gegenüber, tolerierte diesen aber in der Einführungsphase (siehe hierzu unseren Blogbeitrag vom 27. September 2022). Da sich die "Initiative Tierwohl" in der Zwischenzeit am Markt etabliert habe, sei ein einheitlicher Aufschlag für das Tierwohl aus Sicht der deutschen Wettbewerbsbehörde nicht (mehr) unerlässlich für die Durchsetzung der Initiative und die Einhaltung der Tierwohlkriterien. Aufgrund der fehlenden Unerlässlichkeit des verbindlichen Preisaufschlags kommt auch die für den Bereich der Landwirtschaft eingeführte Ausnahme vom Kartellrecht nach Art. 210a GMO nicht in Betracht.

Im Gegensatz dazu sieht das Bundeskartellamt (derzeit) keine Veranlassung, das Kakaoforum einer tiefergehenden kartellrechtlichen Prüfung zu unterziehen. Das Hauptziel des Kakaoforums, das sich aus Vertreterinnen und Vertretern der öffentlichen Hand, Unternehmen der Kakao- und Schokoladenindustrie, einem Großteil des deutschen Lebensmitteleinzelhandels und internationalen (NGOs) zusammensetzt, ist die Förderung existenzsichernder Einkommen der Kakaobäuerinnen und -bauern in den Produktionsländern Ghana und Elfenbeinküste. Anstatt auf einheitliche Preisaufschläge zu setzen, nutzt das Kakaoforum zur Verwirklichung dieser Ziele freiwillige Selbstverpflichtungen über individualisierte Mindestpreise, Quoten und Prämiensysteme, um bessere Hofpreise für die Kakaobäuerinnen und -bauern zu erreichen. Diese positive kartellrechtliche Beurteilung beruht vor allem auf der Freiwilligkeit der Selbstverpflichtungen der Mitglieder sowie den fehlenden Sanktionsmechanismen bei der Nichteinhaltung der Selbstverpflichtung. Des Weiteren werden wettbewerbsrelevante Informationen wie die erzielten Mindestpreise, die im Rahmen der Selbstverpflichtung von den Mitgliedern des Kakaoforums individuell eingegangen werden, nur in anonymisierter Form veröffentlicht. Ferner ist der Anteil der Hofpreise für Kakao im Vergleich zu den übrigen Preisfaktoren entlang der Wertschöpfungskette für Schokoladenprodukte vergleichsweise gering. Schließlich weist das Bundeskartellamt darauf hin, dass es von einer vertieften Prüfung der Ausnahme vom Kartellverbot im Agrarbereich nach Art. 210a GMO abgesehen hat. Nach Auffassung des Bundeskartellamts spreche aufgrund der Zielsetzung des Kakaoforums einiges gegen die Anwendung der Bereichsausnahme nach Art. 210a GMO. 

Diese jüngst veröffentlichten Beurteilungen zeigen, dass das Bundeskartellamt den eingeschlagenen Weg, Nachhaltigkeitsinitiativen im Rahmen des Aufgreifermessen zu prüfen, fortsetzt. Das Praxisbeispiel der "Initiative Tierwohl" verdeutlicht ferner die Notwendigkeit, eine Nachhaltigkeitsvereinbarung, insbesondere wenn sie erkennbar wettbewerbsrelevante Parameter wie den Preis betrifft, fortlaufend auf ihre kartellrechtliche Zulässigkeit hin zu überprüfen. Wettbewerbsbeschränkungen, die in der Anlaufphase einer Kooperation toleriert werden, können im Laufe der Zeit unzulässig werden. Gleichzeitig hat das Bundeskartellamt anlässlich der Vorstellung der bereits angesprochenen Studie angekündigt, abstrakte Guidance auf nationaler Ebene zu entwickeln. 

III. Fazit und Ausblick

Die Kommission hat mit der Verabschiedung der Horizontal-LL einen wichtigen Schritt hin zu mehr Rechtssicherheit bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen getätigt. Gleichzeitig dürften insbesondere Nachhaltigkeitsvorhaben, die in den Horizontal-LL nicht als eindeutig kartellrechtlich unproblematisch qualifiziert werden, auch weiterhin eine Abstimmung im Einzelfall mit der Kommission oder den nationalen Wettbewerbsbehörden erforderlich machen. Dementsprechend betont die Kommission in den Horizontal-LL erneut ihre Bereitschaft zu informeller Guidance für neue oder ungelöste Fragen zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Einzelfall.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die nationalen Gesetzgeber und die nationalen Wettbewerbsbehörden zu der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen durch die Kommission positionieren werden. Zwar entfalten die Leitlinien keine unmittelbare Wirkung für die nationalen Wettbewerbsbehörden und binden auch die Gerichte nicht unmittelbar. Im Sinne einer möglichst einheitlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Europäischen Union wäre eine homogene Herangehensweise jedoch wünschenswert. So hat die niederländische Wettbewerbsbehörde nach Veröffentlichung der Horizontal-LL angekündigt, ihren eigenen Leitlinienentwurf zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen, der beispielsweise mit Blick auf die angemessene Verbraucherbeteiligung einen progressiveren Ansatz verfolgte, auf Divergenzen zu den jüngst veröffentlichten Leitlinien der Kommission zu untersuchen und in Einklang mit diesen zu bringen. Sie will damit dem Umstand Rechnung tragen, dass die meisten Nachhaltigkeitsinitiativen in den Niederlanden grenzüberschreitende Aspekte haben. 

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Malus- und Clawback-Regelungen in Vorstandsverträgen

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Malus- und Clawback-Regelungen in Vorstandsverträgen

9. Juni 2023

Der Einbehalt (Malus) und die Rückforderung (Clawback) variabler Bestandteile der Vorstandsvergütung spielte noch vor wenigen Jahren eine untergeordnete Rolle in der deutschen Unternehmenspraxis. Während im englischsprachigen Raum derartige Klauseln schon damals weit verbreitet waren, beschränkten sich die wenigen inländischen Anwendungsfälle hauptsächlich auf Finanzinstitute. Dort sind bereits seit 2017 in Vorstandsverträgen verbindlich Klauseln vorzusehen, die eine Rückforderung der variablen Vergütung ermöglichen.

Ein Blick auf die aktuellen Vergütungssysteme und -berichte der DAX- und MDAX-Unternehmen zeigt, dass sich die Praxis in Deutschland in den letzten Jahren erheblich verändert hat: Malus- und Clawback-Regelungen sind inzwischen Marktstandard. Alle DAX-Unternehmen und auch der Großteil der MDAX-Unternehmen sehen Vergütungssysteme für ihre Vorstandsmitglieder vor, die die Möglichkeit enthalten, variable Vergütungsbestandteile einzubehalten und/oder zurückzufordern.

Diese Entwicklung beruht maßgeblich auf der Weiterentwicklung des Deutschen Corporate Governance Kodex ("DCGK"), nach dem "in begründeten Fällen eine variable Vergütung einbehalten oder zurückgefordert werden können" soll (Ziffer G.11 Satz 2 DCGK). Ferner sehen die zum 1. Januar 2020 eingeführten §§ 87a, 162 AktG (Pflicht-)Angaben im Vergütungssystem und den Vergütungsberichten zu Malus- und Clawback-Regelungen vor. Auch die institutionellen Stimmrechtsberater fordern zunehmend Malus- und/oder Clawback-Regelungen.

In diesem Beitrag wird ein Überblick über die derzeitige Praxis von Malus- und Clawback-Regelungen in Vorstandsverträgen gegeben. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die in der Praxis relevanten Fallstricke bei der Ausgestaltung und Anwendung derartiger Klauseln gelegt.

Marktpraxis

Variable Vergütungsbestandteile können sowohl einbehalten als auch zurückgefordert werden. Während eine Malus-Regelung noch nicht ausbezahlte, aber bereits festgesetzte Teile der variablen Vergütung betrifft, hat die Gesellschaft bei einer Clawback-Regelung einen Anspruch auf Rückzahlung der bereits (dauerhaft) ausbezahlten variablen Vergütung gegen das Vorstandsmitglied. Neben dieser Differenzierung auf Ebene der Rechtsfolge finden sich in der Praxis im Wesentlichen zwei mögliche tatbestandliche Anknüpfungspunkte für Malus- bzw. Clawback-Regelungen: Die "Performance" der Gesellschaft, die Gegenstand der Festsetzung der variablen Vergütung geworden ist, und die Einhaltung von Compliance-Vorgaben durch das Vorstandsmitglied. In der Praxis kommen beide Formen gleichermaßen vor.

Beim Blick in die Vergütungsberichte des Jahres 2022 zeigt sich, dass ein Großteil der DAX-Unternehmen sowohl Clawback- als auch Malus-Regelungen vorsieht. Dieser Marktstandard sichert den Gesellschaften die größtmögliche Flexibilität. Es soll nicht vom Auszahlungszeitpunkt abhängen, ob die Gesellschaft bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auf die variablen Vergütungsbestandteile zugreifen kann.

 

Ein Großteil der DAX- und MDAX-Unternehmen greift auf die "Unternehmensperformance" als maßgeblichen Anknüpfungspunkt zurück. Das beruht auf der Art und Weise der Festsetzung der variablen Vorstandsvergütung, die regelmäßig vom langfristigen wirtschaftlichen Erfolg der Gesellschaft abhängt. Werden die Boni auf einer sich im Nachhinein als unrichtig erweisenden Informationsgrundlage festgesetzt bzw. ausbezahlt, liegt es im Interesse der Gesellschaft, die noch nicht ausbezahlten Vergütungsbestandteile zurückzubehalten bzw. die ausbezahlten Vergütungsbestandteile zurückzufordern.

In der Praxis zeigt sich hier eine gewisse Bandbreite an Performance-Anknüpfungspunkten. Während beispielsweise die adidas AG "wesentliche Fehldarstellungen in den Finanzberichten" (adidas AG-Vergütungsbericht 2022, S. 13) oder die RWE AG einen fehlerhaften Konzernabschluss (RWE AG-Vergütungsbericht 2022, S. 24) erfordern, lässt die Telekom AG eine "offenkundig unvollständige oder falsche Informationslage zum Gegenstand [der] Entscheidung [des Aufsichtsrats] über die Höhe der Zielerreichung" (Telekom AG-Vergütungsbericht 2022, S. 15) genügen.

Die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte spiegeln die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten wider. Vorstandsmitglieder haben regelmäßig ein Interesse an möglichst eng gefassten Tatbestandsvoraussetzungen, während der Aufsichtsrat im Interesse der Gesellschaft mit einer offen gefassten Klausel auf mögliche Eventualitäten reagieren kann. 

Neben oder anstelle einer Performance-Regelung finden sich in der Praxis auch sogenannte Compliance-Regelungen. Bei Verstößen gegen gesetzliche oder dienstvertragliche Pflichten oder bei der Verletzung von wesentlichen Handlungsgrundsätzen der Gesellschaft kommt danach ein Einbehalt bzw. eine Rückforderung in Betracht. Auch bei solchen Compliance-Regelungen sind die gewählten Anknüpfungspunkte vielfältig. Während sich einerseits Verstöße des Vorstandsmitglieds gegen ausdrücklich einbezogene, konkrete Handlungsmaximen oder normierte Verhaltenspflichten als Anknüpfungspunkt in der Praxis finden, genügen anderen Marktteilnehmern abstrakt formulierte "Pflichtverletzungen" der Vorstandsmitglieder für die Rückforderung bzw. den Einbehalt: Die Deutsche Börse AG verlangt bspw. lediglich ein "schwerwiegende[s] Fehlverhalten" (Deutsche Börse AG-Geschäftsbericht 2022, S. 296), die Symrise AG ein "grobe[s] Fehlverhalten" (Symrise AG-Vergütungsbericht 2022, S. 19) und die Henkel AG & Co. KGaA eine "schwerwiegende Pflichtverletzung" (Henkel AG & Co. KGaA-Vergütungsbericht 2022, S. 30) des jeweiligen Vorstandsmitglieds. 

Im Gegensatz zu Performance-Regelungen, die je nach Ausgestaltung an eng umgrenzte Tatbestände anknüpfen, sind Compliance-Regelungen – wie sich an den genannten Praxisbeispielen zeigt – tendenziell unbestimmt. Sie erfassen in der Regel eine Vielzahl möglicher Compliance-Verstöße und bieten Spielraum für Argumentation. Eine Einschränkung kommt zum Beispiel dadurch in Betracht, dass die Rückforderung bzw. der Einbehalt an einen qualifizierten bzw. schuldhaften Verstoß angeknüpft wird.

Fallstricke und typische Fragestellungen

  • Malus- und Clawback-Regelungen in Vorstandsverträgen stellen regelmäßig allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne der §§ 305 ff. BGB dar. Die Klauseln sind insbesondere am Benachteiligungsverbot (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB) und dem Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) zu messen. Angesichts der aufgezeigten Marktpraxis dürften Malus- und Clawback-Regelungen in der Regel keine überraschenden Klauseln im Sinne des § 305c Abs. 1 BGB sein. In AGB-rechtlicher Hinsicht kommt es entscheidend darauf an, die unterschiedlichen Interessen der Vorstandsmitglieder und der Gesellschaft in einen angemessenen Ausgleich zu bringen, um dem Benachteiligungsverbot zu entsprechen. Hier kann es – insbesondere im Fall einer Compliance-Regelung und im Hinblick auf § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB – hilfreich sein, die Tatbestandsvoraussetzungen an § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG anzulehnen oder nur wesentliche Pflichtverletzungen als tatbestandsmäßig anzusehen. Eine dem Transparenzgebot entsprechende Regelung liegt schließlich nicht nur im Interesse des Vorstandsmitglieds: Eine bestimmte Regelung erleichtert darüber hinaus die spätere Anwendung der Klausel.
  • Eng verknüpft mit der Frage der AGB-rechtlichen Zulässigkeit ist die Frage, ob es im Ermessen des Aufsichtsrats stehen sollte, die variablen Vergütungsbestandteile einzubehalten oder zurückzufordern. Auch hier sind in der Praxis verschiedene Herangehensweisen zu beobachten. Insbesondere Compliance-Klauseln werden üblicherweise in das "pflichtgemäße Ermessen des Aufsichtsrats" (Siemens-Vergütungsbericht 2022, S. 27) gestellt. Das kann aufgrund der offenen Rechtsfolge einen zusätzlichen Konflikt mit dem Transparenzgebot auslösen. Zugleich ist die Anwendung der Malus- und Clawback-Regelungen bei einer solchen Ausgestaltung aber deutlich flexibler. Das pflichtgemäße Ermessen ermöglicht es dem Aufsichtsrat, in jedem Einzelfall eine umfassende Abwägung vorzunehmen, die auch dazu führen kann, dass die Klausel nicht in jedem Fall des tatbestandsmäßigen Pflichtverstoßes zu einem (anteiligen) Einbehalt oder einer Rückforderung der variablen Vergütung führen muss.
  • Schließlich sollte – will man nicht auf die gesetzlichen Verjährungsregelungen zurückgreifen – eine Frist zur Geltendmachung der Rückforderung geregelt werden. Dies betrifft primär die Verjährung eines Rückforderungsanspruchs. Auch hier finden sich in der Praxis unterschiedliche Herangehensweisen – sowohl im Hinblick auf den Beginn als auch die Dauer der Verjährung. Manche Gesellschaften lassen den Anspruch nach den allgemeinen Verjährungsregelungen kenntnisabhängig verjähren (Deutsche Post DHL Group-Vergütungsbericht 2022, S. 8), andere sehen beispielsweise eine kenntnisunabhängige Verjährung drei Jahre nach Auszahlung (Volkswagen-Geschäftsbericht 2022, S. 69) vor.

Ausblick für die Praxis

Wirft man einen Blick in die Zukunft, sind im Zusammenhang mit Malus- und Clawback-Klauseln insbesondere die folgenden Aspekte zu berücksichtigen:

  • Malus- und Clawback-Regelungen sind in der Praxis börsennotierter Unternehmen mittlerweile Marktstandard. Dabei zeigt sich, dass ein Großteil der Unternehmen beide Regelungsformen vorsieht. Demgegenüber variieren die gewählten Anknüpfungspunkte und insbesondere deren Ausgestaltung zwischen den Marktteilnehmern erheblich.
  • Malus- und Clawback-Regelungen in Vorstandsverträgen sollten regelmäßig auf ihre Aktualität überprüft werden. Die steigende Bedeutung von ESG-Kriterien in der strategischen Ausrichtung der eigenen Gesellschaft bzw. in der variablen Vergütung der Vorstandsmitglieder legt beispielsweise nahe, als Performance-Anknüpfungspunkt (auch) die Erreichung der ESG-Ziele der Gesellschaft vorzusehen. Ein möglicher Einbehalt oder eine Rückforderung könnte an Ziele der Gesellschaft im Rahmen der Nachhaltigkeitsberichterstattung anknüpfen.
  • Die tatsächliche Geltendmachung der Malus- und Clawback-Regelungen ist angesichts der noch jungen Marktpraxis bisher die Ausnahme. Es ist jedoch absehbar, dass mit dem Ausscheiden erster Vorstandsmitglieder, deren Vorstandsverträge entsprechende Regelungen vorsehen, die Anzahl der Anwendungsfälle und mit ihnen das Konfliktpotential zukünftig steigen wird.
  • Angesichts dieser Perspektive empfiehlt es sich für betroffene Unternehmen und ihre Organmitglieder in jedem Fall, frühzeitig Rechtsrat einzuholen, um mögliche Haftungsrisiken zu vermeiden. 

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Beobachtungen zur Handhabung der neuen Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung durch die DAX-40-Unternehmen

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Beobachtungen zur Handhabung der neuen Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung durch die DAX-40-Unternehmen

2. Juni 2023

Im Zusammenhang mit dem Auslaufen der Sonderregelungen für Hauptversammlungen unter dem COVID-Maßnahmengesetz zum 31. August 2022 hat der Gesetzgeber eine dauerhafte gesetzliche Grundlage für die Abhaltung virtueller Hauptversammlungen im Aktiengesetz implementiert. Schon während des Gesetzgebungsverfahrens, aber auch nach Inkrafttreten der neuen Regelungen zum 27. Juli 2022 wurden dabei sowohl das virtuelle Format generell als auch viele praktische Umsetzungsfragen intensiv diskutiert.

In der laufenden Hauptversammlungssaison 2023 standen Aktiengesellschaften daher zunächst vor der (Grundsatz-)Entscheidung, ob sie auf Basis der Übergangsvorschrift des § 26n Abs. 1 EGAktG eine virtuelle Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre nach dem neuen aktienrechtlichen Regime durchführen oder ob sie nach drei Jahren virtueller COVID-Hauptversammlung das (bekannte) Format der Präsenz-Hauptversammlung wählen. Für Emittenten, die sich für die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung entschieden, stellte sich zudem eine Vielzahl an Detailfragen im Hinblick auf die praktische Durchführung der Hauptversammlung auf Basis des neuen Regimes.

Nachdem seit Mitte Mai nun die Hauptversammlungseinladungen sämtlicher DAX-Unternehmen vorliegen, ist eine erste empirische Untersuchung möglich. Vor diesem Hintergrund gibt die nachfolgende Auswertung einen Überblick über die Handhabung verschiedener (Gestaltungs-)Einzelfragen in den Einberufungen der DAX-40-Unternehmen zur Hauptversammlung 2023, wobei im Folgenden stets nur die 38 der im DAX 40 notierten Gesellschaften betrachtet werden, die ihren Satzungssitz in Deutschland haben und damit dem deutschen Aktienrecht unterliegen; insofern bleiben die Airbus SE und die Qiagen N.V. mit Satzungssitz in den Niederlanden außer Betracht.

Insbesondere vor dem Hintergrund der kritischen Diskussion – auch in den Publikumsmedien – wurde mit Spannung erwartet, für welches Hauptversammlungsformat sich die Gesellschaften entscheiden und wie viele Gesellschaften jedenfalls in 2023 wieder zur Präsenz-Hauptversammlung zurückkehren. Mit 28 von 38 Gesellschaften hat sich eine Mehrheit von rund 3⁄4 der Unternehmen dazu entschieden, ihre Hauptversammlung als virtuelle Hauptversammlung abzuhalten. Zehn der DAX-Unternehmen haben demgegenüber das Präsenzformat gewählt. 

Im Einzelnen stellt sich die Verteilung wie folgt dar:

Virtuelle Hauptversammlung Präsenz-Hauptversammlung
Allianz SE; Bayer AG; Beiersdorf AG; BMW AG; Brenntag SE; Commerzbank AG; Continental AG; Covestro AG; Daimler Truck Holding AG; Deutsche Bank AG; Deutsche Börse AG; E.ON SE; Fresenius SE & Co. KGaA; Hannover Rück SE; Infineon Technologies AG; Mercedes-Benz Group AG; Merck KGaA; MTU Aero Engines AG; Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft AG; Porsche Automobil Holding SE; Rheinmetall AG; RWE AG; Sartorius AG; Siemens AG; Siemens Energy AG; Siemens Healthineers AG; Vonovia SE; Zalando SE adidas AG, BASF SE; Deutsche Post AG, Deutsche Telekom AG, HeidelbergCement AG; Henkel AG & Co. KGaA; Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG; SAP SE, Symrise AG; Volkswagen AG

Der Fokus der Darstellung liegt im Folgenden naturgemäß auf den Gesellschaften, die sich für das virtuelle Format entschieden haben. Lediglich unter Ziffer I erfolgt zunächst eine Auswertung dazu, wie die Gesellschaften die Satzungsermächtigung zur Durchführung von virtuellen Hauptversammlungen ausgestaltet haben, bei der selbstverständlich auch die Gesellschaften berücksichtigt wurden, die dieses Jahr eine Präsenz-Hauptversammlung durchgeführt haben. Im Anschluss daran widmet sich der Beitrag Fragen im Zusammenhang mit der Übertragung der Hauptversammlung (Ziffer II) sowie dem Umgang mit Stellungnahmen (Ziffer III) und Fragen (Ziffer IV) bei der virtuellen Hauptversammlung.

I. Satzungsermächtigung zur Durchführung von virtuellen Hauptversammlungen und weitere Satzungsänderungen 

Mit 36 Gesellschaften haben sämtliche DAX-Unternehmen, deren Satzung bislang noch keine Ermächtigung zur Durchführung virtueller Hauptversammlungen enthielt, einen entsprechenden Beschlussvorschlag auf die Tagesordnung gesetzt. Dies gilt somit auch für diejenigen Gesellschaften, welche die diesjährige Hauptversammlung in Präsenz abgehalten haben. 

Lediglich die Einberufungen der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG und die Symrise AG zur ordentlichen Hauptverssammlung 2023 enthalten keinen entsprechenden Beschlussvorschlag, da beide Gesellschaften bereits über eine Ermächtigung zur Durchführung virtueller Hauptversammlungen verfügten. So sieht die – vor dem Initial Public Offering (IPO) am 28. September 2022 angepasste – Satzung der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG in § 22 bereits eine Ermächtigung für die Abhaltung virtueller Hauptversammlungen mit einer Laufzeit von fünf Jahren vor (vgl. § 22 Abs. 5). Die Satzung der Symrise AG enthält in § 19 Abs. 7 bereits seit dem Jahre 2021 eine bis zum 30. Juni 2024 befristete Ermächtigung. Denn bereits die ordentliche Hauptversammlung 2021 hatte "in Erwartung, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einer vollständig virtuellen Hauptversammlung ggf. dauerhaft als Option einführen wird", eine entsprechende Satzungsänderung beschlossen.

1. Laufzeit der Satzungsermächtigung

Die gesetzliche Maximallaufzeit der Satzungsermächtigung von fünf Jahren wurde von institutionellen Investoren und Stimmrechtsberatern nach Inkrafttreten der Neuregelungen zur virtuellen Hauptversammlung teilweise (sehr) kritisch gesehen; vielfach wurde insoweit eine Beschränkung der Ermächtigung auf höchstens zwei Jahre gefordert. Die nachfolgende Übersicht zeigt, dass mit 32 von 36 Gesellschaften, deren Einberufungen einen entsprechenden Beschlussvorschlag enthielten, die weit überwiegende Mehrheit auf diese Kritik reagiert und die Satzungsermächtigung auf zwei – bzw. im Falle der Continental AG auf drei – Jahre befristet hat. 

Lediglich vier Gesellschaften haben ihren Aktionären eine Ermächtigung mit einer Laufzeit von fünf Jahren vorgeschlagen (Infineon Technologies AG, Porsche Automobil Holding SE, Siemens Healthineers AG, Volkswagen AG). Allerdings hat der Vorstand der Infineon Technologies AG insofern auf die geäußerte Kritik von Aktionären reagiert, als er nach Veröffentlichung der Hauptversammlungseinberufung eine Selbstverpflichtung veröffentlichte, wonach er von der Satzungsermächtigung nur für einen Zeitraum von zwei Jahren Gebrauch machen werde; die Hauptversammlung stimmte der Satzungsänderung in der Folge mit einer Mehrheit von knapp 76 % zu. 

Im Ergebnis verfügen die DAX-Gesellschaften somit (de facto) über folgende Ermächtigungsrahmen:

Laufzeit Gesellschaft
5 Jahre Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG; Porsche Automobil Holding SE; Siemens Healthineers AG; Volkswagen AG
3 Jahre Continental AG; Symrise AG
2 Jahre adidas AG; Allianz SE; BASF SE; Bayer AG; Beiersdorf AG; BMW AG; Brenntag SE; Commerzbank AG; Covestro AG; Daimler Truck Holding AG; Deutsche Bank AG; Deutsche Börse AG; Deutsche Post AG; Deutsche Telekom AG; E.ON SE; Fresenius SE & Co. KGaA; Hannover Rück SE; HeidelbergCement AG; Henkel AG & Co. KGaA; Infineon Technologies AG; Mercedes-Benz Group AG; Merck KGaA; MTU Aero Engines AG; Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft AG; Rheinmetall AG; RWE AG; SAP SE; Sartorius AG; Siemens AG; Siemens Energy AG; Vonovia SE; Zalando SE

2. Weitere Satzungsänderungen

Neben der Ausgestaltung der Ermächtigung selbst wurden im Vorfeld der Neben der Ausgestaltung der Ermächtigung selbst wurden im Vorfeld der Hauptversammlungssaison 2023 Satzungsanpassungen im Zusammenhang mit der virtuellen Hauptversammlung vor allem unter zwei Aspekten diskutiert – der Anwesenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern im Falle der Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung und der Möglichkeit des Versammlungsleiters, auch das Nachfragerecht von Aktionären zu beschränken.

Anwesenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern in der virtuellen Hauptversammlung

Nach § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG besteht für die Mitglieder des Aufsichtsrats grundsätzlich eine Pflicht zur Teilnahme an der virtuellen Hauptversammlung, sofern nicht ein Fall des § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG vorliegt. Danach kann die Satzung bestimmte Fälle vorsehen, in denen die Teilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen darf. Da sich aus dem Gesetzeswortlaut und der Regierungsbegründung nicht eindeutig ergibt, ob die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung per se ein "bestimmter Fall" im Sinne des § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG ist oder ob darüber hinaus noch besondere Gründe in der Person des Aufsichtsratsmitglieds vorliegen müssen, wurde mit Verweis auf die Gleichwertigkeit der Präsenz-Hauptversammlung und des virtuellen Formats zum Teil vertreten, dass allein die Abhaltung einer virtuellen Versammlung nicht für die Rechtfertigung eines Ausnahmefalls genügen solle.

Dieses Verständnis dürfte auch der vorgeschlagenen Satzungsänderung der Deutsche Bank AG zugrunde liegen, der zufolge Aufsichtsratsmitglieder in aufgezählten Fällen ausnahmsweise im Wege der Bild- und Tonübertragung tNach § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG besteht für die Mitglieder des Aufsichtsrats grundsätzlich eine Pflicht zur Teilnahme an der virtuellen Hauptversammlung, sofern nicht ein Fall des § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG vorliegt. Danach kann die Satzung bestimmte Fälle vorsehen, in denen die Teilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen darf. Da sich aus dem Gesetzeswortlaut und der Regierungsbegründung nicht eindeutig ergibt, ob die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung per se ein "bestimmter Fall" im Sinne des § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG ist oder ob darüber hinaus noch besondere Gründe in der Person des Aufsichtsratsmitglieds vorliegen müssen, wurde mit Verweis auf die Gleichwertigkeit der Präsenz-Hauptversammlung und des virtuellen Formats zum Teil vertreten, dass allein die Abhaltung einer virtuellen Versammlung nicht für die Rechtfertigung eines Ausnahmefalls genügen solle.

Dieses Verständnis dürfte auch der vorgeschlagenen Satzungsänderung der Deutsche Bank AG zugrunde liegen, der zufolge Aufsichtsratsmitglieder in aufgezählten Fällen ausnahmsweise im Wege der Bild- und Tonübertragung teilnehmen können, aber eine regelmäßige Möglichkeit der Teilnahme im Wege der Bild- und Tonübertragung für den Fall der virtuellen Hauptversammlung gerade nicht vorgesehen ist. Dementsprechend begründet die Gesellschaft ihren Vorschlag auch damit, dass die verschiedenen Hauptversammlungsformate "im Einklang mit der gesetzlichen Wertung" nicht unterschiedlich behandelt werden sollen. Auch die BMW AG hat sich – mit ähnlicher Argumentation – dazu entschieden, die Teilnahmepflicht von Aufsichtsratsmitgliedern für den Fall der virtuellen Hauptversammlung nicht zu modifizieren.

Ganz überwiegend wird im Schrifttum jedoch eine allgemeine Befreiung der Aufsichtsratsmitglieder für den Fall der virtuellen Hauptversammlung als zulässig angesehen, da die Anwesenheitspflicht – im Hinblick auf die intendierte Interaktion mit den Aktionären – schon bei der Präsenzversammlung nur bedingten Mehrwert biete, im Fall der virtuellen Hauptversammlung aber schon denklogisch nicht realisiert werden könne. Aus Investorensicht ist die Anpassung der Satzung im Hinblick auf die regelmäßige Möglichkeit von Aufsichtsratsmitgliedern, bei der virtuellen Hauptversammlung im Wege der Bild- und Tonübertragung teilzunehmen, dagegen – soweit ersichtlich – nicht weiter thematisiert worden. Vor diesem Hintergrund wurde in der Hauptversammlungssaison 2023 von 33 Unternehmen und damit von der weit überwiegenden Mehrheit eine entsprechende Satzungsregelung vorgeschlagen.

Beschränkung des Nachfragerechts

Gemäß § 131 Abs. 2 Satz 2 AktG kann die Satzung den Versammlungsleiter dazu ermächtigen, das Fragerecht des Aktionärs zeitlich angemessen zu beschränken, wobei dies nach § 131 Abs. 1d Satz 2 AktG auch für das Nachfragerecht gilt. Teilweise wurde vor diesem Hintergrund angeregt, in bereits bestehenden Satzungsermächtigungen, die nur eine Beschränkungsmöglichkeit im Hinblick auf "Fragen" vorsehen, eine Klarstellung der Beschränkungsmöglichkeit im Hinblick auf Nachfragen aufzunehmen. Dagegen wurde eingewandt, dass die enthaltenen Regelungen regelmäßig das Auskunftsrecht insgesamt erfassen und daher keine Notwendigkeit einer Nachschärfung bestehe. Auch die Praxis hat hierfür überwiegend offenbar kein Bedürfnis gesehen, sodass – soweit ersichtlich – nur vier Gesellschaften (die Continental AG, die Deutsche Post AG, die Deutsche Telekom AG und die Hannover Rück SE) eine entsprechende Klarstellung in der Satzung vorgeschlagen haben; auch die Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG hat in ihrer – vor dem IPO gestalteten Satzung – eine Beschränkungsmöglichkeit des Nachfragerechts vorgesehen (§ 22 Abs. 4 der Satzung).

II. Übertragung der Hauptversammlung

Gemäß § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG ist die gesamte virtuelle Hauptversammlung mit Bild und Ton zu übertragen. Die Übertragung erstreckt sich dabei von der Eröffnung der Versammlung bis zu ihrer Beendigung durch den Versammlungsleiter und hat die gesamte Debatte, einschließlich der Generaldebatte und der Abstimmungen, zu erfassen. Zwar enthält die Vorschrift keine weiteren Vorgaben im Hinblick auf die Art der Übertragung, es ist aber jedenfalls dann anerkannt, dass der Gesellschaft ein Wahlrecht zusteht, ob sie die Übertragung der Hauptversammlung über den Aktionärskreis hinaus auch auf die Öffentlichkeit erstreckt, wenn die Satzung eine Regelung nach § 118 Abs. 4 AktG enthält.

Bei der Bewertung, wie die Gesellschaften die Frage der Publizität in der Hauptversammlungssaison 2023 vor diesem Hintergrund gehandhabt haben, ist darüber hinaus danach zu differenzieren, ob die Gesellschaft Namens- oder Inhaberaktien ausgegeben hat. Hat eine Gesellschaft Inhaberaktien ausgegeben, so kann sie nämlich lediglich zwischen den Optionen entscheiden, die Hauptversammlung für die gesamte Öffentlichkeit zugänglich zu machen oder die Zugänglichkeit der Hauptversammlung auf angemeldete Aktionäre zu beschränken. Gesellschaften, die Namensaktien ausgegeben haben, können hingegen einen "Mittelweg" wählen und die Hauptversammlung auch den Aktionären zugänglich machen, die sich zwar nicht angemeldet haben, die aber anhand des Aktienregisters für die Gesellschaft identifizierbar sind. Diese sind dann gewissermaßen "Gäste" der virtuellen Hauptversammlung.

Von den 16 DAX-Unternehmen, die in diesem Jahr das virtuelle Format ausgewählt haben und die über Namensaktien verfügen, haben zehn Gesellschaften den vorstehend beschriebenen "Mittelweg" gewählt und die Hauptversammlung – unabhängig von einer Anmeldung – für alle Aktionäre übertragen. Drei Gesellschaften mit Namensaktien haben den Zugang auf angemeldete Aktionäre beschränkt, während drei weitere Gesellschaften die Hauptversammlung ohne Beschränkung im Internet übertragen haben. Vier der zwölf Gesellschaften mit Inhaberaktien haben sich ebenfalls für eine unbeschränkte Übertragung entschieden, während acht Gesellschaften nur angemeldeten Aktionären eine Verfolgung der Übertragung ermöglichten.

III. Umgang mit Stellungnahmen von Aktionären

1. Format der Stellungnahmen

In der virtuellen Hauptversammlung unter dem COVMG-Regime, das kein Live-Rederecht der Aktionäre in der Versammlung vorsah, hatte es sich im Sinne einer best practice etabliert, auf freiwilliger Basis auch Stellungnahmen von Aktionären zuzulassen. Unter dem neuen Regime wurde nunmehr ein Stellungnahmerecht in § 130a Abs. 1 AktG festgeschrieben, wobei der Gesellschaft die Ausgestaltung – insbesondere im Hinblick auf das Format – nach dem gesetzgeberischen Willen freigestellt ist.

Unter Ausnutzung dieses Gestaltungsspielraums hat sich mit 20 Unternehmen die Mehrzahl der Gesellschaften dafür entschieden, Stellungnahmen lediglich in Textform zuzulassen. Nur acht Gesellschaften haben demgegenüber auch die Einreichung von Stellungnahmen im Videoformat zugelassen. Das ist konsequent, da das Instrument der Videobotschaft aufgrund des nunmehr zwingenden Live-Rederechts im Wege der Videokommunikation im Grunde überholt ist. Die Merck KGaA und die Vonovia SE haben neben der Einreichung von Stellungnahmen im Text- oder Videoformat außerdem auch Stellungnahmen im Audioformat zugelassen.

2. Begrenzung der Stellungnahmen

§ 130a Abs. 1 Satz 3 AktG sieht vor, dass der Umfang der Stellungnahmen in der Einberufung angemessen beschränkt werden kann, damit der Umgang mit den Stellungnahmen für die Gesellschaft praktikabel gehalten werden kann. In inhaltlicher Hinsicht hatte die Regierungsbegründung insoweit – abstrakt – eine Zeichenbegrenzung bei Beiträgen in Textform bzw. eine Minutenbegrenzung für Videobeiträge angeregt. 

Von dieser Beschränkungsmöglichkeit haben die Gesellschaften differenziert Gebrauch gemacht. So haben 15 Gesellschaften eine verbindliche Beschränkung in ihre Einberufung aufgenommen, während zwölf Unternehmen lediglich eine Guidance vorgegeben haben. Dagegen hat die E.ON SE – abgesehen von einer Vorgabe im Hinblick auf das Format der Stellungnahmen (Textform) – offenbar keine weitere Beschränkung – weder verbindlich noch in Form einer Guidance – in ihre Einberufung aufgenommen.

Im Hinblick auf die inhaltliche Ausgestaltung der Beschränkung wurden überwiegend Vorgaben aufgenommen, die sich mit den zuvor diskutierten Vorschlägen decken. So enthielten die Einberufungen bzgl. Stellungnahmen in Textform regelmäßig eine Vorgabe von maximal 10.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt insoweit die Einberufung der Sartorius AG dar, die Stellungnahmen bis maximal 100.000 Zeichen zulässt. Soweit eine Einreichung von Videostellungnahmen zugelassen worden ist, wurde eine maximale Dauer von drei bzw. fünf Minuten vorgegeben; zum Teil wurden darüber hinaus auch Vorgaben zu den zulässigen Dateiformaten gemacht.

IV. Umgang mit Fragen von Aktionären

1. Vorabeinreichung von Fragen (§ 131 Abs. 1a Satz 1 AktG)

Wie bereits nach Einführung der Neuregelungen prognostiziert, haben die Unternehmen weit überwiegend keinen Gebrauch von der Möglichkeit des § 131 Abs. 1a Satz 1 AktG gemacht, wonach der Vorstand vorgeben kann, dass Fragen der Aktionäre bis spätestens drei Tage vor der Versammlung im Wege der elektronischen Kommunikation einzureichen sind. Denn indem die Antworten auf solche Fragen zwingend vor der Hauptversammlung im Internet zu veröffentlichen sind und auch auf der Hauptversammlung ein normales Back Office zur Beantwortung von (Nach-)Fragen vorgehalten werden muss, ergeben sich für die Gesellschaften durch diese Option so gut wie keine Vorteile. Lediglich die Deutsche Bank AG und die E.ON SE haben eine entsprechende Vorabeinreichung vorgegeben. Interessant ist im Hinblick auf die Deutsche Bank AG, dass die mit der Vorabeinreichung von Fragen verbundene schriftliche Beantwortung im Vorfeld der Hauptversammlung von den Aktionären nicht – wie von der Gesellschaft antizipiert – honoriert worden ist, sondern das Prozedere im Gegenteil auf Kritik gestoßen ist.

Bemerkenswert ist zudem die Vorgehensweise der Sartorius AG. Diese hat ihren Aktionären – über die Vorgaben des § 131 Abs. 1 AktG hinaus – auf freiwilliger Basis (also nicht auf Grundlage des § 131 Abs. 1a Satz 1 AktG) eine zusätzliche Fragemöglichkeit im Vorfeld der Versammlung eingeräumt, wobei die Beantwortung der elektronisch eingereichten Fragen ausschließlich in der Hauptversammlung erfolgt ist.

2. Beschränkung des Auskunftsrechts auf den Weg der Videokommunikation

Sämtliche Gesellschaften, die sich für das Format der virtuellen Hauptversammlung entschieden haben, haben in der Einladung zur Hauptversammlung bei der Beschreibung der Aktionärsrechte darauf Sämtliche Gesellschaften, die sich für das Format der virtuellen Hauptversammlung entschieden haben, haben in der Einladung zur Hauptversammlung bei der Beschreibung der Aktionärsrechte darauf hingewiesen, dass der Versammlungsleiter von der Möglichkeit Gebrauch machen wird, die Ausübung des Fragerechts in der Hauptversammlung auf den Weg der Videokommunikation zu beschränken (vgl. § 131 Abs. 1f AktG). Auch damit war zu rechnen. Denn nur so kann verhindert werden, dass Fragen(kataloge) in Textform eingereicht werden, während die Aktionäre zugleich ihr Rederecht im Wege der Videokommunikation ausüben und auch auf diesem Weg Fragen stellen können (vgl. § 130a Abs. 5 Satz 3 AktG). Im Übrigen wird auf diese Weise – wie es das Anliegen des Gesetzgebers war – die Präsenz-Hauptversammlung nachgestellt.

V. Fazit

Die vorstehende Auswertung zeigt, dass eine doch deutliche Mehrheit der Die vorstehende Auswertung zeigt, dass eine doch deutliche Mehrheit der Unternehmen die Neuregelungen zu virtuellen Hauptversammlungen – trotz der nach Bekanntwerden des Regierungsentwurfs geäußerten Skepsis – als praktisch handhabbar ansieht, sodass sie dem Format der virtuellen Hauptversammlung auch nach Jahren der "COVID-Hauptversammlung" treu geblieben sind. 

Dabei ist wenig überraschend, dass die praktische Handhabung verschiedener Gestaltungsfragen bei den Gesellschaften (teils erheblich) variiert. Die Neuregelungen wurden in Wissenschaft und Praxis unterschiedlich interpretiert; hier dürfte zukünftig eine (weitere) Herausbildung von best practices und eine damit einhergehende Vereinheitlichung zu erwarten sein.

Der Beitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Beobachtungen zur Handhabung der neuen Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung durch die DAX-40-Unternehmen

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Quo vadis, Quali-Matrix? Die Darstellung der Kompetenzen der Aufsichtsratsmitglieder in den Geschäftsberichten 2022 der DAX-40-Unternehmen

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Quo vadis, Quali-Matrix? Die Darstellung der Kompetenzen der Aufsichtsratsmitglieder in den Geschäftsberichten 2022 der DAX-40-Unternehmen

3. April 2023

Mit der Neufassung des Deutschen Corporate Governance Kodex vom 28. April 2022 (DCGK) wurden die Anforderungen an die Darstellung des Stands der Umsetzung des Kompetenzprofils des Aufsichtsrats weiter präzisiert, indem die Empfehlung in C.1 Satz 5 DCGK nunmehr die Veranschaulichung anhand einer Qualifikationsmatrix fordert. 

Da eine solche Darstellung zuvor nicht gefordert war, war die Erstellung einer Qualifikationsmatrix bislang nur von einigen Unternehmen auf freiwilliger Basis erprobt worden (vgl. unseren Blogbeitrag vom 26. Juli 2022). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich bisher keine einheitlichen Standards in Bezug auf die Darstellungsweise, die aufzunehmenden Angaben sowie zahlreiche andere Aspekte herausgebildet haben und Einzelfragen von den Emittenten, die die neue Empfehlung des DCGK zum ersten Mal umsetzen wollten, kontrovers diskutiert wurden. 

Da nunmehr alle DAX-40-Unternehmen ihre Geschäftsberichte für das Geschäftsjahr 2022 veröffentlicht haben, wirft der vorliegende Beitrag einen Blick auf die Umsetzung der neuen Vorgaben durch die 38 der 40 DAX-Unternehmen, die als börsennotierte Gesellschaften nach dem deutschen Aktiengesetz zur Abgabe einer Entsprechenserklärung bezogen auf die Empfehlungen des DCGK verpflichtet sind (nicht berücksichtigt wurden dementsprechend die Airbus SE und die Qiagen N.V.). Ausgewertet wurden dabei diejenigen Unternehmen, die Ende März 2023 zu den DAX-40-Unternehmen zählen. Insoweit wurden auch die Commerzbank AG (anstatt der Linde plc) und die Rheinmetall AG (anstatt der Fresenius Medical Care AG & Co. KGaA) berücksichtigt, die im Februar 2023 bzw. März 2023 in den DAX aufgenommen wurden. Wie an sich nicht anders zu erwarten, ist das Bild, das sich bei der Auswertung ergab, bunt und die Qualifikationsmatrices divergieren teilweise erheblich. Das beginnt bei schlichten Darstellungsfragen, ob beispielsweise die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder in der Kopfzeile genannt werden (so bei der Mehrzahl der Unternehmen) oder in der Kopfspalte (so lediglich bei knapp einem Drittel), und setzt sich bei verschiedenen Einzelthemen, die mehr oder weniger rechtlicher Natur sind, fort. 

Qualifikationsmatrix für das Gesamtgremium

Nach Inkrafttreten der Neufassung des DCGK kam die Frage auf, ob sich die Qualifikationsmatrix tatsächlich auf den gesamten Aufsichtsrat oder nur die Anteilseignervertreter bezieht. Diese Frage wurde schon bezogen auf das vom DCGK seit längerem geforderte Kompetenzprofil nicht ganz einheitlich beantwortet. Auch wenn der Aufsichtsrat keinen Einfluss auf die Durchführung der Wahl der Arbeitnehmervertreter hat, ergibt sich aus dem Wortlaut der verschiedenen Empfehlungen in C.1 DCGK eindeutig, dass der DCGK hier – anders als bei der Frage der Unabhängigkeit – das Gesamtgremium im Blick hat. Zu berücksichtigen ist insoweit auch, dass eine Qualifikationsmatrix, die sich auf das Gesamtgremium (und nicht nur die Anteilseignerseite) bezieht, auch für die Aktionäre einen Mehrwert bietet. Im Übrigen werden so die Gleichwertigkeit und -berechtigung beider Bänke unterstrichen.

Dementsprechend bilden nahezu alle ausgewerteten Qualifikationsmatrices den Stand der Umsetzung des Kompetenzprofils mit Blick auf den gesamten Aufsichtsrat ab, während das Bild bei den Unternehmen, die bereits zuvor eine Matrix "freiwillig" erstellt hatten, noch gemischter war. Mit der Deutschen Post AG hat nur ein einziges Unternehmen, dessen Aufsichtsrat sowohl mit Anteilseigner- als auch mit Arbeitnehmervertretern besetzt ist, ausschließlich den Stand der Umsetzung bezüglich der Anteilseignervertreter abgebildet. Alle übrigen ausgewerteten Matrices weisen jeweils beide Seiten aus. Die Darstellung erfolgt dabei zum Teil anhand von zwei getrennten Matrices (z.B. Adidas AG, Bayer AG, E.ON SE) und zum Teil in einer einheitlichen Tabelle unter Kennzeichnung in einer Fußnote, welche Mitglieder welcher Bank angehören (z.B. Covestro AG, Beiersdorf AG, Daimler Truck Holding AG). 

Aufnahme von weiteren Zielen für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats in die Matrix

Die ausgewerteten Qualifikationsmatrices unterscheiden sich vom Aufbau her vor allem dadurch, ob sie neben dem Ausweis der bei den einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern vorhandenen Kompetenzen auch andere Ziele für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats – wie etwa Diversität, Dauer der Gremienzugehörigkeit, "Overboarding" und Unabhängigkeit – abbilden. 

Im Ergebnis haben ca. 82 % der Unternehmen in ihrer Matrix noch weitere Aspekte aufgenommen, während rund 18 % – wohl ausgehend von der Begründung zu Empfehlung C.1 DCGK (Begründung der Regierungskommission zu den beschlossenen Änderungen vom 28. April 2022, S. 6) – die Darstellung auf das Kompetenzprofil im engeren Sinne beschränkt haben. Dabei wurden Angaben zur Unabhängigkeit und zur Diversität am häufigsten in die Matrix aufgenommen (ca. 70 % bzw. 65 %), gefolgt von Angaben zum Bestelldatum (63 %). Angaben zum Overboarding (37 %) wurden von den vier untersuchten Kriterien am seltensten aufgenommen.

Anzahl der Kompetenzen in der Matrix

Die Anzahl der in der Matrix aufgenommenen fachlichen Qualifikationen, die unter das Kompetenzprofil im engeren Sinne fallen, geht deutlich auseinander. Zwar ist die Zählweise teilweise mit Unsicherheiten behaftet bzw. nicht komplett trennscharf, was insbesondere an der Bildung von Subkategorien, etwa bei den Aussagen zu Finanzen und ESG (dazu näher unten), liegt. Gleichwohl ist die Spanne mit der Aufnahme von fünf (Daimler Truck Holding AG) bis zu 23 Kompetenzen (Fresenius SE & Co. KGaA) doch überraschend weit. Aus der nachfolgenden Übersicht wird die Spannbreite der in die Matrix aufgenommenen Kompetenzen ersichtlich.

Zum Teil findet keine trennscharfe Unterscheidung zwischen dem Kompetenzprofil im engeren Sinne und weiteren Qualifikationen statt. Die vorliegend angewandte Zählweise erfolgte im Wesentlichen anhand der konkreten Darstellung des jeweiligen Unternehmens. Das bedeutet, dass eine Kompetenz gezählt wurde, wenn sie eindeutig als solche (z.B. unter der Überschrift "Fachliche Eignung") in die Matrix aufgenommen wurde. Unabhängig von der Verortung in der Matrix wurde der Aspekt der Unabhängigkeit nicht mitgezählt, da es sich insoweit nicht um eine Kompetenz handelt. Gleiches gilt für den Aspekt der Mandatslast (vgl. Rheinmetall AG).

Im Fall der Untergliederung einer Kompetenz, wurde auch diese Untergliederung berücksichtigt und die einzelnen Subkategorien dementsprechend als jeweils eine Kompetenz gezählt (z.B. Aufgliederung der Finanzkompetenz in Abschlussprüfung und Rechnungslegung; vgl. etwa BMW AG, Fresenius SE & Co. KGaA). 

Sehr uneinheitlich wurde insbesondere der Aspekt der Internationalität gehandhabt. Dies ist offenbar insbesondere davon abhängig, ob das Element der Diversität im Vordergrund steht oder aber eher Erfahrungen im internationalen Bereich gefordert werden. So wird eine etwaig vorliegende Internationalität oder internationale Erfahrungen der Aufsichtsratsmitglieder von manchen Unternehmen unter die Diversität gefasst (z.B. Daimler Truck Holding AG) und teilweise unter das Kompetenzprofil im engeren Sinne (z.B. Hannover Rück SE).  Vereinzelt weisen die Unternehmen dem Aspekt der Internationalität den geschilderten Einordnungsschwierigkeiten entsprechend eine Zwischenstellung zu. So weist etwa die Qualifikationsmatrix der Continental AG die Internationalität farblich abgesetzt neben denjenigen Kompetenzfeldern aus, die eindeutig dem Kompetenzprofil im engeren Sinne unterfallen. Die Qualifikationsmatrix der Siemens AG enthält eine eigene Kategorie "Internationale Erfahrung", die zwischen den Kategorien "Diversität" und "Fachliche Eignung" verortet ist. Zudem wird die Kategorie für die Anteilseignervertreter nach Weltregionen weiter untergliedert, während für die Arbeitnehmervertreter eine solche Untergliederung nicht erfolgt. In den beiden letztgenannten Zweifelsfällen haben wir die Internationalität im Ergebnis jeweils samt Unterkategorien mitgezählt.

Nähere Angaben zu den Anforderungen an die Kenntnisse

Mit Blick auf die abgebildeten Kompetenzen enthält der Großteil der ausgewerteten Matrices (ca. 60 %) keine Angabe dazu, welche Anforderungen die jeweiligen Unternehmen an das Vorliegen entsprechender Kenntnisse stellen. Demgegenüber enthalten ca. 21 % Matrices nähere Angaben dazu, wie das jeweilige Unternehmen Grundkenntnisse hinsichtlich eines Kompetenzfeldes definiert (z.B. Deutsche Bank AG, Münchener Rückversicherung AG, Siemens Energy AG). 

Darüberhinausgehend enthalten insgesamt ca. 11 % der Matrices Angaben zu einer Skala, hinsichtlich derer eine bestimmte Stufe für das Vorliegen einer Kompetenz erreicht werden muss. So heißt es beispielsweise in einer Fußnote zur Matrix der Siemens Energy AG "Ein Haken bedeutet zumindest 'Gute Kenntnisse' und damit die Fähigkeit, auf Basis bereits vorhandener Qualifikation und von den Aufsichtsratsmitgliedern wahrgenommenen Fortbildungsmaßnahmen die einschlägigen Sachverhalte gut nachvollziehen und informierte Entscheidungen treffen zu können. Auf einer Skala von 1 (höchste Wertung) bis 5 (niedrigste Wertung) entspricht dies einer Bewertung mit zumindest 2" (vgl. S. 152 des Geschäftsberichts 2022 der Siemens Energy AG).

Zwei Matrices enthalten zudem Informationen über die Abstufungen der Kenntnisse der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder. In der Matrix der Covestro AG wird beispielsweise mittels farblicher Abstufungen (hell, mittel und dunkel) dargestellt, ob es sich um Grundkenntnisse, profunde Kenntnisse oder tiefgreifendere Kenntnisse handelt. Bei der Fresenius SE & Co. KGaA werden ein oder zwei Haken vergeben, je nachdem, ob das betreffende Aufsichtsratsmitglied lediglich eine "generelle Kompetenz" oder eine "spezielle Kompetenz" hat.

Die Auswertung zeigt zudem, dass die Unternehmen im Ergebnis mit der Annahme entsprechender Kompetenzen nicht zurückhaltend waren. Demgegenüber hat die Vonovia SE offenbar als einziges DAX-Unternehmen vorgegeben, dass die Aufsichtsratsmitglieder Kenntnisse in Bezug auf maximal fünf der acht Kompetenzen angeben durften. Dieses Ergebnis ist interessant, weil im Zusammenhang mit der erstmaligen Erstellung der Matrix auch die Frage diskutiert wurde, inwieweit mit der Aufnahme bestimmter Kompetenzen in der Matrix ggf. eine Haftungsverschärfung für diejenigen Aufsichtsratsmitglieder, denen bestimmte Kompetenzen zugeschrieben werden, einhergeht. Zudem werden sich insbesondere diejenigen Unternehmen, deren Aufsichtsratsmitglieder zahlreiche Kompetenzen angenommen haben, in der Hauptversammlung ggf. auf Nachfragen der Aktionäre hierzu einstellen müssen.

Auffächerung der ESG-Kompetenzen in der Matrix

Mit der Neufassung des DCGK geht eine verstärkte Ausrichtung auf nachhaltige Unternehmensführung einher. Dementsprechend soll das Kompetenzprofil des Aufsichtsrats nunmehr auch Expertise zu den für das Unternehmen bedeutsamen Nachhaltigkeitsfragen umfassen. Im Rahmen der Darstellung der Angaben zur ESG-Kompetenz lassen sich im Wesentlichen drei Handhabungen unterscheiden. 

Von den allermeisten Unternehmen wird die Kompetenz in der Matrix alleine unter dem Titel "ESG" oder "Nachhaltigkeit" aufgeführt, ohne dabei zwischen den unterschiedlichen Bereichen, d.h. Environment, Social und Governance, zu differenzieren (rund 84 %). Eine solche Auffächerung erfolgt nur in zwei Matrices, nämlich bei der Adidas AG und der Daimler Truck Holding AG, indem angegeben wird, für welchen Teilaspekt die Kompetenz gegeben ist. Des Weiteren bilden vier Matrices eine Auffächerung zwischen den Kategorien Environment und Social ab. Dies liegt insofern auf der Linie des DCGK, für den das "G" von ESG gewissermaßen eine Selbstverständlichkeit ist. Insofern wird in der Begründung des DCGK ausgeführt: "Der in der überarbeiteten Fassung des Kodex verwendete Begriff der Nachhaltigkeit meint auf die Umwelt (Ökologie) und auf Soziales bezogene Ziele" (Begründung der Regierungskommission zu den beschlossenen Änderungen vom 28. April 2022, S. 6).

Weitere zahlenmäßige Vorgaben bei der Festlegung des Kompetenzprofils

Ein weiterer interessanter Aspekt, der allerdings nicht direkt in der über den Umsetzungstand berichtenden Qualifikationsmatrix zum Ausdruck kommt, sondern in dem eigentlichen Kompetenzprofil, ist die Frage, inwiefern die Unternehmen zahlenmäßige Vorgaben in Bezug auf Zielvorgaben des Kompetenzprofils machen, d.h. inwieweit sie festlegen, dass eine bestimmte Anzahl an Aufsichtsratsmitgliedern eine bestimmte Kompetenz erfüllen muss. Ebenso denkbar sind zahlenmäßige Vorgaben in Bezug auf Aspekte der Diversität, wie z.B. Herkunft oder das Alter. Solche Vorgaben lassen sich denknotwendig nicht allein an den in der Qualifikationsmatrix gesetzten Häkchen erkennen. Für solche weitergehenden Anforderungen kann die durch das Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) neugefasste Regelung des § 100 Abs. 5 AktG als Vorbild dienen, wonach mindestens ein Aufsichtsratsmitglied über Sachverstand auf dem Gebiet der Abschlussprüfung und ein weiteres auf dem Gebiet der Rechnungslegung verfügen muss, die Gesellschaft also mindestens über zwei Finanzexperten verfügen muss. 

Im Ergebnis verzichten die Gesellschaften aktuell aber ganz überwiegend darauf, weiteren Vorgaben zu machen, wie viele einzelne Aufsichtsratsmitglieder eine bestimmte Kompetenz aufweisen müssen. Nur ca. 34 % der Kompetenzprofile enthalten derartige Vorgaben in Bezug auf das Kompetenzprofil im engeren Sinne. Bei der Auswertung wurde die gesetzliche Vorgabe zu zwei Finanzexperten gemäß § 100 Abs. 5 AktG nicht berücksichtigt. Soweit Unternehmen allerdings vorgeben, dass mindestens ein Mitglied Kenntnisse oder Erfahrungen auf einem bestimmten Gebiet haben soll, wurde dies berücksichtigt, da hiermit zumeist erhöhte Anforderungen jedenfalls an die eine Person gestellt werden (vgl. zum Beispiel die Ausführungen auf S. 48 des Geschäftsberichts 2022 der Allianz SE, wonach mindestens ein Mitglied mit ausgeprägter Erfahrung im Versicherungs- und Finanzdienstleistungsgeschäft vorhanden sein muss).

Der Aufsichtsrat der Mercedes-Benz Group AG soll beispielsweise mit mindestens drei Mitgliedern besetzt sein, die Kenntnisse oder Erfahrungen in den aufgezählten Bereichen, wie Finanzen, Strategie oder Digitalisierung / IT mitbringen (vgl. S. 185 des Geschäftsberichts 2022 der Mercedes-Benz Group AG). Mit Blick auf die Diversität des Aufsichtsrats sieht das Profil der Porsche AG beispielsweise vor, dass mindestens zwölf Aufsichtsratsmitglieder im Zeitpunkt ihrer Wahl das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (vgl. S. 127 des Geschäftsberichts 2022 der Porsche AG).

Zusätzliche Veröffentlichung der Qualifikationsmatrix auf der Homepage 

Neben der Veröffentlichung der Matrix im Geschäftsbericht stellen – soweit ersichtlich – nur sechs der ausgewerteten Unternehmen ihre Matrix zusätzlich auch auf ihrer Homepage zur Verfügung.

Sofern die jeweilige Matrix auch auf der Homepage der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird, ist zu erwarten, dass diese bei Veränderungen im Aufsichtsrat auch unterjährig aktualisiert wird. Es stellt sich dann für die Unternehmen die Frage, ob der gesamte Aufsichtsrat damit zu befassen ist. Dies ist richtigerweise zu bejahen, da die Qualifikationsmatrix auf einer Selbsteinschätzung des Aufsichtsrats basiert, für die eine entsprechende Grundlage erforderlich ist.

Fazit

In einer Gesamtschau lässt sich festhalten, dass die Unternehmen die neue Empfehlung des DCGK auf sehr unterschiedliche Weise umgesetzt haben. Allerdings sind nach der ersten verpflichtenden Veröffentlichung der Matrices in den Geschäftsberichten 2022 gewisse Vereinheitlichungen zu erwarten, da sich die Unternehmen einen Überblick über die Umsetzungspraxis im Markt verschaffen können und ggf. auch Feedback der Investoren berücksichtigen werden.

Aktuell führen die Unterschiede in der Darstellung dazu, dass die vergleichende Auswertung der Matrices für Investoren erschwert wird. Unter anderem aus diesem Grund ist nicht auszuschließen, dass in Zukunft der Ruf nach einer Mustertabelle, z.B. in Anlehnung an die Vergütungstabellen des DCGK in der Fassung aus 2017, laut werden wird. Aufgrund der Individualität der Unternehmen spricht aus unserer Sicht allerdings Vieles dafür, den Unternehmen Freiheit in Bezug auf die Ausgestaltung der Matrix zu belassen und die Praxis nicht durch starre Mustermatrices einzuengen.

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Das Recht der fehlerhaften Gesellschafterbeschlüsse – Neuerungen durch das MoPeG

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Das Recht der fehlerhaften Gesellschafterbeschlüsse – Neuerungen durch das MoPeG

28. Februar 2023

Alle grundlegenden Entscheidungen in einer Personengesellschaft gehen auf deren Gesellschafter zurück und werden von diesen regelmäßig im Rahmen einer Gesellschafterversammlung gemeinsam durch Beschluss getroffen. Bei der Aktiengesellschaft werden Beschlüsse von ihrer Hauptversammlung gefasst. Wenn bei der Vorbereitung oder Durchführung der Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung und der Beschlussfassung Fehler passieren, stellt sich die Frage, ob und wie sich diese Fehler auf die Wirksamkeit des Beschlusses auswirken und welche Rechtsmittel den Gesellschaftern bzw. Aktionären gegen solch fehlerhafte Beschlüsse zustehen.

Dies hängt entscheidend von der Rechtsform der Gesellschaft und den für sie geltenden gesetzlichen Regelungen ab, die gerade mit Blick auf das Beschlussmängelrecht grundlegend verschieden sind. Sie unterscheiden sich insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen von Fehlern bei der Beschlussfassung und der Möglichkeit ihrer gerichtlichen Geltendmachung. Es gibt daher kein einheitliches gesellschaftsrechtliches Beschlussmängelrecht, sondern dieses ist streng rechtsformspezifisch. Dies wurde in der Vergangenheit bereits vielfach kritisiert – nicht zuletzt, weil sich in der Praxis oftmals schwierige Abgrenzungsprobleme zeigten. Das zum 1. Januar 2024 in Kraft tretende Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (kurz: MoPeG) soll diese Kritik aufgreifen und Abhilfe schaffen.

Dieser Blogbeitrag setzt unsere Beitragsreihe zu den durch das MoPeG eintretenden gesetzlichen Neuerungen fort, indem er die Grundlagen der einzelnen, in den verschiedenen Gesellschaftsformen derzeit herrschenden Beschlussmängelregimes vorstellt und die diesbezüglichen gesetzlichen Neuerungen für Personenhandelsgesellschaften zusammenfasst. Abschließend wird eine kurze Bewertung der Reform des Beschlussmängelrechts für die Praxis vorgenommen.

I. Überblick über die Beschlussmängelregimes der verschiedenen Gesellschaftsformen

1. Beschlussmängelrecht der AG

Ein umfassendes Beschlussmängelrecht ist bislang nur für die Aktiengesellschaft in den §§ 241 ff. AktG gesetzlich geregelt. Dort wird unterschieden zwischen nichtigen und anfechtbaren Beschlüssen der Hauptversammlung. Nichtig sind deren Beschlüsse, wenn sie auf besonders schwerwiegenden Fehlern beruhen, die die Einberufung der Hauptversammlung, die Beurkundung des Beschlusses oder dessen Inhalt betreffen. Etwa ist ein Beschluss nichtig, wenn er in einer Hauptversammlung gefasst worden ist, die nicht durch den Vorstand mit der erforderlichen Mehrheit einberufen worden ist und die Einberufung zugleich nicht die Firma, den Sitz der Gesellschaft sowie Zeit und Ort der Hauptversammlung enthält. Ein solcher Fehler kann mit der Nichtigkeitsklage geltend gemacht werden. Als Folge seiner Nichtigkeit entfaltet der Beschluss von Beginn an keine Rechtswirkungen. 

Lediglich anfechtbar sind Beschlüsse bei der AG dagegen bei weniger schwerwiegenden Verstößen gegen das Gesetz oder die Satzung. Solche Beschlüsse sind trotz ihrer Fehlerhaftigkeit vorläufig verbindlich, bis sie vom Gericht aufgrund der eigens hierfür vorgesehenen Anfechtungsklage für nichtig erklärt werden. Zur Anfechtbarkeit eines Beschlusses führt etwa ein Verstoß gegen das Gebot der Gleichbehandlung der Aktionäre.

2. Beschlussmängelrecht der GmbH

Für die GmbH existieren dagegen keine eigenen gesetzlichen Vorschriften zu Beschlussmängeln. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH werden indes die aktienrechtlichen Vorschriften auf Beschlussfassungen in der GmbH grundsätzlich analog angewendet, soweit diesen nicht die gesellschaftsrechtlichen Strukturen und Besonderheiten der GmbH im Unterschied zur AG entgegenstehen. Wann genau dies der Fall ist und welche Regeln dann für die GmbH gelten, ist bislang durch die Rechtsprechung nur für Einzelfälle, jedoch nicht allgemein und abschließend geklärt, sodass insoweit eine erhebliche Rechtsunsicherheit besteht.

3. Beschlussmängelrecht der Personengesellschaften

Bislang gibt es auch keine gesetzlichen Regelungen zu fehlerhaften Beschlüssen in Personengesellschaften. In vielen Gesellschaftsverträgen der Personengesellschaften finden sich Regelungen zum Beschlussmängelrecht, die sich an jenem der AG mit Nichtigkeits- und Anfechtungsklage orientieren. Denn im Gegensatz zur GmbH lehnt die ganz überwiegende Auffassung eine analoge Anwendung der aktienrechtlichen Vorschriften auf Beschlussmängel bei den Personengesellschaften grundsätzlich ab. Stattdessen gilt bislang, – falls keine abweichenden gesellschaftsvertraglichen Regelungen getroffen worden sind – dass jeder Gesellschafterbeschluss, der gegen formelles oder materielles Recht verstößt, automatisch nichtig ist, sofern der Rechtsverstoß Auswirkungen auf das Abstimmungsergebnis hat. Ein solcher Beschluss hat damit von Beginn an keine Verbindlichkeit für die Gesellschaft und ihre Gesellschafter. Geltend gemacht werden kann die Nichtigkeit von Beschlüssen der Personengesellschaften mit der allgemeinen Feststellungsklage der ZPO. Eine bloße Anfechtbarkeit von Beschlüssen kennt das Personengesellschaftsrecht hingegen bislang nicht.

II. Das Beschlussmängelrecht nach dem MoPeG

Der Umstand, dass für die genannten Gesellschaftsformen unterschiedliche Beschlussmängelregimes gelten, wird seit langem von der Rechtsliteratur kritisiert. Insbesondere bei der GmbH & Co. KG haben sich diese unterschiedlichen Regelungen bislang in besonderem Maße ausgewirkt, da die Auswirkungen und Folgen von Beschlussfehlern in der GmbH und der KG wegen der insoweit unterschiedlichen rechtlichen Behandlung voneinander abweichen. Auch, dass Beschlüsse der Personengesellschaften ohne Weiteres bei Rechtsverstößen nichtig sind, wird wegen der sich daraus ergebenden Rechtsunsicherheit bemängelt. Mit dem zum 1. Januar 2024 in Kraft tretenden MoPeG wird das Gesetz nunmehr umfassende Regelungen zu Beschlussmängeln für die Personengesellschaften treffen.

1. Geltung nur für Personenhandelsgesellschaften (OHG, KG und GmbH & Co. KG)

Das mit dem MoPeG neu eingeführte Beschlussmängelrecht wird allerdings lediglich für die Personenhandelsgesellschaften (d.h. für die OHG, die KG und mithin auch für die GmbH & Co. KG) gelten. Keine Anwendung wird es hingegen auf die GbR finden – und zwar in sämtlichen im MoPeG für die GbR vorgesehenen Formen: der nicht rechtsfähigen und der rechtfähigen GbR sowie der eingetragenen GbR. Gleiches gilt für die PartG. Für diese beiden Gesellschaftsformen – GbR und PartG – wird es bei dem bislang geltenden Nichtigkeitsmodell bleiben. In dieser ungleichen Behandlung der Personengesellschaften in Bezug auf Beschlussmängel liegt – zu Recht – ein zentraler Kritikpunkt des durch das MoPeG eingeführten Beschlussmängelrechts.

Darüber hinaus wird in der Literatur bereits lebhaft diskutiert, ob künftig eine analoge Anwendung des durch das MoPeG eingeführten Beschlussmängelrechts auf die GmbH geboten ist, da es der Interessenlage der Gesellschafter dieser ebenso eher personalistisch geprägten Gesellschaftsform eher entsprechen könnte als die bisher durch die Rechtsprechung herangezogene Analogie zum AktG. 

2. Neuerungen des Beschlussmängelrecht für die Personenhandelsgesellschaften

Nach Inkrafttreten des MoPeG wird künftig auch das HGB in seinen §§ 110 ff. für die Personenhandelsgesellschaften zwischen nichtigen und anfechtbaren Beschlüssen unterscheiden. Dieses Modell ist angelehnt an die Regelungen des AktG, wobei jedoch die personalistischen Strukturen der Personenhandelsgesellschaften angemessen berücksichtigt sind. So werden – abweichend vom aktienrechtlichen Modell – Beschlüsse nichtig sein, die gegen Rechtsvorschriften verstoßen, auf deren Einhaltung die Gesellschafter nicht verzichten können. Hierzu zählt etwa ihr Recht zur Teilnahme an Gesellschafterversammlungen einschließlich ihres Rede- und Antragsrechts. Damit wird der Fokus hier auf den Kernbereich der Gesellschafterrechte gelegt, insbesondere etwa ihr Kontroll- und Informationsrecht sowie ihr Recht zur Teilnahme an der Gesellschafterversammlung einschließlich ihres Rede- und Antragsrechts. Verstöße gegen andere gesetzliche oder gesellschaftsvertragliche Vorgaben werden lediglich zur Anfechtbarkeit von Beschlüssen führen.

Als Folge der eingeführten Unterscheidung zwischen nichtigen und anfechtbaren Beschlüssen führt das HGB nunmehr ebenfalls eine Nichtigkeits- und eine Anfechtungsklage ein. Zu beachten ist dabei insbesondere die für die Anfechtungsklage geltende Klagefrist von grundsätzlich drei Monaten. Diese Frist kann vertraglich auf bis zu einen Monat verkürzt, nicht aber verlängert werden. Für die Nichtigkeitsklage ist hingegen keine Klagefrist vorgesehen.

III. Ausblick für die Praxis

Mit der Kodifizierung eines Beschlussmängelregimes durch das MoPeG sind wiederum rechtsformspezifische Regelungen geschaffen worden, die einen weiteren Rechtsrahmen für Beschlussmängel stecken, der jedoch ausschließlich für die Personenhandelsgesellschaften (OHG und KG, insbesondere GmbH & Co. KG) gelten wird. Während die Behandlung von Beschlussmängeln in Personengesellschaften – soweit keine gesellschaftsvertraglichen Regelungen getroffen worden sind – bisher einheitlich erfolgte, wird hier künftig zwischen den Personenhandelsgesellschaften einerseits und der GbR und der PartG andererseits zu differenzieren sein.

Das neue Beschlussmängelrecht für die Personenhandelsgesellschaften wartet nicht erst im Rahmen von Beschlussmängelstreitigkeiten auf eine weitere Ausgestaltung durch die Rechtsprechung; diese soll sich nach dem Regierungsentwurf zum MoPeG vielmehr an der Rechtsprechung zu Beschlussmängeln bei der GmbH orientieren. Auch im Vorfeld sollten die Gesetzesänderungen zum Beschlussmängelrecht durch das MoPeG bei der Gestaltung von Gesellschaftsverträgen berücksichtigt werden und können im Einzelfall bereits jetzt eine Revision der bestehenden Verträge gebieten.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Das Recht der fehlerhaften Gesellschafterbeschlüsse – Neuerungen durch das MoPeG

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Insolvenzgericht Ludwigshafen: Sozialversicherungsbeiträge sind keine Steuern – Keine analoge Anwendung von § 15b Abs. 8 InsO auf Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Insolvenzgericht Ludwigshafen: Sozialversicherungsbeiträge sind keine Steuern – Keine analoge Anwendung von § 15b Abs. 8 InsO auf Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung

14. Februar 2023

Das Amtsgericht – Insolvenzgericht – Ludwigshafen hat mit seinem Beschluss vom 12. Dezember 2022 (Az.: 3a IN 389/22), der kürzlich veröffentlicht wurde, ein Schlaglicht auf die Haftung von Geschäftsleitern für Zahlungen, die diese nach Eintritt der Insolvenzreife der Gesellschaft vornehmen, geworfen. Konkret erteilt das Amtsgericht Ludwigshafen einer analogen Anwendung der Regelung des § 15b Abs. 8 InsO auf Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung eine Absage.

Auch wenn es sich um eine erste Entscheidung eines Gerichts zur Frage der analogen Anwendung von § 15b Abs. 8 InsO auf Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung handelt, dürften die Ausführungen des Gerichts von großer Bedeutung für die insolvenzrechtliche Praxis sein und eine erste Richtungsentscheidung für die künftige Diskussion darstellen. Denn seit der Einführung der gesetzlichen Neuregelung des § 15b Abs. 8 InsO mit Wirkung zum 1. Januar 2021 war die Frage der analogen Anwendung dieser Vorschrift auf Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung Gegenstand lebhafter Diskussionen in der juristischen Literatur sowie Insolvenzpraxis, in der – soweit ersichtlich – eine Mehrheit bislang für eine analoge Anwendung der Vorschrift plädierte.

I. Die Regelung von § 15b Abs. 8 InsO im Kontext der Haftung von Geschäftsleitern für Zahlungen nach Insolvenzreife

Nach der gesetzlichen Regelung des § 15b Abs. 1 InsO haften Geschäftsleiter, wie bereits zuvor nach den spezialgesetzlichen Vorschriften (wie z.B. § 64 GmbHG a.F. oder § 130a HGB a.F.), grundsätzlich persönlich und unbegrenzt für sämtliche Zahlungen der Gesellschaft, die nach Eintritt der Insolvenzreife der Gesellschaft gem. § 15a InsO vorgenommen werden und die nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar sind (sog. verbotene Zahlungen).

Da diese Haftung für den Geschäftsleiter schnell finanziell existenzbedrohende Ausmaße annehmen kann, sollten diese in der wirtschaftlichen Krise der Gesellschaft stets prüfen, ob die Gesellschaft noch über ausreichend finanzielle Mittel verfügt oder (bereits) eine Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO oder eine Überschuldung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO vorliegt. Denn liegt eine Insolvenzreife der Gesellschaft vor, sind die Geschäftsleiter zur Vermeidung der vorgenannten persönlichen Haftung, aber auch von Strafbarkeitsrisiken, verpflichtet, fristgerecht einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen.

Ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife nach § 15a InsO sollten und müssen Geschäftsleiter daher genau prüfen, ob die Bezahlung einer berechtigten und fälligen Forderung eines Gläubigers trotz Insolvenzreife der Gesellschaft (ausnahmsweise) mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar ist.

1. Pflichtenkollision bei Steuern und Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung

Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext sind solche fälligen Verbindlichkeiten, bei bzw. durch deren Nichtzahlung sich der Geschäftsleiter der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen würde. Dies gilt insbesondere für die Entrichtung der Steuern der Gesellschaft sowie die Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung, für deren fristgerechte und vollständige Erfüllung Geschäftsleiter nach §§ 34, 69 AO bzw. § 266a StGB persönlich verantwortlich sind und strafrechtlich haften. Ab Eintritt der Insolvenzreife befindet sich der Geschäftsleiter daher in einem Spannungsfeld der Pflichtenkollision oder vereinfacht gesagt: Er sitzt zwischen zwei Stühlen. Bezahlt er die fälligen Steuerverbindlichkeiten der Gesellschaft oder führt er die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung ab, verletzt er den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung und setzt sich einer persönlichen Haftung nach § 15b InsO aus. Führt er die fälligen Steuern und Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung jedoch nicht ab, setzt er sich der beschriebenen Gefahr der Strafbarkeit aus.

Um dieses Haftungsdilemma für den Geschäftsleiter aufzulösen, hatte der Bundesgerichtshof in der sog. "Pflichtenkollisionsrechtsprechung" entschieden, dass die Massesicherungspflicht des Geschäftsleiters ab Insolvenzreife der Gesellschaft hinter die Verpflichtung zur Abführung der Lohnsteuer und Umsatzsteuer an den Fiskus sowie der Arbeitnehmerbeiträge an die Sozialversicherung zurücktrete (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, zuletzt mit Urteil vom 25. Januar 2011, Az.: II ZR 196/09). In der Folge begründeten entsprechende Zahlungen keine Haftung des Geschäftsleiters.

2. Regelung des § 15b Abs. 8 InsO

Der Gesetzgeber hat für diese Pflichtenkollision mit der Einführung der Regelung von § 15b Abs. 8 InsO durch das Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz (SanInsFoG) im Hinblick auf Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis einen gesetzlichen Ausweg für Geschäftsleiter geschaffen.

Nach der Regelung des § 15b Abs. 8 S. 1 InsO liegt eine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten durch den Geschäftsleiter nicht vor, wenn er in dem Zeitraum zwischen Eintritt der Insolvenzreife der Gesellschaft und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt, sofern der Geschäftsleiter einer Verpflichtung nach § 15a InsO nachkommt und rechtzeitig einen Insolvenzantrag stellt. Damit wird die Pflicht des Geschäftsleiters zur Abführung von Steuern nach §§ 34, 69 AO temporär ausgesetzt und die bislang faktisch zugunsten des Fiskus bestehende Privilegierung gegenüber anderen Gläubigern beseitigt.

Führt der Geschäftsleiter in dem Zeitraum zwischen Insolvenzreife der Gesellschaft und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag jedoch gleichwohl Lohn- und Umsatzsteuer an den Fiskus ab, haftet er dafür in der Insolvenz der Gesellschaft nach § 15b Abs. 1, Abs. 4 S. 1 InsO. Schließlich ist aufgrund der Sonderregelung des § 15b Abs. 8 InsO klargestellt, dass Steuerzahlungen während der Insolvenzantragspflicht nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind.

Der Ausweg gilt jedoch nur dann, wenn der Geschäftsleiter den Insolvenzantrag innerhalb des Zeitraums von § 15a InsO stellt. Stellt er den Insolvenzantrag nicht oder nicht fristgerecht, befindet er sich in der vorstehend beschriebenen Pflichtenkollision. Die Abführung von fälligen Steuern im Stadium der Insolvenzverschleppung an den Fiskus stellt einen Verstoß gegen die Massesicherungspflicht dar und begründet eine persönliche Haftung des Geschäftsleiters nach § 15b InsO. Führt der Geschäftsleiter die Steuern hingegen nicht ab, haftet er nach §§ 69, 34 AO gegenüber der Finanzverwaltung. Zu beachten ist dabei auch, dass die Pflichtenkollisionsrechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Stadium der Insolvenzverschleppung aufgrund der Regelung des § 15b Abs. 8 InsO nicht mehr fortgelten dürfte. Schließlich hat der Gesetzgeber durch diese Regelung ein gesetzliches Regel-/Ausnahmeverhältnis hin zur Haftung der Geschäftsleiter vorgegeben.

Obwohl sich die Regelung des § 15b Abs. 8 InsO nach ihrem – insoweit eindeutigen – Wortlaut nur auf steuerrechtliche Zahlungspflichten bezieht, ist unmittelbar nach Verabschiedung des SanInsFoG durch den Gesetzgeber eine kontroverse Diskussion in der juristischen Literatur entfacht, ob die Regelung auf die Pflicht zur Abführung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung analog anzuwenden ist oder nicht. Dabei überwiegt – soweit ersichtlich – die Zahl derjenigen Stimmen, die sich für eine Analogie der Vorschrift auf die Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung aussprachen. Die für eine analoge Anwendung erforderliche planwidrige Regelungslücke wurde von diesen Stimmen mit der Geschwindigkeit des Gesetzgebungsverfahrens begründet, da die Regelung des § 15b Abs. 8 InsO erst kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens durch den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz eingeführt wurde.

II. Beschluss des AG Ludwigshafen vom 12. Dezember 2022 (AZ.: 3a in 389/22)

Mit dem Amtsgericht – Insolvenzgericht – Ludwigshafen hat sich nun – soweit bekannt – erstmals ein Gericht mit der Frage befasst, ob die Regelung des § 15b Abs. 8 InsO auf Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung analog anwendbar ist.

1. Sachverhalt der Entscheidung

Dem Beschluss des Amtsgerichts Ludwigshafen lag folgender – verkürzter – Sachverhalt zugrunde:

Die Insolvenzschuldnerin hatte am 9. Dezember 2022 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen verbunden mit dem Antrag auf Anordnung der (vorläufigen) Eigenverwaltung gestellt. Das Amtsgericht Ludwigshafen hat mit Beschluss vom selben Tage die Eigenverwaltung angeordnet und einen vorläufigen Sachwalter bestellt. Sodann hat die Insolvenzschuldnerin gegenüber dem Insolvenzgericht die Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts hinsichtlich der im November 2022 und Dezember 2022 entstehenden Sozialversicherungsbeiträge angeregt. Zur Begründung führte die Insolvenzschuldnerin aus, es sei davon auszugehen, dass viele Lieferanten mit der Einleitung des vorläufigen Insolvenzverfahrens auf Vorkasse umstellen würden, was zu einer erheblichen Liquiditätsbelastung führe. Daher käme eine unter Hinweis auf die Insolvenzlage erfolgende Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge mit anschließender Anfechtung im eröffneten Verfahren nicht in Betracht. Diese entziehe dem Unternehmen die notwenige Liquidität, die zur Fortführung des Geschäftsbetriebs im Eröffnungsverfahren unabdingbar sei.

2. Inhalt der Entscheidung des AG Ludwigshafen

Das Insolvenzgericht hat daraufhin angeordnet, dass die Insolvenzschuldnerin Zahlungen auf Beiträge der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung i.S.v. § 266a StGB nur mit Zustimmung des vorläufigen Sachwalters leisten dürfte.

Die Erforderlichkeit der Anordnung des beschränkten Zustimmungsvorbehalts hat das Gericht damit begründet, dass nur so eine nachteilige Veränderung der Vermögenslage der Schuldnerin bis zur Insolvenzeröffnung vermieden werden könne. Schließlich befände sich der Geschäftsleiter in einer Pflichtenkollision, da er bei einer Zahlung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung entgegen dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung seine insolvenzrechtlichen Pflichten verletzen und damit eine Aufhebung der vorläufigen Eigenverwaltung riskieren oder sich der Gefahr einer Strafbarkeit aussetzen müsse. Letzteres sei dem Geschäftsleiter jedoch nicht zumutbar.

Die Anordnung des beschränkten Zustimmungsvorbehalts befreie den Geschäftsleiter von dieser Pflichtenkollision, da ihm durch diese die Rechtsmacht zur Zahlung der Arbeitnehmerbeiträge an die Sozialversicherungsträger entzogen werde. Entsprechend begründe die Nichtabführung der Arbeitnehmerbeiträge dann keine Strafbarkeitsrisiken für den Geschäftsführer (mehr).

An der Erforderlichkeit der Anordnung des beschränkten Zustimmungsvorbehalts fehlt es nach der Ansicht des Gerichts auch nicht aufgrund der Regelung des § 15b Abs. 8 InsO. Die Regelung sei nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur auf Ansprüche aus einem Steuerschuldverhältnis anwendbar. Eine analoge Anwendung auf Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung komme, auch wenn dies möglicherweise wünschenswert sei, ausdrücklich nicht in Betracht.

Dies begründet das Gericht damit, dass es bereits an der ersten Voraussetzung für eine Analogie fehle, nämlich der planwidrigen Regelungslücke. Zwar habe der Gesetzgeber die bislang gleichbehandelten (durch die Pflichtenkollisionsrechtsprechung, Anm. d. Verfasser) Zahlungen von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen durch Einführung des § 15b Abs. 8 InsO unterschiedlich geregelt, ohne dass sich den Gesetzgebungsmaterialien dafür eine Rechtfertigung entnehmen lasse. Allerdings könne allein deshalb nicht auf eine planwidrige Regelungslücke geschlossen werden. Schließlich müsse dem Gesetzgeber die Problematik der Pflichtenkollision zwischen Massesicherungspflicht und Abführungsgeboten aus § 266a StGB und §§ 34, 69 AO bekannt gewesen sein.

Das Gericht setzte sich im Weiteren auch mit dem (Haupt-)Argument der Befürworter einer analogen Anwendung auseinander, wonach eine planwidrige Regelungslücke aufgrund der Hektik des Gesetzgebungsverfahrens gegeben sei. Dieser Argumentation hat das Gericht eine klare Absage erteilt, da die vermeintliche Hektik allein das StaRUG als Teil des SanInsFoG betroffen habe. Die Einführung des § 15b Abs. 8 InsO habe hingegen eine jahrelange Vorgeschichte. Schließlich sei die Problematik der Pflichtenkollision bereits ausführlich in dem Evaluationsbericht zur ESUG-Reform aus dem Jahr 2018 behandelt worden, über den auch der Bundestag informiert worden sei.

III. Bewertung und Praxisfolgen

Die erste Entscheidung des Amtsgerichts Ludwigshafen zu dieser Thematik dürfte für die insolvenzrechtliche Beratungspraxis, aber auch die weitere Diskussion der Frage nach einer analogen Anwendung des § 15b Abs. 8 InsO auf die Pflicht zur Abführung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung von erheblicher Bedeutung sein. Es bleibt aber natürlich abzuwarten, ob diese Rechtsansicht zukünftig durch weitere Gerichte bestätigt wird.

Denn erstmals hat sich überhaupt – soweit ersichtlich – ein Gericht mit der Frage der analogen Anwendung der Regelung des § 15b Abs. 8 InsO auseinandergesetzt und einer Analogie eine deutliche Absage erteilt. Damit hat es sich gegen die bislang überwiegende Meinung in der Diskussion gestellt, die sich für eine analoge Anwendung ausgesprochen hat. Die Begründung des Gerichts, dass sich der Gesetzgeber gerade in Kenntnis der Pflichtenkollision und des haftungsrechtlichen Dilemmas dafür entschieden habe, allein eine Regelung für Steuerverbindlichkeiten treffen zu wollen, vermag auch zu überzeugen.

Losgelöst davon, dürfte für eine analoge Anwendung des § 15b Abs. 8 InsO auch kein Raum bestehen. Schließlich kann die Frage, wie ein Geschäftsleiter mit gesetzlichen Zahlungspflichten umzugehen hat, auch auf Basis des § 15b InsO stringent beantwortet werden. Der Geschäftsleiter ist während des Antragszeitraums nach § 15a InsO privilegiert, die Geschäfte der Gesellschaft im ordnungsgemäßen Geschäftsgang fortzusetzen, sofern er in diesem Zeitraum Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzreife oder zur Vorbereitung des Insolvenzantrags vornimmt (§ 15b Abs. 2 InsO). Entsprechend ist die Bezahlung von gesetzlichen Verbindlichkeiten, die in diesem Zeitraum fällig werden, unter den vorgenannten Voraussetzungen als ordnungsgemäß zu qualifizieren, wenn und soweit das Gesetz, wie eben in § 15b Abs. 8 InsO, nicht ausdrücklich etwas anderes regelt. Entsprechend dürfen und müssen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung in dieser Phase bezahlt werden.

Dem Geschäftsleiter ist zu empfehlen, ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife nach § 15a InsO zunächst die Zahlungen der Gesellschaft einzustellen und sodann jeweils im Einzelfall sorgfältig zu prüfen, ob die Bezahlung einer berechtigten und fälligen Forderung eines Gläubigers trotz Insolvenzreife der Gesellschaft ausnahmsweise (noch) mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns vereinbar ist. Insoweit bietet sich auch die Inanspruchnahme entsprechender anwaltlicher Beratung an.

Mit Blick auf die Privilegierung von Zahlungen während des Antragszeitraums ist dem Geschäftsleiter ferner zu empfehlen, auch die Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Beseitigung der Insolvenzreife sowie die Vorbereitung der Insolvenzantragstellung nebst deren jeweiligem Fortgang sorgfältig zu dokumentieren. Dadurch versetzt sich der Geschäftsleiter in die Lage, im Falle einer späteren Insolvenz gegenüber dem Insolvenzverwalter darlegen zu können, welchen Zweck die jeweiligen Zahlungen erfüllten und, dass die geleisteten Zahlungen privilegiert waren.

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Ad-hoc-Praxis der DAX-Emittenten im Jahr 2022

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Ad-hoc-Praxis der DAX-Emittenten im Jahr 2022

27. Januar 2023

  • Erneuter Rückgang der Anzahl der Ad-hoc-Veröffentlichungen von DAX-Emittenten (2022 wurden 81 Ad-hoc-Mitteilungen veröffentlicht – gegenüber rund 107 Ad-hoc-Mitteilungen im Jahr 2021).
  • Thematisch betraf fast die Hälfte der veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen Geschäftsergebnisse und Prognosen der Emittenten. Im Zuge des Russland-Ukraine-Kriegs passten einige DAX-Emittenten ihre Ergebnisprognose für 2022 an. Ad-hoc-Mitteilungen mit M&A-Bezug machten 2022 lediglich ein Fünftel der Gesamtmitteilungen aus.
  • EU-Konsultation schlägt im Listing Act praxisrelevante Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung vor.

Erneuter Rückgang der Ad-hoc-Veröffentlichungen

Die Anzahl der veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen war 2022 erneut rückläufig. Veröffentlichten die im DAX gelisteten Emittenten 2021 noch durchschnittlich ca. 2,6 Ad-hoc-Mitteilungen, so waren es im vergangenen Jahr lediglich ca. 2 Ad-hoc-Mitteilungen je Emittent.

Die absolute Zahl von 107 Ad-hoc-Mitteilungen im Jahr 2021 verringerte sich im Jahr 2022 auf insgesamt 81 Ad-hoc-Mitteilungen. Die Volkswagen AG führt dabei die Liste mit acht veröffentlichten Mitteilungen an, wobei hiervon sechs Mitteilungen im Zusammenhang mit dem Börsengang der Porsche AG Ende September 2022 stehen.

Inhaltliche Trends

Thematisch lassen sich die Ad-hoc-Veröffentlichungen der DAX-Emittenten im Jahr 2022 – wie auch in den Jahren zuvor – in vier Gruppen einteilen:

  • Veröffentlichung von vorläufigen Geschäftsergebnissen und/oder Anpassung der Ergebnisprognose,
  • M&A-Transaktionen (insb. bedeutende Übernahmen, Fusionen und Börsengänge);
  • Personalangelegenheiten im Vorstand bzw. Aufsichtsrat;
  • sonstige Ad-hoc-Mitteilungen zum Beispiel zu Kapitalmaßnahmen Aktienrückkäufen.

Rund die Hälfte der im Jahr 2022 veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen von DAX-Emittenten betraf Geschäftsergebnisse und Prognosen der Emittenten. Dabei war zu beobachten, dass einige Emittenten ihre Ergebniserwartung für das Jahr 2022 anlässlich des Russland-Ukraine-Kriegs und damit zusammenhängender Unsicherheiten – zum Teil per Ad-hoc-Mitteilung – korrigierten. So aktualisierte etwa die Henkel AG & Co. KGaA im April 2022 ihre Jahresprognose angesichts der "außerordentlich angespannte[n] Situation an den Rohstoffmärkten und in den globalen Lieferketten", die sich "durch den Krieg in der Ukraine weiter verschärft" hätten. Teilweise wurde auch per Ad-hoc-Meldung darauf hingewiesen, dass von einer Prognose abgesehen bzw. eine solche zurückgezogen werde. Andere Emittenten hatten die mit dem Russland-Ukraine-Krieg verbundenen Unsicherheiten hingegen bereits in ihrer zu Jahresbeginn im Rahmen der Regelberichterstattung bekanntgegebenen Ergebniserwartung berücksichtigt. Die RWE AG konnte im Jahr 2022 gleich dreimal mitteilen, dass die Konzernergebnisprognose übertroffen bzw. erhöht wird. Hintergrund ist u.a., dass es RWE gelang, höhere Beschaffungskosten (vor allem bei Erdgas) durch Preiserhöhungen größtenteils an die Verbraucher weiterzugeben. Insgesamt zeigt sich, dass die Emittenten auf Basis der Leitlinien im Emittentenleitfaden der BaFin mit den sie jeweils betreffenden Auswirkungen des Russland-Ukraine-Kriegs gut zurechtkamen, ohne dass es – wie zu Beginn der COVID-19-Pandemie – besonderer FAQ der BaFin bedurft hätte. Die FAQ zu Fragen der Ad-hoc-Publizität im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie hat die BaFin Mitte des Jahres 2022 wieder außer Kraft gesetzt, da für deren Anwendung kein Bedürfnis mehr bestand.

Weiterhin war auffällig, dass sich der prozentuale Anteil an Ad-hoc-Mitteilungen mit Transaktionsbezug gegenüber dem Vorjahr verdoppelte (2021: 10% bzw. 10 Mitteilungen; 2022: 20% bzw. 16 Mitteilungen). Ein Großteil dieser Mitteilungen entfiel auf den Börsengang der Porsche AG Ende September 2022 und betrifft somit eine singuläre Transaktion, wodurch das Bild verzerrt wird. Insgesamt betrug der Anteil an Mitteilungen mit Transaktionsbezug im Jahr 2022 lediglich ein Fünftel der Gesamtmitteilungen. Das korrespondiert mit der Entwicklung des M&A-Markts im Jahr 2022. Das Volumen der Transaktionen mit deutscher Beteiligung ist Umfragen zufolge jüngst deutlich zurückgegangen.

Die Anzahl von Ad-hoc-Mitteilungen in Bezug auf Personalthemen hat sich ebenfalls verdoppelt. Die adidas AG veröffentlichte im Zusammenhang mit der Bestellung eines neuen Vorstandsvorsitzenden gleich zwei Mitteilungen: Zunächst aufgrund der laufenden Gespräche mit Bjørn Gulden und vier Tage später wegen des Beschlusses des Aufsichtsrats. Die Volkswagen AG meldete Mitte 2022 sowohl das einvernehmliche Ausscheiden von Herrn Dr. Herbert Diess als auch die Nachfolge durch Herrn Dr. Oliver Blume in einer Mitteilung.

Ad-hoc-Mitteilungen zu sonstigen Themen betrafen insbesondere Kapitalmaßnahmen wie Aktienrückkäufe, die typischerweise ad-hoc-pflichtig sind. Hierzu berichteten beispielsweise die Allianz SE, die Covestro AG oder die Munich Re. Bemerkenswerte Compliance-Verstöße, die per Ad-hoc-Mitteilung bekanntgegeben wurden, gab es 2022 bei den DAX-Emittenten nicht.

Mögliche Änderungen des Ad-hoc-Regimes aufgrund des EU Listing Acts

Die Kommission veröffentlichte Ende 2022 ihren finalen Entwurf des EU Listing Act, der u.a. wesentliche Änderungen im Bereich der Ad-hoc-Publizität vorsieht. 

So soll künftig bei Zwischenschritten eines gestreckten Geschehensablaufs (nur noch) das Insiderhandelsverbot gelten, nicht jedoch die Pflicht zur Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung. Die Veröffentlichungspflicht soll sich bei gestreckten Geschehensabläufen nur noch auf das Endereignis beziehen, wobei der Kommissionsvorschlag hier offenlässt, ob erst das eingetretene Endereignis oder bereits das überwiegend wahrscheinliche Endereignis (50% + X) als zukünftiger Umstand die Ad-hoc-Pflicht auslöst.

Sollte der Vorschlag der Kommission im Sinne eines strengen Finalitätskonzepts zu verstehen sein, wäre – was wünschenswert wäre – nur der tatsächliche Eintritt des angestrebten Endereignisses veröffentlichungspflichtig. Bei einem anderen Verständnis bliebe es (teilweise) bei der derzeitigen Rechtslage, d.h. bereits der überwiegend wahrscheinliche Eintritt des zukünftigen Ereignisses wäre zu veröffentlichen. Dies würde dazu führen, dass derjenige Zwischenschritt zu bestimmen wäre, zu dem der Eintritt des angestrebten Ereignisses (z.B. das Zustandekommen einer M&A-Transaktion) überwiegend wahrscheinlich wird. Damit würden nur die sehr frühen Zwischenschritte von der Veröffentlichungspflicht ausgenommen, während die zeitlich später gelagerten Zwischenschritte "durch die Hintertür" veröffentlichungspflichtig blieben. Es bestünde in dem Fall weiterhin erheblicher Bedarf für eine aktiv zu beschließende Selbstbefreiung, weil in aller Regel auch bei Überschreiten der 50 % + x-Schwelle im Rahmen eines gestreckten Geschehensablaufs im Hinblick auf das zukünftige Endereignis die Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung nicht gewollt ist, sondern beispielsweise die betreffenden Verhandlungen von den Parteien in vertraulichem Rahmen zu Ende geführt werden sollen. Demgegenüber würde das Institut der Selbstbefreiung bei einem strengen Finalitätskonzept, das auf das eingetretene Endereignis abstellt, an Bedeutung verlieren.

Dies zeigt, dass an dieser Stelle noch Klarstellungsbedarf besteht, damit die Herausnahme von Zwischenschritten eines gestreckten Geschehensablaufs aus der Veröffentlichungspflicht nach Art. 17 Abs. 1 MAR einerseits und die Streichung in Art. 17 Abs. 4 MAR andererseits nicht zu Missverständnissen führen. Vor diesem Hintergrund ist es in jedem Fall zu begrüßen, dass in einem neuen Art. 17 Abs. 1a MAR vorgesehen werden soll, dass die Kommission ermächtigt wird, im Wege eines delegierten Rechtsakts eine nicht abschließende Liste relevanter Insiderinformationen und für jede Information einen Hinweis auf den Veröffentlichungszeitpunkt zu erlassen. Damit soll insbesondere Klarheit über den Zeitpunkt der Offenlegungspflicht geschaffen werden. Da ein Entwurf des delegierten Rechtsakts noch nicht vorliegt, lässt sich derzeit aber noch nicht beurteilen, ob eine solche Liste tatsächlich die Rechtssicherheit erhöhen würde.

Praxisrelevant ist zudem eine Neuerung im Kontext der Meldepflicht der Emittenten beim Aufschub der Veröffentlichung einer Insiderinformation. Nach derzeitiger Rechtslage melden Emittenten der BaFin erst nach der Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung, dass sie deren Veröffentlichung zeitweise aufgeschoben hatten. Künftig soll bereits unverzüglich nach dem Beschluss der Selbstbefreiung eine Mitteilung an die Behörde erforderlich werden. Der Vorschlag der Kommission zielt darauf ab, den Aufsichtsbehörden einen besseren und aktuelleren Überblick über die Praxis der Selbstbefreiungen zu vermitteln. 

Daneben sieht der Kommissionsvorschlag weitere Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung vor. Diese betreffen unter anderem die Bereiche der Marktsondierungen, Führung von Insiderlisten und Managers' Transactions. Hervorzuheben ist insoweit insbesondere, dass für Emittenten künftig die Verpflichtung zum Führen von anlassbezogenen Insiderlisten entfallen und stattdessen die Erstellung und laufende Aktualisierung permanenter Insiderlisten genügen soll.

Noch steht nicht fest, ob und wann die Kommissionsvorschläge umgesetzt von werden. Bis Mitte Februar nimmt die Kommission noch Rückmeldungen entgegen, bevor die Verordnung anschließend in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gebracht wird.

GLADE MICHEL WIRTZ steht für einen Austausch zu diesen Themen jederzeit gern zur Verfügung.

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Das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes zum Kartellrecht

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes zum Kartellrecht

19. Januar 2023

Während wir uns bereits mehrfach mit dem Thema Nachhaltigkeit im Kartellrecht im befasst haben, soll es in diesem Beitrag um das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) zum Kartellrecht gehen.

I. Was regelt das LKSG?

Das am 1. Januar 2023 in Kraft getrenene LkSG soll die Beachtung menschenrechtlicher und umweltbezogener Standards entlang globaler Lieferketten gewährleistenSo sollen z.B. Kinder- und Zwangsarbeit sowie Trinkwasserverschmutzung bei der Produktion verhindert werden. Unmittelbar verpflichtet sind Unternehmen, die in Deutschland über einen Haupt- oder einen Zweitsitz verfügen und mehr als 3.000 Mitarbeiter beschäftigen. Ab dem Jahr 2024 gilt das LkSG zusätzlich für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern. Somit werden im Jahr 2024 mehr als 3.000 Unternehmen verpflichtet sein, in ihren Lieferketten menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten in angemessener Weise zu beachten. Für die Kontrolle und Durchsetzung der Einhaltung der Pflichten ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig. Dieses kann bei ordnungswidrigem Handeln Geldbußen von bis zu zwei Prozent des durchschnittlichen Jahresumsatzes verhängen.

II. Welche konkreten Pflichten entstehen durch das LkSG?

Die den Unternehmen obliegenden, konkreten Sorgfaltspflichten sind in § 3 Abs. 1 S. 2 LkSG in einem Pflichtenkatalog niedergelegt. Von der Vielzahl der verschiedenen Sorgfaltspflichten betreffen vier Pflichten das Verhältnis des Unternehmens zu seinen Zulieferern und teilweise auch zu seinen Wettbewerbern. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld mit kartellrechtlichen Pflichten und Ahndungsrisiken. Diese betreffenden LkSG-Pflichten sind in den Nummern 3, 5, 6 und 9 des Katalogs geregelt.

Nach Nummer 3 haben die Unternehmen eine Risikoanalyse durchzuführen, bei der unter anderem menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken bei den unmittelbaren Zulieferern des Unternehmens ermittelt werden müssen. Es ist sicherzustellen, dass die Ergebnisse der Risikoanalyse an die maßgeblichen Entscheidungsträger kommuniziert werden.

Nummer 5 normiert Präventionsmaßnahmen in Bezug auf unmittelbare Zulieferer. Die Unternehmen müssen bei der Auswahl eines Zulieferers menschenrechts- und umweltbezogene Erwartungen einbeziehen, sich den Erwartungen entsprechendes Verhalten vertraglich zusichern lassen sowie Schulungen und Weiterbildungen beim Zulieferer durchführen. Für mittelbare Zulieferer können sich uU entsprechende Handlungspflichten ergeben, § 9 Abs. 3 LkSG.

Nach Nummer 6 ist im Fall einer Pflichtverletzung beim unmittelbaren Zulieferer ein Konzept zur Beendigung oder Minimierung der Pflichtverletzung zu erstellen und umzusetzen. Zu diesem Zweck ist mit dem Zulieferer und gegebenenfalls auch mit anderen Abnehmern des Zulieferers (das können Wettbewerber des Unternehmens beim Einkauf und/oder Absatz sein) zusammenzuarbeiten.

Schließlich müssen Unternehmen gemäß Nummer 9 jährlich einen Bericht über die Erfüllung der Sorgfaltspflichten erstellen und diesen öffentlich und damit für jedermann, somit auch für Wettbewerber, zugänglich machen.

III. Kartellrechtliche Probleme und deren Lösungen

Diese Pflichten betreffen das Verhältnis zwischen einem Unternehmen und seinen Lieferanten. Sie erfordern einen Austausch von Informationen mit dem unmittelbaren Zulieferer und teilweise auch darüber hinaus mit anderen Unternehmen. Einem solchen Informationsaustausch sind kartellrechtliche Grenzen gesetzt. Ein Vorrang des LkSG vor dem Kartellrecht, erst recht dem Unionskartellrecht, besteht nicht. Es ist deshalb eine sachgerechte Balance zwischen den Anforderungen des LkSG und den kartellrechtlichen Grenzen im Sinne praktischer Konkordanz zu finden. Insbesondere dort, wo das LkSG den Unternehmen Handlungsspielräume belässt, müssen diese unter Berücksichtigung des Kartellrechts ausgefüllt werden.

1. Die Risikoanalyse

Das Risikomanagement nach § 4 und die Risikoanalyse nach § 5 LkSG verpflichten Unternehmen, menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken zu erkennen und zu ermitteln. Um eine aussagekräftige Risikoanalyse durchführen zu können, wird ein Unternehmen häufig eine vertiefte Prüfung der Geschäftsverhältnisse seiner unmittelbaren Lieferanten vornehmen müssen. Dabei kann ein Informationsaustausch insbesondere dann kartellrechtlich relevant sein, wenn der Lieferant auch Wettbewerber ist, z.B. bei vertikal integrierten Unternehmen oder in Fällen eines sog. dualen Vertriebs. Zudem ist zu beachten, dass ein Wettbewerb mit dem Lieferanten auch auf Einkaufsseite (bei einem parallelen Einkauf der gleichen Produkte) oder um Arbeitskräfte bestehen kann.

Beim Austausch von Informationen mit einem unmittelbaren Zulieferer ist deshalb darauf zu achten, dass der Informationsaustausch auf das beschränkt wird, was für die Bewertung des Zulieferers nach den Kriterien des LkSG erforderlich ist, sofern keine sonstige Privilegierung greift, zB wegen Art. 2 Abs. 5 Vertikal GVO. Um dies zu gewährleisten, sollte intern ein Standardkatalog erstellt werden, der die Aspekte und Fragen beinhaltet, die für eine angemessene Risikoanalyse der Lieferkette benötigt werden. Sofern teilweise kartellrechtlich sensible Daten ausgetauscht werden müssen, ist es empfehlenswert, die Risikoanalyse durch Externe oder ein Clean Team durchführen zulassen und erst die Ergebnisse der Analyse den maßgeblichen Entscheidungsträgern mitzuteilen (§ 5 Abs. 3 LkSG). 

2. Die Präventionsmaßnahmen

Auf Basis der Risikoanalyse sind Präventionsmaßnahmen in Bezug auf alle identifizierten Risiken zu ergreifen (§ 6 LkSG). Bei den Präventionsmaßnahmen ist zwischen Schulung und Kontrolle der Lieferanten sowie der Auswahl der Zulieferer zu unterscheiden.

Bei den Schulungen und Kontrollen der Lieferanten besteht die Gefahr, dass über die notwendigen Informationen hinaus wettbewerblich sensible Informationen erlangt oder ausgetauscht werden. Durch die Implementierung von standardisierten Abläufen für Kontrollen und Schulungen bei Zulieferern lässt sich dieses Risiko verringern. Darüber hinaus können Schulungen und Kontrollmaßnahmen durch externe Dienstleister oder durch Clean Teams durchgeführt werden, die darauf achten, dass die Maßnahmen auf die Einhaltung der menschenrechtsbezogenen und umweltbezogenen Pflichten nach dem LkSG beschränkt sind und nicht auf das Geschäftsverhalten des Zulieferers im Übrigen Einfluss genommen wird.

Die Auswahl des Zulieferers unter Berücksichtigung von umwelt- bzw. menschenrechtsbezogenen Kriterien (§ 6 Abs. 4 Nr. 1 LkSG) ist grundsätzlich kartellrechtlich unproblematisch. Erst wenn das unter das LkSG fallende Unternehmen eine marktbeherrschende oder relativ marktmächtige Stellung hat, sind die Grenzen von Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB zu beachten. Hält sich ein Unternehmen bei der Auswahl des Lieferanten nur an die staatlichen Mindeststandards, steht es in keinem Konflikt mit dem Kartellrecht, weil das Einhalten der Standards verpflichtend ist. Geht es bei der Auswahl der Lieferanten über die Mindeststandards des LkSG hinaus, setzen Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB die Grenzen dessen, was einem Zulieferer abverlangt werden darf. 

Marktbeherrschende oder relativ marktstarke Unternehmen dürfen in der Regel die Erwartungen und Anforderungen, die sie an ihre Zulieferer stellen, frei bestimmen. Missbräuchlich ist ihr Handeln erst, wenn sie bspw. ohne Sachgrund unterschiedliche Anforderungen an unterschiedliche Zulieferer stellen oder Zulieferern nicht die Möglichkeit geben, sich auf die strengeren Maßstäbe einzustellen und diese zu erfüllen. Dies kann bspw. durch das Gewähren von Übergangsfristen ausgeschlossen werden.

3. Das Ergreifen von Abhilfemaßnahmen

§§ 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 i.V.m. 7 Abs. 1 LkSG verpflichten die Unternehmen, bei der Verletzung einer menschenrechtsbezogenen oder umweltbezogenen Pflicht im eigenen Betrieb oder bei ihrem unmittelbaren Zulieferer unverzüglich geeignete Abhilfemaßnahmen zu ergreifen. Kann die Verletzung nicht innerhalb eines absehbaren Zeitraums beendet werden, muss das Unternehmen ein Abhilfekonzept erarbeiten und umsetzen.

Zur Erarbeitung und Umsetzung des Konzeptes ist auch eine Kooperation mit anderen Unternehmen im Rahmen von Brancheninitiativen und Branchenstandards in Betracht zu ziehen, um den Einfluss auf den Verursacher zu vergrößern. Oftmals eröffnet ein solches Verhalten den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB, da die Abnehmer nicht selten in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen. Allerdings wird eine Kooperation bzw. ein "Zusammenschluss" von Unternehmen in § 7 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 LkSG ausdrücklich als mögliche Abhilfemaßnahme angeführt. Eine solche Koordinierung kann nach Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB freigestellt sein. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Zusammenschluss ein unerlässliches Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels, der Steigerung der Einflussmöglichkeiten auf den Verursacher, um die Einhaltung aller Sorgfaltspflichten zu gewährleisten, darstellt. Folglich dürfen keine milderen, gleich geeigneten Abhilfemaßnahmen bestehen. Eine weitere kartellrechtliche Grenze ist das Boykottverbot des § 21 Abs. 1 GWB, welches die "unbillige" Aufforderung oder tatsächliche Durchsetzung von Liefer- oder Bezugssperren untersagt. In der Regel liegt keine Unbilligkeit vor, wenn der Boykottaufruf gegen ein Unternehmen gerichtet ist, das rechtswidrig handelt. Hier empfiehlt sich aufgrund möglicher bußgeldrechtlicher Konsequenzen aber eine sehr sorgfältige Prüfung. Jedenfalls ist anhand einer Interessenabwägung festzustellen, ob es sich um eine unbillige Beeinträchtigung handelt. Es ist dabei zwischen den Geschäftsinteressen des Zulieferers, der Schwere seiner Pflichtverletzung und dem Abstellungsinteresse der zusammenarbeitenden Unternehmen abzuwägen. Des Weiteren ist darauf zu achten, dass keine wettbewerbsrelevanten Informationen zwischen den Wettbewerbern auf Abnehmerseite ausgetauscht werden. Die Koordinierung mit den anderen Abnehmern des Zulieferers und die Maßnahmen diesem gegenüber müssen sich klar auf die Abstellung der Sorgfaltspflichtverletzung beschränken.

Als letztes Mittel kann im Rahmen dieses Konzepts auch das Aussetzen der Geschäftsbeziehungen erfolgen (§ 7 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 LkSG), und, wenn dies nicht hilft, auch der Abbruch (Abs. 3). Da das Aussetzen und der Abbruch der Geschäftsbeziehung jedoch gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben sind, sondern es sich vielmehr um Handlungsoptionen handelt, sind die Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB anwendbar. Dabei bewertet die Rechtsprechung die Beendigung von Geschäftsbeziehungen strenger als die Nichtaufnahme von Geschäftsbeziehungen. Beendet ein marktbeherrschendes Unternehmen eine Geschäftsbeziehung, wird dies grundsätzlich als missbräuchlich angesehen, wenn kein objektiver Rechtfertigungsgrund vorliegt oder die Beendigung der Geschäftsbeziehung unverhältnismäßig ist. Der Verstoß gegen umwelt- oder menschenrechtliche Pflichten nach dem LkSG stellt grundsätzlich einen objektiven Rechtfertigungsgrund dar. Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei können die in § 3 Abs. 2 LkSG enthaltenen Verhältnismäßigkeitskriterien für das Aussetzen und zusätzlich die Kriterien in § 7 Abs. 3 für den Abbruch der Geschäftsbeziehung hinzugezogen werden. Diese zielen jedoch nur auf die Beurteilung der Schwere der Pflichtverletzung nach dem LkSG ab und sind daher im Rahmen der kartellrechtlichen Interessenabwägung nicht für eine Rechtfertigung ausreichend. Schließlich muss auch das Interesse des Lieferanten an der Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung berücksichtigt werden. Somit kommt es letztlich auf die Umstände des Einzelfalls an. Bei besonders schwerer, vorsätzlicher oder wiederholter Pflichtverletzung ist die Beendigung einer Geschäftsbeziehung jedoch im Regelfall auch verhältnismäßig.

4. Die Berichterstattung

Alle dem LkSG unterfallenden Unternehmen müssen jährlich einen Bericht über die Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten im vergangenen Geschäftsjahr erstellen und spätestens vier Monate nach dem Schluss des Geschäftsjahrs auf der eigenen Internetseite für einen Zeitraum von sieben Jahren kostenfrei öffentlich zugänglich machen, § 10 LkSG. Durch diese Pflicht, jährlich einen Bericht zu veröffentlichen, entsteht für das Unternehmen die Gefahr des sogenannten „Signallings“ gegenüber Wettbewerbern. Darunter versteht man den Austausch von wettbewerblich sensiblen Informationen zwischen Unternehmen über öffentliche Kanäle. 

Die Grenzen eines unzulässigen Signalling sind bislang nicht hinreichend geklärt. Berichte sollten deshalb so verfasst sein, dass sie keine wettbewerbssensiblen Informationen beinhalten und sich prinzipiell auf die für den Maßstab des § 10 LkSG notwendigen Informationen beschränken. Wettbewerblich sensible Informationen werden in der Regel im Bericht nicht erforderlich sein. Wenn sie in Ausnahmefällen dennoch unvermeidlich sind, müssen sie in geeigneter Weise anonymisiert und/oder nach den üblichen kartellrechtlichen Standards aggregiert werden.

IV. Conclusio

Durch die Vielzahl der Sorgfaltspflichten des LkSG entsteht das Risiko unbeabsichtigter kartellrechtlicher Verstöße en passant. Mangels Entscheidungspraxis wird es anfangs nicht immer einfach sein, eine sachgerechte Balance zwischen dem LkSG und dem Kartellrecht zu finden. Jedoch stellen die neuen Risiken letztlich keine unbekannten Probleme der kartellrechtlichen Compliance dar. So lassen sich z.B. die Risiken eines Informationsaustauschs und eines Marktmissbrauchs mit bereits bekannten Ansätzen lösen. 

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Nachhaltigkeit und Wettbewerb – Mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft?

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTS­ENTWICKLUNGEN

Nachhaltigkeit und Wettbewerb – ­Mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft?

16. Januar 2023

Die Europäische Kommission ("Kommission") hat zu Beginn des neuen Jahres einen Entwurf der Leitlinien für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft ("Leitlinienentwurf") veröffentlicht. Dies zeigt, dass die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen im Kartellrecht auch weiterhin oben auf der Prioritätenliste der europäischen Wettbewerbsbehörde steht. Die Leitlinien zielen darauf ab, die Vorgaben des Art. 210a VO (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse ("GMO") zu konkretisieren und mehr Rechtssicherheit für Akteure im Lebensmittel- und Agrarsektor bei der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu schaffen. Dieser Beitrag erläutert die wesentlichen Aussagen des Leitlinienentwurfs und nimmt eine erste Bewertung vor, inwieweit der Entwurf der Kommission einen Beitrag zur rechtssicheren Implementierung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft leistet. Auf die grundlegenden Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Behandlung von Nachhaltigkeitszielen gehen die Blogbeiträge vom 8. Februar 2021 (hier) und vom 27. September 2022 (hier) ein.

I. Bedeutung der Erzeuger landwirtschaftlicher Erzeugnisse für den europäischen "Green Deal"

Art. 210a GMO wurde im Rahmen der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik ("GAP") im Jahr 2021 eingeführt, um den Übergang zu einem nachhaltigen EU-Lebensmittelsystem zu unterstützen. Diese Freistellung vom Kartellverbot soll einen Beitrag zum Erreichen der Ziele des "Green Deal" leisten, mit dem die EU in eine "gerechtere und wohlhabendere Gesellschaft mit einer modernen, ressourcenschonenden und wettbewerbsfähigen Wirtschaft" umgebaut werden soll. Nach Art. 210a Abs 1 GMO findet das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die sich auf die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder den Handel damit beziehen und darauf abzielen, einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, als er durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Diese Freistellung gilt jedoch nur, wenn mit diesen Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen lediglich Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt werden, die für das Erreichen des höheren Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich sind. Die Ausnahme ist nicht auf die Erzeugerebene beschränkt, sondern gilt auch für wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen zwischen Erzeugern und Unternehmen auf verschiedenen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Handels der Lebensmittelversorgungskette. Damit eine Nachhaltigkeitsvereinbarung in den Anwendungsbereich von Art. 210a Abs. 2 GMO fällt, muss mindestens ein Erzeuger als Partei beteiligt sein.

II. Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft

Die Leitlinien sollen nicht nur für Rechtssicherheit sorgen, indem sie Erzeugern und Akteuren in der Lebensmittelversorgungskette bei der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsvereinbarungen als Grundlage dienen. Vielmehr sollen sie auch den nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden eine Orientierungshilfe bei der Anwendung von Art. 210a GMO bieten. Zu diesem Zweck widmet sich der Leitlinienentwurf einer Vielzahl von Aspekten: (i) dem persönlichen, sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich von Art. 210a GMO und den von der Bestimmung erfassten Produkten; (ii) den von der Ausnahmeregelung erfassten Arten von Wettbewerbsbeschränkungen; (iii) dem Konzept der Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO; (iv) dem Verfahren für die Beantragung einer Stellungnahme der Kommission zu der Frage, ob eine bestimmte Nachhaltigkeitsvereinbarung die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllt; (v) den Voraussetzungen für ein nachträgliches Eingreifen der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden sowie (viii) der Beweislast für den Nachweis, dass die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllt sind. Dieser Blogbeitrag widmet sich im Schwerpunkt den erfassten Nachhaltigkeitszielen, dem Konzept der Unerlässlichkeit und dem System der Stellungnahmen der Kommission zur Zulässigkeit einer Nachhaltigkeitsvereinbarung.

1. Nachhaltigkeitsziele: Mehr Gestaltungsfreiraum als bisher?

Nach Art. 210a Abs. 3 GMO muss ein Nachhaltigkeitsstandard zur Erreichung eines oder mehrerer der folgenden Ziele beitragen: (i) Umweltziele (z.B. eine Abschwächung des oder eine Anpassung an den Klimawandel, die nachhaltige Nutzung bzw. der Schutz von Landschaften, Wasser oder des Bodens etc.), (ii) die Verringerung des Einsatzes von Pestiziden und der Gefahr einer Resistenz gegen antimikrobielle Wirkstoffe sowie (iii) Tiergesundheit und Tierwohl. Zu beachten ist jedoch, dass andere als die aufgeführten Ziele wie soziale Verbesserungen (z.B. der Arbeitsbedingungen oder eine gesunde und nahrhafte Ernährung) sowie wirtschaftliche Ziele (z.B. die Entwicklung von Marken oder eine gerechtere Entlohnung von Landwirten) nicht bei der Beurteilung der Einhaltung von Art. 210a GMO berücksichtigt werden können (Rn. 43 Leitlinienentwurf). Daher ist bei der Prüfung, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung von der Freistellung des Art. 210a GMO profitiert, auf eine genaue Identifizierung der Ziele zu achten, zu deren Erreichung der Nachhaltigkeitsstandard beitragen soll. Dies verdeutlicht ein Beispiel der Kommission, in dem Milcherzeuger und Verarbeiter vereinbaren, eine Marke zu entwickeln, die eine gerechtere Entlohnung der Erzeuger gewährleisten soll. Zwar können grundsätzlich Einkommenssteigerungen der Milcherzeuger zu einem Anstieg der Investitionen führen, die Umwelt- oder Tierschutzziele verfolgen. Wenn jedoch das Ziel, zu dessen Erreichung die Vereinbarung beitragen soll, darin besteht, eine gerechtere Entlohnung der Erzeuger zu gewährleisten, wäre dies nicht von den in Art. 210a Abs. 3 GMO aufgeführten Zielen erfasst. Eine Freistellung vom Kartellverbot müsste anhand der Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV geprüft werden.

Um von der Privilegierung des Art. 210a GMO profitieren zu können, muss der Nachhaltigkeitsstandard, der mit der Nachhaltigkeitsvereinbarung verfolgt wird, höher sein als das, was durch europäisches oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Dies bedeutet, dass der Nachhaltigkeitsstandard Nachhaltigkeitsanforderungen aufstellen muss, die über diejenigen einer in Kraft befindlichen Norm hinausgehen. Der Standard kann auch Nachhaltigkeitsanforderungen in Fällen einführen, in denen weder das EU-Recht noch das nationale Recht solche vorschreiben. Die durch die Anwendung einer Nachhaltigkeitsvereinbarung erzielten Ergebnisse müssen grundsätzlich greifbar und messbar sein. Zur Lösung des Problems der Quantifizierung von Nachhaltigkeitsvorteilen dürfte die Erwägung der Kommission beitragen, dass es in Fällen, in denen es nicht adäquat ist, die erzielten Ergebnisse in Zahlen zu messen, z.B. aufgrund der Art oder des Gegenstands der Nachhaltigkeitsnorm, ausreichend sein soll, dass diese beobachtbar und beschreibbar sind (Rn. 52 Leitlinienentwurf).

2. Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO und Art. 101 Abs. 3 AEUV: Same same, but different?

Eines der wichtigsten Kriterien bei der Prüfung, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung von der Freistellung nach Art. 210a GMO profitieren kann, ist die Unerlässlichkeit der auferlegten Wettbewerbsbeschränkungen. Vergleichbar mit der Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 101 Abs 3 AEUV erfordert auch die Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO im Ausgangspunkt ein Vorgehen in zwei Schritten. Aufgrund des gesetzgeberischen Willens, Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Agrarsektor aus dem Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV herauszunehmen, unterscheiden sich die für die Bestimmung des Begriffs der Unerlässlichkeit anzuwendenden Maßstäbe jedoch. So setzt der Maßstab der Unerlässlichkeit im Rahmen des Art. 210a GMO im Gegensatz zu Art. 101 Abs. 3 AEUV keine angemessene Verbraucherbeteiligung an den Vorteilen der Nachhaltigkeitsvereinbarung voraus. Daraus folgt, dass sogar Vereinbarungen über Preise und Preisbestandteile – Hardcore-Verstöße gegen das EU-Kartellrecht, die im Regelfall in den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen und auch keiner (Einzel-)freistellung zugänglich sind – unter bestimmten Voraussetzungen als unerlässlich anzusehen sein können (Rn. 83 Leitlinienentwurf).

Entsprechend dieser zweistufigen Prüfung der Unerlässlichkeit ist in einem ersten Schritt zu klären, ob die Nachhaltigkeitsvereinbarung an sich notwendig ist, um den angestrebten Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, ob der Nachhaltigkeitsstandard in gleicher Weise auch durch individuelles Handeln erreicht werden kann (Rn. 90 ff. Leitlinienentwurf). Nach Auffassung der Kommission kann eine Kooperation auch notwendig sein, wenn der Nachhaltigkeitsstandard zwar durch individuelle Maßnahmen erreicht werden könnte, die Parteien sie aber durch eine Zusammenarbeit schneller und mit weniger Kosten und Aufwand erzielen können (Rn. 95 Leitlinienentwurf). Die Parteien müssen weiter prüfen, ob die konkrete Regelung, z.B. in Bezug auf Preis, Produktion, Innovation oder Vertrieb für die Erreichung des Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich ist.

Wenn die Parteien nach dem ersten Schritt zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Nachhaltigkeitsvereinbarung und die darin festgelegten Maßnahmen unerlässlich sind, um den Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen, ist in einem zweiten Schritt zu klären, ob dies auch für jede durch die Vereinbarung auferlegte Wettbewerbsbeschränkung zutrifft (Rn. 101, 107 ff. Leitlinienentwurf). Bei diesem Prüfungsschritt muss die Maßnahme ausgewählt werden, die am geeignetsten ist, um die Ziele der Nachhaltigkeitsvereinbarung zu erreichen und die gleichzeitig den Wettbewerb am wenigsten beeinträchtigt. So müssen die Parteien z.B. bei einer Vereinbarung über den Preis entscheiden, ob die Festlegung eines Endpreises, eines Mindestpreises oder eines Preisaufschlags unerlässlich zur Erreichung des jeweiligen Nachhaltigkeitsstandards ist. Neben der Art der Beschränkung sind dabei auch ihre Intensität (z.B. die konkrete Höhe des Preises) und ihre Dauer zu berücksichtigen (Rn. 114 und 117 ff. Leitlinienentwurf).

Die Parteien einer Nachhaltigkeitsvereinbarung müssen zudem kontinuierlich überprüfen, ob die Vereinbarung auch im weiteren Verlauf noch unerlässlich ist. Selbst wenn die Kommission in einer ersten Phase zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Unerlässlichkeit i.S.d. Art 210a GMO vorliegt, ist dies keine Garantie dafür, dass die Vereinbarung dauerhaft die Anforderungen an die Unerlässlichkeit erfüllt. Dies kann insbesondere dann nicht mehr der Fall sein, wenn sich der wirtschaftliche und rechtliche Kontext, in dem die Nachhaltigkeitsvereinbarung zum Einsatz kommt, wesentlich ändert (Rn. 130 Leitlinienentwurf).

3. Stellungnahme der Kommission – Vier Monate vom sicheren Hafen entfernt?

Nach Art. 210a Abs. 6 UAbs. 1 GMO können die von der Norm erfassten Erzeuger ab dem 8. Dezember 2023 die Kommission um eine Stellungnahme zur Vereinbarkeit einer Nachhaltigkeitsvereinbarung mit Art. 210a GMO ersuchen, die dem Antragsteller innerhalb von vier Monaten übermittelt wird. Die Kommission betont in dem Leitlinienentwurf, dass diese Frist erst am Tag nach dem Eingang eines vollständigen Antrags beginnt. Für eine zeitnahe Bearbeitung der Stellungnahme ist daher entscheidend, dass dieser die durchaus umfassenden Anforderungen der Kommission an den Antrag und die Darstellung der Nachhaltigkeitsvereinbarung erfüllt (Rn. 144 Leitlinienentwurf). Die Stellungnahmen der Kommission entfalten zwar keine rechtliche Bindungswirkung gegenüber Gerichten und den nationalen Wettbewerbsbehörden. Sie sollen vielmehr die Erzeuger bei der Selbstbeurteilung unterstützen. Dennoch dürfen die nationalen Wettbewerbsbehörden und die nationalen Gerichte die Stellungnahmen der Kommission berücksichtigen, wenn sie dies im Rahmen eines Falles für angebracht halten (Rn. 158 Leitlinienentwurf). Gleichzeitig haben die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden weiterhin das Recht, Nachhaltigkeitsvereinbarungen aufzuheben oder Änderungen daran zu verlangen, wenn dies erforderlich ist, um den Wettbewerb aufrechtzuerhalten, oder wenn davon auszugehen ist, dass die Ziele der GAP gemäß Art. 39 AEUV gefährdet sind (Rn. 161 ff. Leitlinienentwurf).

III. Fazit und Ausblick

Interessierte Kreise sind bis zum 24. April 2023 aufgerufen, den Leitlinienentwurf zu kommentieren. Nach der Auswertung der eingegangenen Stellungnahmen und möglicher Änderungen an den Leitlinien sollen diese bis zum 8. Dezember 2023 veröffentlicht werden. Sollte der Leitlinienentwurf vollständig umgesetzt werden, dürften die Leitlinien einen wichtigen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft leisten. Dazu trägt insbesondere die Möglichkeit bei, innerhalb eines vergleichbar kurzen Zeitrahmens von vier Monaten eine Stellungnahme der Kommission mit deren rechtlicher Würdigung der Nachhaltigkeitsvereinbarung zu erhalten. Auch die Erwägung der Kommission, Vereinbarungen über Preise und Preisbestandteile in Nachhaltigkeitsvereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen als mit dem Kartellverbot vereinbar anzusehen, dürfte Nachhaltigkeitsinitiativen neben mehr Gestaltungsfreiheit auch mehr Rechtsicherheit bei der Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen verschaffen. Dieser bemerkenswerte Ansatz der Kommission bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen hat jedoch aufgrund der auf den Agrarsektor begrenzten Bereichsausnahme des Art. 210a GMO keine darüberhinausgehende Ausstrahlungswirkung.

Von entscheidender Bedeutung für die Durchschlagskraft des Art. 210a GMO in der Praxis dürfte auch der Umgang des Bundeskartellamts mit dieser Freistellung vom Kartellverbot sein. In seiner bisherigen Entscheidungspraxis zu Nachhaltigkeitsinitiativen im Agrarsektor hat das Bundeskartellamt von einer Freistellung dieser Initiative gestützt auf Art. 210a GMO abgesehen (hier). Daher bleibt abzuwarten, in welchem Umfang das Bundeskartellamt Art. 210a GMO bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsinitiativen nach der geplanten Veröffentlichung der Leitlinien im Dezember 2023 berücksichtigen wird.

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Dr. Silke Möller

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Das SanInsKG ist da – Temporäre Anpassungen im Sanierungs- und Insolvenzrecht

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Das SanInsKG ist da – Temporäre Anpassungen im Sanierungs- und Insolvenzrecht

21. November 2022

Am 9. November 2022 ist das Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen (Sanierungs- und insolvenzrechtliches Krisenfolgenabmilderungsgesetz, kurz: SanInsKG) in Kraft getreten. Das SanInsKG dient der Umsetzung der insolvenzrechtlichen Vorgaben aus dem dritten Entlastungspaket der Bundesregierung, dass diese als Reaktion auf die erheblichen Preissteigerungen auf den Energie- und Rohstoffmärkten in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und den damit verbundenen, erheblichen finanziellen Belastungen für Unternehmen beschlossen hat.

Durch das SanInsKG soll nach dem Willen oder besser der Hoffnung des Gesetzgebers die erwartete Welle von Unternehmensinsolvenzen verhindert werden. Dies soll maßgeblich durch eine zeitlich befristete Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung nach § 19 InsO erreicht werden. Aber kann dies überhaupt gelingen, wenn es den Unternehmen aufgrund der explodierenden Rohstoff- und Energiepreise schlicht an der notwendigen Liquidität fehlt? Eben diese Fragestellung und weitere Aspekte des SanInsKG werden in diesem Beitrag näher betrachtet.

I. Aus COVInsAG wird das SanInsKG

Zunächst hat der Gesetzgeber mit dem SanInsKG kein neues Gesetz geschaffen. Vielmehr beruht das SanInsKG auf dem im Jahr 2020 in Kraft getretenen COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG), das um einige wenige Regelungen ergänzt und in "Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen" umbenannt wurde.

Das ausdrückliche Ziel des Gesetzgebers und des SanInsKG ist es, im Kern finanziell gesunde Unternehmen, "deren Bestandsfähigkeit unter normalen Umständen, d.h. bei Hinwegdenken der derzeitigen Preisvolatilitäten und Unsicherheiten außer Zweifel stünde" (BT-Drs. 20/4087, S. 8). Zur Erreichung dieses Ziel sieht das SanInsKG verschiedene temporäre Änderungen im Sanierungs- und Insolvenzrecht vor. 

II. Anpassung der Antragspflicht bei Überschuldung nach § 19 Abs. 2 InsO

Die wohl weitreichendsten Regelungen des SanInsKG betreffen die befristete Anpassung der gesetzlichen Vorschriften zur Insolvenzantragspflicht bei einer vorliegenden Überschuldung des Unternehmens nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO. 

1. Verkürzung des Prognosezeitraums für die Fortbestehensprognose nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO

Eine zur Insolvenzantragstellung verpflichtende Überschuldung liegt nach dem Wortlaut von § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.

Der Insolvenzgrund der Überschuldung liegt demnach dann nicht vor, wenn das Fortbestehen des Unternehmens nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist, also eine positive Fortbestehensprognose gegeben ist. Eine positive Fortführungsprognose nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO besteht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wenn sich aus einem aussagekräftigen Unternehmenskonzept eine Lebensfähigkeit des Unternehmens ergibt, wobei diesem Konzept grundsätzlich sowohl ein Ertrags- als auch ein Finanzplan für den Prognosezeitraum von zwölf Monaten zugrunde liegen muss. Oder kurzgesagt: Eine Fortbestehensprognose kann dann angenommen werden, wenn das Unternehmen im Prognosezeitraum von zwölf Monaten über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um die in diesem Zeitraum fällig werdenden Verbindlichkeiten im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Fälligkeit zu befriedigen.

Durch die Regelung von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG wird der Prognosezeitraum für die Fortbestehensprognose nunmehr von zwölf Monaten auf vier Monate verkürzt. Das heißt, das Unternehmen lediglich noch in einem Zeitraum von vier Monaten dazu in der Lage sein müssen, ihre finanziellen Verbindlichkeiten im Zeitpunkt der jeweiligen Fälligkeit bedienen zu können.

Nach der Regelung von § 4 Abs. 2 Satz 2 SanInsKG gilt die Verkürzung des Prognosezeitraum für die Fortbestehensprognose auf vier Monate ausdrücklich auch für solche Unternehmen, bei denen am Tag des Inkrafttretens des SanInsKG, d.h. am 9. November 2022, bereits eine Überschuldung vorlag. Die Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der maßgebliche Zeitpunkt für eine rechtzeitige Insolvenzantragsstellung gem. § 15a Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO am 9. November 2022 noch nicht verstrichen war. 

Daher müssen solche Unternehmen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des SanInsKG bereits überschuldet waren, zwingend und sorgfältig prüfen, ob die Höchstfrist zur Insolvenzantragstellung von maximal sechs Wochen zwischen Eintritt der Überschuldung und dem Inkrafttreten des SanInsKG am 9. November 2022 bereits abgelaufen sein könnte. Ist dies der Fall, können sich die betroffenen Unternehmen nicht auf die Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung auf vier Monate berufen.

Sollte die Höchstfrist von sechs Wochen zur Insolvenzantragsstellung vor dem Inkrafttreten des SanInsKG indes noch nicht verstrichen sein und eine Fortbestehensprognose des Unternehmens für die nächsten vier Monate mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sein, kann die Insolvenzantragspflicht nachträglich entfallen (BT-Drs. 20/487, S. 9). Dies gilt jedoch nur dann, wenn keine Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens vorliegt, was von den Geschäftsleitern entsprechend zu prüfen ist.

Nach dem Willen des Gesetzgebers können bereits im Insolvenzverfahren befindliche Unternehmen bei Vorliegen einer isolierten Überschuldung, die durch den kürzeren Prognosezeitraum der neuen Regelung entfallen würde, einen selbstgestellten Insolvenzantrag zurücknehmen (BT-Drs. 20/487, S. 9). Dies gilt jedoch ausdrücklich nur dann, wenn nicht auch – was in der Praxis indes häufig der Fall ist – eine Zahlungsunfähigkeit vorliegt.

Im Gegensatz zum COVInsAG ist der Anwendungsbereich der Regelung von § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG und damit die Verkürzung des Prognosezeitraums ausdrücklich nicht an einen kausalen Zusammenhang zwischen der aktuellen Krise und der Überschuldung des Unternehmens geknüpft. Die Erleichterungen gelten somit unabhängig davon, ob die Überschuldung durch die aktuelle Krise auf den Energie- und Rohstoffmärkten verursacht wurde oder auf davon völlig unabhängige Ursachen zurückzuführen ist. Den Verzicht auf einen entsprechenden Kausalitätszusammenhang begründet der Gesetzgeber damit, dass "von den derzeitigen Verhältnissen mehr oder weniger alle Wirtschaftsteilnehmer zumindest mittelbar betroffen seien und ein Kausalitätserfordernis daher nur schwerlich festgelegt werden könnte" (BT-Drs. 20/487, S. 8). 

2. Verlängerung der Höchstfrist für die Insolvenzantragsstellung bei Überschuldung

Auch die Höchstfrist für die Insolvenzantragstellung bei Vorliegen einer Überschuldung erfährt durch das SanInsKG eine vorübergehende Anpassung. Durch die Regelung von § 4a SanInsKG wird die Höchstfrist für die Stellung eines Insolvenzantrags bei Vorliegen der Überschuldung gem. § 15a Abs. 1 Satz 2 InsO von sechs Wochen auf acht Wochen erhöht. 

Die Verlängerung der Höchstfrist für die Stellung des Insolvenzantrags soll nach dem Willen des Gesetzgebers dem Umstand Rechnung tragen, dass aufgrund der aktuellen Situation und der mit ihr einhergehenden Planungsunsicherheiten für etwaige Sanierungsbemühungen sowie die Vorbereitung einer Sanierung im präventiven Restrukturierungsrahmen oder in einem Eigenverwaltungsverfahren mehr Zeit erforderlich werden könnte (BT- Drs. 20/4087, S. 9).

Zu berücksichtigen ist, dass durch die Verlängerung der Höchstfrist für die Insolvenzantragsstellung bei einer Überschuldung auf acht Wochen der Grundsatz nach § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO, wonach Insolvenzanträge ohne schuldhaftes Zögern zu stellen sind, weiterhin uneingeschränkt gilt. Die Höchstfrist von acht Wochen darf also nicht ausgeschöpft werden, wenn bereits zu einem früheren Zeitpunkt feststeht, dass mit einer nachhaltigen Beseitigung der Überschuldung nicht mehr gerechnet werden kann. 

Die Höchstfrist zur Stellung eines Insolvenzantrags bei Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeit wurde ausdrücklich nicht verändert, sodass Geschäftsleiter in diesem Fall spätestens nach drei Wochen einen Insolvenzantrag stellen müssen.

3. Zeitlicher Geltungsbereich

Sowohl die Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO als auch die Verlängerung der Höchstfrist für die Insolvenzantragsstellung bei Vorliegen einer Überschuldung nach § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO gelten zunächst befristet bis zum 31. Dezember 2023 (§ 4 Abs. 2 Satz 1 und § 4a SanInsKG). 

III. Anpassung Verkürzung der Planungszeiträume in Eigenverwaltungsverfahren und Restrukturierungsverfahren

Darüber hinaus werden durch die Regelungen von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 SanInsKG auch die Zeiträume, die Finanzpläne bei der Beantragung eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung nach (§ 270a Abs. 1 Nr. 1 InsO) und bei der Beantragung einer Stabilisierungsanordnung (§ 50 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG), etwa einer Vollstreckungssperre, abdecken müssen, angepasst. 

Bislang ist die Inanspruchnahme dieser beiden Instrumentarien jeweils nur dann möglich, wenn der Insolvenzschuldner gegenüber dem Gericht durch Vorlage eines belastbaren Finanzplans nachweisen kann, dass seine Durchfinanzierung für mindestens sechs Monate gesichert ist. Durch das SanInsKG wird dieser Zeitraum nun jeweils auf vier Monate verkürzt.

IV. Fazit und Praxishinweis

Die deutliche Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung von zwölf Monaten auf vier Monate in Kombination mit der Verlängerung der Höchstfrist für die Stellung eines Insolvenzantrags bei Vorliegen der Überschuldung auf acht Wochen dürfte den Insolvenzantragsgrund der Überschuldung insgesamt entschärfen.

Die Verkürzung des Prognosezeitraums kann in der Praxis im Einzelfall auch hilfreich sein, da ein verkürzter Prognosezeitraum die Unternehmensplanung angesichts der derzeit bestehenden Unsicherheiten im Zusammenhang mit den massiven Preisschwankungen auf den Rohstoff- und Energiemärkten, die eine verlässliche langfristige Planung erschweren, erleichtert. Fraglich ist jedoch, ob die Verkürzung des Prognosezeitraums die gewünschte Wirkung haben wird. Schließlich wird Unternehmen, bei denen der Umsatz einbricht und infolgedessen die Liquidität wegschmilzt, durch eine Verkürzung des Prognosezeitraums nicht geholfen. Überdies werden die allermeisten Insolvenzanträge (auch) wegen des Insolvenzgrunds der Zahlungsunfähigkeit gestellt. Die Regelungen zur Insolvenzantragstellung bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wurden jedoch gerade nicht geändert und die Insolvenzantragspflicht wurde, anders als in der COVID-19-Pandemie, nicht ausgesetzt. 

Die Geschäftsleiter von Unternehmen sollten zudem beachten, dass die Verkürzung des Prognosezeitraums keinesfalls ihre Pflicht zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der langfristigen Unternehmensplanung ersetzt bzw. obsolet macht. Diese sollte auch weiterhin deutlich über den Zeitraum von vier Monaten hinaus erfolgen, fortwährend plausibilisiert und bei Änderung der zugrundeliegenden Planungsprämissen und Umständen angepasst werden. Während einer andauernden Überschuldung hat zudem eine monatlich rollierende Fortschreibung der Unternehmensplanung zu erfolgen, damit der Prognosezeitraum dauerhaft vier Monate beträgt.

Kritisch zu bewerten ist, dass die Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung nicht an einen Kausalitätszusammenhang zwischen der aktuellen Krise und der Überschuldung des Unternehmens anknüpft. Dies wird dazu führen, dass auch solche Unternehmen in den "Genuss" des verkürzten Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung und damit der Privilegierung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG kommen, deren wirtschaftliche Schieflage nicht im Zusammenhang mit den Verwerfungen auf den Rohstoff- und Energiemärkten steht, sondern auf ganz anderen Ursachen, wie etwa Missmanagement, beruht. Es besteht daher die realistische Gefahr, dass die vom Gesetzgeber gut gemeinte Regelung von "im Kern ungesunden" Unternehmen ausgenutzt wird.

Vollkommen offen ist, welche Auswirkungen der Umstand hat, dass der Zeitraum der Fortbestehensprognose im Rahmen der Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO von nunmehr vier Monaten mit der Fortführungsprognose nach § 252 HGB auseinanderfällt, bei der regelmäßig ein Zeitraum von zwölf Monaten zugrunde zu legen ist. Dieses zeitliche Auseinanderfallen der Betrachtungszeiträume kann dazu führen, dass ein Unternehmen zwar insolvenzrechtlich nicht überschuldet ist, gleichwohl aber kein "Going Concern" gegeben ist. Problematisch könnte dies insbesondere deshalb werden, weil Banken etwaige Darlehen gerade auf der Grundlage von Jahresabschlüssen gewähren, nach denen die Fortführung des Unternehmens ausdrücklich sichergestellt ist und ein "Going Concern" testiert wurde.

Abzuwarten bleibt zuletzt, ob die Verlängerung der Höchstfrist für die Insolvenzantragsstellung bei einer Überschuldung in der Praxis tatsächlich einen großen Unterschied machen wird. Schließlich dürfte nicht davon auszugehen sein, dass es einem Unternehmen bzw. dessen Geschäftsleitung gelingt, die Überschuldung innerhalb von acht Wochen nachhaltig zu beseitigen, wenn es die wirtschaftlichen Probleme nicht in den vorhergehenden sechs Wochen in den Griff bekommen hat.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Das SanInsKG ist da – Temporäre Anpassungen im Sanierungs- und Insolvenzrecht