Ad-hoc-Praxis der DAX-Emittenten im Jahr 2022

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Ad-hoc-Praxis der DAX-Emittenten im Jahr 2022

27. Januar 2023

  • Erneuter Rückgang der Anzahl der Ad-hoc-Veröffentlichungen von DAX-Emittenten (2022 wurden 81 Ad-hoc-Mitteilungen veröffentlicht – gegenüber rund 107 Ad-hoc-Mitteilungen im Jahr 2021).
  • Thematisch betraf fast die Hälfte der veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen Geschäftsergebnisse und Prognosen der Emittenten. Im Zuge des Russland-Ukraine-Kriegs passten einige DAX-Emittenten ihre Ergebnisprognose für 2022 an. Ad-hoc-Mitteilungen mit M&A-Bezug machten 2022 lediglich ein Fünftel der Gesamtmitteilungen aus.
  • EU-Konsultation schlägt im Listing Act praxisrelevante Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung vor.

Erneuter Rückgang der Ad-hoc-Veröffentlichungen

Die Anzahl der veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen war 2022 erneut rückläufig. Veröffentlichten die im DAX gelisteten Emittenten 2021 noch durchschnittlich ca. 2,6 Ad-hoc-Mitteilungen, so waren es im vergangenen Jahr lediglich ca. 2 Ad-hoc-Mitteilungen je Emittent.

Die absolute Zahl von 107 Ad-hoc-Mitteilungen im Jahr 2021 verringerte sich im Jahr 2022 auf insgesamt 81 Ad-hoc-Mitteilungen. Die Volkswagen AG führt dabei die Liste mit acht veröffentlichten Mitteilungen an, wobei hiervon sechs Mitteilungen im Zusammenhang mit dem Börsengang der Porsche AG Ende September 2022 stehen.

Inhaltliche Trends

Thematisch lassen sich die Ad-hoc-Veröffentlichungen der DAX-Emittenten im Jahr 2022 – wie auch in den Jahren zuvor – in vier Gruppen einteilen:

  • Veröffentlichung von vorläufigen Geschäftsergebnissen und/oder Anpassung der Ergebnisprognose,
  • M&A-Transaktionen (insb. bedeutende Übernahmen, Fusionen und Börsengänge);
  • Personalangelegenheiten im Vorstand bzw. Aufsichtsrat;
  • sonstige Ad-hoc-Mitteilungen zum Beispiel zu Kapitalmaßnahmen Aktienrückkäufen.

Rund die Hälfte der im Jahr 2022 veröffentlichten Ad-hoc-Mitteilungen von DAX-Emittenten betraf Geschäftsergebnisse und Prognosen der Emittenten. Dabei war zu beobachten, dass einige Emittenten ihre Ergebniserwartung für das Jahr 2022 anlässlich des Russland-Ukraine-Kriegs und damit zusammenhängender Unsicherheiten – zum Teil per Ad-hoc-Mitteilung – korrigierten. So aktualisierte etwa die Henkel AG & Co. KGaA im April 2022 ihre Jahresprognose angesichts der "außerordentlich angespannte[n] Situation an den Rohstoffmärkten und in den globalen Lieferketten", die sich "durch den Krieg in der Ukraine weiter verschärft" hätten. Teilweise wurde auch per Ad-hoc-Meldung darauf hingewiesen, dass von einer Prognose abgesehen bzw. eine solche zurückgezogen werde. Andere Emittenten hatten die mit dem Russland-Ukraine-Krieg verbundenen Unsicherheiten hingegen bereits in ihrer zu Jahresbeginn im Rahmen der Regelberichterstattung bekanntgegebenen Ergebniserwartung berücksichtigt. Die RWE AG konnte im Jahr 2022 gleich dreimal mitteilen, dass die Konzernergebnisprognose übertroffen bzw. erhöht wird. Hintergrund ist u.a., dass es RWE gelang, höhere Beschaffungskosten (vor allem bei Erdgas) durch Preiserhöhungen größtenteils an die Verbraucher weiterzugeben. Insgesamt zeigt sich, dass die Emittenten auf Basis der Leitlinien im Emittentenleitfaden der BaFin mit den sie jeweils betreffenden Auswirkungen des Russland-Ukraine-Kriegs gut zurechtkamen, ohne dass es – wie zu Beginn der COVID-19-Pandemie – besonderer FAQ der BaFin bedurft hätte. Die FAQ zu Fragen der Ad-hoc-Publizität im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie hat die BaFin Mitte des Jahres 2022 wieder außer Kraft gesetzt, da für deren Anwendung kein Bedürfnis mehr bestand.

Weiterhin war auffällig, dass sich der prozentuale Anteil an Ad-hoc-Mitteilungen mit Transaktionsbezug gegenüber dem Vorjahr verdoppelte (2021: 10% bzw. 10 Mitteilungen; 2022: 20% bzw. 16 Mitteilungen). Ein Großteil dieser Mitteilungen entfiel auf den Börsengang der Porsche AG Ende September 2022 und betrifft somit eine singuläre Transaktion, wodurch das Bild verzerrt wird. Insgesamt betrug der Anteil an Mitteilungen mit Transaktionsbezug im Jahr 2022 lediglich ein Fünftel der Gesamtmitteilungen. Das korrespondiert mit der Entwicklung des M&A-Markts im Jahr 2022. Das Volumen der Transaktionen mit deutscher Beteiligung ist Umfragen zufolge jüngst deutlich zurückgegangen.

Die Anzahl von Ad-hoc-Mitteilungen in Bezug auf Personalthemen hat sich ebenfalls verdoppelt. Die adidas AG veröffentlichte im Zusammenhang mit der Bestellung eines neuen Vorstandsvorsitzenden gleich zwei Mitteilungen: Zunächst aufgrund der laufenden Gespräche mit Bjørn Gulden und vier Tage später wegen des Beschlusses des Aufsichtsrats. Die Volkswagen AG meldete Mitte 2022 sowohl das einvernehmliche Ausscheiden von Herrn Dr. Herbert Diess als auch die Nachfolge durch Herrn Dr. Oliver Blume in einer Mitteilung.

Ad-hoc-Mitteilungen zu sonstigen Themen betrafen insbesondere Kapitalmaßnahmen wie Aktienrückkäufe, die typischerweise ad-hoc-pflichtig sind. Hierzu berichteten beispielsweise die Allianz SE, die Covestro AG oder die Munich Re. Bemerkenswerte Compliance-Verstöße, die per Ad-hoc-Mitteilung bekanntgegeben wurden, gab es 2022 bei den DAX-Emittenten nicht.

Mögliche Änderungen des Ad-hoc-Regimes aufgrund des EU Listing Acts

Die Kommission veröffentlichte Ende 2022 ihren finalen Entwurf des EU Listing Act, der u.a. wesentliche Änderungen im Bereich der Ad-hoc-Publizität vorsieht. 

So soll künftig bei Zwischenschritten eines gestreckten Geschehensablaufs (nur noch) das Insiderhandelsverbot gelten, nicht jedoch die Pflicht zur Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung. Die Veröffentlichungspflicht soll sich bei gestreckten Geschehensabläufen nur noch auf das Endereignis beziehen, wobei der Kommissionsvorschlag hier offenlässt, ob erst das eingetretene Endereignis oder bereits das überwiegend wahrscheinliche Endereignis (50% + X) als zukünftiger Umstand die Ad-hoc-Pflicht auslöst.

Sollte der Vorschlag der Kommission im Sinne eines strengen Finalitätskonzepts zu verstehen sein, wäre – was wünschenswert wäre – nur der tatsächliche Eintritt des angestrebten Endereignisses veröffentlichungspflichtig. Bei einem anderen Verständnis bliebe es (teilweise) bei der derzeitigen Rechtslage, d.h. bereits der überwiegend wahrscheinliche Eintritt des zukünftigen Ereignisses wäre zu veröffentlichen. Dies würde dazu führen, dass derjenige Zwischenschritt zu bestimmen wäre, zu dem der Eintritt des angestrebten Ereignisses (z.B. das Zustandekommen einer M&A-Transaktion) überwiegend wahrscheinlich wird. Damit würden nur die sehr frühen Zwischenschritte von der Veröffentlichungspflicht ausgenommen, während die zeitlich später gelagerten Zwischenschritte "durch die Hintertür" veröffentlichungspflichtig blieben. Es bestünde in dem Fall weiterhin erheblicher Bedarf für eine aktiv zu beschließende Selbstbefreiung, weil in aller Regel auch bei Überschreiten der 50 % + x-Schwelle im Rahmen eines gestreckten Geschehensablaufs im Hinblick auf das zukünftige Endereignis die Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung nicht gewollt ist, sondern beispielsweise die betreffenden Verhandlungen von den Parteien in vertraulichem Rahmen zu Ende geführt werden sollen. Demgegenüber würde das Institut der Selbstbefreiung bei einem strengen Finalitätskonzept, das auf das eingetretene Endereignis abstellt, an Bedeutung verlieren.

Dies zeigt, dass an dieser Stelle noch Klarstellungsbedarf besteht, damit die Herausnahme von Zwischenschritten eines gestreckten Geschehensablaufs aus der Veröffentlichungspflicht nach Art. 17 Abs. 1 MAR einerseits und die Streichung in Art. 17 Abs. 4 MAR andererseits nicht zu Missverständnissen führen. Vor diesem Hintergrund ist es in jedem Fall zu begrüßen, dass in einem neuen Art. 17 Abs. 1a MAR vorgesehen werden soll, dass die Kommission ermächtigt wird, im Wege eines delegierten Rechtsakts eine nicht abschließende Liste relevanter Insiderinformationen und für jede Information einen Hinweis auf den Veröffentlichungszeitpunkt zu erlassen. Damit soll insbesondere Klarheit über den Zeitpunkt der Offenlegungspflicht geschaffen werden. Da ein Entwurf des delegierten Rechtsakts noch nicht vorliegt, lässt sich derzeit aber noch nicht beurteilen, ob eine solche Liste tatsächlich die Rechtssicherheit erhöhen würde.

Praxisrelevant ist zudem eine Neuerung im Kontext der Meldepflicht der Emittenten beim Aufschub der Veröffentlichung einer Insiderinformation. Nach derzeitiger Rechtslage melden Emittenten der BaFin erst nach der Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung, dass sie deren Veröffentlichung zeitweise aufgeschoben hatten. Künftig soll bereits unverzüglich nach dem Beschluss der Selbstbefreiung eine Mitteilung an die Behörde erforderlich werden. Der Vorschlag der Kommission zielt darauf ab, den Aufsichtsbehörden einen besseren und aktuelleren Überblick über die Praxis der Selbstbefreiungen zu vermitteln. 

Daneben sieht der Kommissionsvorschlag weitere Änderungen der Marktmissbrauchsverordnung vor. Diese betreffen unter anderem die Bereiche der Marktsondierungen, Führung von Insiderlisten und Managers' Transactions. Hervorzuheben ist insoweit insbesondere, dass für Emittenten künftig die Verpflichtung zum Führen von anlassbezogenen Insiderlisten entfallen und stattdessen die Erstellung und laufende Aktualisierung permanenter Insiderlisten genügen soll.

Noch steht nicht fest, ob und wann die Kommissionsvorschläge umgesetzt von werden. Bis Mitte Februar nimmt die Kommission noch Rückmeldungen entgegen, bevor die Verordnung anschließend in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gebracht wird.

GLADE MICHEL WIRTZ steht für einen Austausch zu diesen Themen jederzeit gern zur Verfügung.

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Das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes zum Kartellrecht

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Das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes zum Kartellrecht

19. Januar 2023

Während wir uns bereits mehrfach mit dem Thema Nachhaltigkeit im Kartellrecht im befasst haben, soll es in diesem Beitrag um das Verhältnis des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) zum Kartellrecht gehen.

I. Was regelt das LKSG?

Das am 1. Januar 2023 in Kraft getrenene LkSG soll die Beachtung menschenrechtlicher und umweltbezogener Standards entlang globaler Lieferketten gewährleistenSo sollen z.B. Kinder- und Zwangsarbeit sowie Trinkwasserverschmutzung bei der Produktion verhindert werden. Unmittelbar verpflichtet sind Unternehmen, die in Deutschland über einen Haupt- oder einen Zweitsitz verfügen und mehr als 3.000 Mitarbeiter beschäftigen. Ab dem Jahr 2024 gilt das LkSG zusätzlich für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern. Somit werden im Jahr 2024 mehr als 3.000 Unternehmen verpflichtet sein, in ihren Lieferketten menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten in angemessener Weise zu beachten. Für die Kontrolle und Durchsetzung der Einhaltung der Pflichten ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig. Dieses kann bei ordnungswidrigem Handeln Geldbußen von bis zu zwei Prozent des durchschnittlichen Jahresumsatzes verhängen.

II. Welche konkreten Pflichten entstehen durch das LkSG?

Die den Unternehmen obliegenden, konkreten Sorgfaltspflichten sind in § 3 Abs. 1 S. 2 LkSG in einem Pflichtenkatalog niedergelegt. Von der Vielzahl der verschiedenen Sorgfaltspflichten betreffen vier Pflichten das Verhältnis des Unternehmens zu seinen Zulieferern und teilweise auch zu seinen Wettbewerbern. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld mit kartellrechtlichen Pflichten und Ahndungsrisiken. Diese betreffenden LkSG-Pflichten sind in den Nummern 3, 5, 6 und 9 des Katalogs geregelt.

Nach Nummer 3 haben die Unternehmen eine Risikoanalyse durchzuführen, bei der unter anderem menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken bei den unmittelbaren Zulieferern des Unternehmens ermittelt werden müssen. Es ist sicherzustellen, dass die Ergebnisse der Risikoanalyse an die maßgeblichen Entscheidungsträger kommuniziert werden.

Nummer 5 normiert Präventionsmaßnahmen in Bezug auf unmittelbare Zulieferer. Die Unternehmen müssen bei der Auswahl eines Zulieferers menschenrechts- und umweltbezogene Erwartungen einbeziehen, sich den Erwartungen entsprechendes Verhalten vertraglich zusichern lassen sowie Schulungen und Weiterbildungen beim Zulieferer durchführen. Für mittelbare Zulieferer können sich uU entsprechende Handlungspflichten ergeben, § 9 Abs. 3 LkSG.

Nach Nummer 6 ist im Fall einer Pflichtverletzung beim unmittelbaren Zulieferer ein Konzept zur Beendigung oder Minimierung der Pflichtverletzung zu erstellen und umzusetzen. Zu diesem Zweck ist mit dem Zulieferer und gegebenenfalls auch mit anderen Abnehmern des Zulieferers (das können Wettbewerber des Unternehmens beim Einkauf und/oder Absatz sein) zusammenzuarbeiten.

Schließlich müssen Unternehmen gemäß Nummer 9 jährlich einen Bericht über die Erfüllung der Sorgfaltspflichten erstellen und diesen öffentlich und damit für jedermann, somit auch für Wettbewerber, zugänglich machen.

III. Kartellrechtliche Probleme und deren Lösungen

Diese Pflichten betreffen das Verhältnis zwischen einem Unternehmen und seinen Lieferanten. Sie erfordern einen Austausch von Informationen mit dem unmittelbaren Zulieferer und teilweise auch darüber hinaus mit anderen Unternehmen. Einem solchen Informationsaustausch sind kartellrechtliche Grenzen gesetzt. Ein Vorrang des LkSG vor dem Kartellrecht, erst recht dem Unionskartellrecht, besteht nicht. Es ist deshalb eine sachgerechte Balance zwischen den Anforderungen des LkSG und den kartellrechtlichen Grenzen im Sinne praktischer Konkordanz zu finden. Insbesondere dort, wo das LkSG den Unternehmen Handlungsspielräume belässt, müssen diese unter Berücksichtigung des Kartellrechts ausgefüllt werden.

1. Die Risikoanalyse

Das Risikomanagement nach § 4 und die Risikoanalyse nach § 5 LkSG verpflichten Unternehmen, menschenrechtliche und umweltbezogene Risiken zu erkennen und zu ermitteln. Um eine aussagekräftige Risikoanalyse durchführen zu können, wird ein Unternehmen häufig eine vertiefte Prüfung der Geschäftsverhältnisse seiner unmittelbaren Lieferanten vornehmen müssen. Dabei kann ein Informationsaustausch insbesondere dann kartellrechtlich relevant sein, wenn der Lieferant auch Wettbewerber ist, z.B. bei vertikal integrierten Unternehmen oder in Fällen eines sog. dualen Vertriebs. Zudem ist zu beachten, dass ein Wettbewerb mit dem Lieferanten auch auf Einkaufsseite (bei einem parallelen Einkauf der gleichen Produkte) oder um Arbeitskräfte bestehen kann.

Beim Austausch von Informationen mit einem unmittelbaren Zulieferer ist deshalb darauf zu achten, dass der Informationsaustausch auf das beschränkt wird, was für die Bewertung des Zulieferers nach den Kriterien des LkSG erforderlich ist, sofern keine sonstige Privilegierung greift, zB wegen Art. 2 Abs. 5 Vertikal GVO. Um dies zu gewährleisten, sollte intern ein Standardkatalog erstellt werden, der die Aspekte und Fragen beinhaltet, die für eine angemessene Risikoanalyse der Lieferkette benötigt werden. Sofern teilweise kartellrechtlich sensible Daten ausgetauscht werden müssen, ist es empfehlenswert, die Risikoanalyse durch Externe oder ein Clean Team durchführen zulassen und erst die Ergebnisse der Analyse den maßgeblichen Entscheidungsträgern mitzuteilen (§ 5 Abs. 3 LkSG). 

2. Die Präventionsmaßnahmen

Auf Basis der Risikoanalyse sind Präventionsmaßnahmen in Bezug auf alle identifizierten Risiken zu ergreifen (§ 6 LkSG). Bei den Präventionsmaßnahmen ist zwischen Schulung und Kontrolle der Lieferanten sowie der Auswahl der Zulieferer zu unterscheiden.

Bei den Schulungen und Kontrollen der Lieferanten besteht die Gefahr, dass über die notwendigen Informationen hinaus wettbewerblich sensible Informationen erlangt oder ausgetauscht werden. Durch die Implementierung von standardisierten Abläufen für Kontrollen und Schulungen bei Zulieferern lässt sich dieses Risiko verringern. Darüber hinaus können Schulungen und Kontrollmaßnahmen durch externe Dienstleister oder durch Clean Teams durchgeführt werden, die darauf achten, dass die Maßnahmen auf die Einhaltung der menschenrechtsbezogenen und umweltbezogenen Pflichten nach dem LkSG beschränkt sind und nicht auf das Geschäftsverhalten des Zulieferers im Übrigen Einfluss genommen wird.

Die Auswahl des Zulieferers unter Berücksichtigung von umwelt- bzw. menschenrechtsbezogenen Kriterien (§ 6 Abs. 4 Nr. 1 LkSG) ist grundsätzlich kartellrechtlich unproblematisch. Erst wenn das unter das LkSG fallende Unternehmen eine marktbeherrschende oder relativ marktmächtige Stellung hat, sind die Grenzen von Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB zu beachten. Hält sich ein Unternehmen bei der Auswahl des Lieferanten nur an die staatlichen Mindeststandards, steht es in keinem Konflikt mit dem Kartellrecht, weil das Einhalten der Standards verpflichtend ist. Geht es bei der Auswahl der Lieferanten über die Mindeststandards des LkSG hinaus, setzen Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB die Grenzen dessen, was einem Zulieferer abverlangt werden darf. 

Marktbeherrschende oder relativ marktstarke Unternehmen dürfen in der Regel die Erwartungen und Anforderungen, die sie an ihre Zulieferer stellen, frei bestimmen. Missbräuchlich ist ihr Handeln erst, wenn sie bspw. ohne Sachgrund unterschiedliche Anforderungen an unterschiedliche Zulieferer stellen oder Zulieferern nicht die Möglichkeit geben, sich auf die strengeren Maßstäbe einzustellen und diese zu erfüllen. Dies kann bspw. durch das Gewähren von Übergangsfristen ausgeschlossen werden.

3. Das Ergreifen von Abhilfemaßnahmen

§§ 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 i.V.m. 7 Abs. 1 LkSG verpflichten die Unternehmen, bei der Verletzung einer menschenrechtsbezogenen oder umweltbezogenen Pflicht im eigenen Betrieb oder bei ihrem unmittelbaren Zulieferer unverzüglich geeignete Abhilfemaßnahmen zu ergreifen. Kann die Verletzung nicht innerhalb eines absehbaren Zeitraums beendet werden, muss das Unternehmen ein Abhilfekonzept erarbeiten und umsetzen.

Zur Erarbeitung und Umsetzung des Konzeptes ist auch eine Kooperation mit anderen Unternehmen im Rahmen von Brancheninitiativen und Branchenstandards in Betracht zu ziehen, um den Einfluss auf den Verursacher zu vergrößern. Oftmals eröffnet ein solches Verhalten den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB, da die Abnehmer nicht selten in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stehen. Allerdings wird eine Kooperation bzw. ein "Zusammenschluss" von Unternehmen in § 7 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 LkSG ausdrücklich als mögliche Abhilfemaßnahme angeführt. Eine solche Koordinierung kann nach Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB freigestellt sein. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Zusammenschluss ein unerlässliches Mittel zur Erreichung des legitimen Ziels, der Steigerung der Einflussmöglichkeiten auf den Verursacher, um die Einhaltung aller Sorgfaltspflichten zu gewährleisten, darstellt. Folglich dürfen keine milderen, gleich geeigneten Abhilfemaßnahmen bestehen. Eine weitere kartellrechtliche Grenze ist das Boykottverbot des § 21 Abs. 1 GWB, welches die "unbillige" Aufforderung oder tatsächliche Durchsetzung von Liefer- oder Bezugssperren untersagt. In der Regel liegt keine Unbilligkeit vor, wenn der Boykottaufruf gegen ein Unternehmen gerichtet ist, das rechtswidrig handelt. Hier empfiehlt sich aufgrund möglicher bußgeldrechtlicher Konsequenzen aber eine sehr sorgfältige Prüfung. Jedenfalls ist anhand einer Interessenabwägung festzustellen, ob es sich um eine unbillige Beeinträchtigung handelt. Es ist dabei zwischen den Geschäftsinteressen des Zulieferers, der Schwere seiner Pflichtverletzung und dem Abstellungsinteresse der zusammenarbeitenden Unternehmen abzuwägen. Des Weiteren ist darauf zu achten, dass keine wettbewerbsrelevanten Informationen zwischen den Wettbewerbern auf Abnehmerseite ausgetauscht werden. Die Koordinierung mit den anderen Abnehmern des Zulieferers und die Maßnahmen diesem gegenüber müssen sich klar auf die Abstellung der Sorgfaltspflichtverletzung beschränken.

Als letztes Mittel kann im Rahmen dieses Konzepts auch das Aussetzen der Geschäftsbeziehungen erfolgen (§ 7 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 LkSG), und, wenn dies nicht hilft, auch der Abbruch (Abs. 3). Da das Aussetzen und der Abbruch der Geschäftsbeziehung jedoch gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben sind, sondern es sich vielmehr um Handlungsoptionen handelt, sind die Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB anwendbar. Dabei bewertet die Rechtsprechung die Beendigung von Geschäftsbeziehungen strenger als die Nichtaufnahme von Geschäftsbeziehungen. Beendet ein marktbeherrschendes Unternehmen eine Geschäftsbeziehung, wird dies grundsätzlich als missbräuchlich angesehen, wenn kein objektiver Rechtfertigungsgrund vorliegt oder die Beendigung der Geschäftsbeziehung unverhältnismäßig ist. Der Verstoß gegen umwelt- oder menschenrechtliche Pflichten nach dem LkSG stellt grundsätzlich einen objektiven Rechtfertigungsgrund dar. Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei können die in § 3 Abs. 2 LkSG enthaltenen Verhältnismäßigkeitskriterien für das Aussetzen und zusätzlich die Kriterien in § 7 Abs. 3 für den Abbruch der Geschäftsbeziehung hinzugezogen werden. Diese zielen jedoch nur auf die Beurteilung der Schwere der Pflichtverletzung nach dem LkSG ab und sind daher im Rahmen der kartellrechtlichen Interessenabwägung nicht für eine Rechtfertigung ausreichend. Schließlich muss auch das Interesse des Lieferanten an der Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung berücksichtigt werden. Somit kommt es letztlich auf die Umstände des Einzelfalls an. Bei besonders schwerer, vorsätzlicher oder wiederholter Pflichtverletzung ist die Beendigung einer Geschäftsbeziehung jedoch im Regelfall auch verhältnismäßig.

4. Die Berichterstattung

Alle dem LkSG unterfallenden Unternehmen müssen jährlich einen Bericht über die Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten im vergangenen Geschäftsjahr erstellen und spätestens vier Monate nach dem Schluss des Geschäftsjahrs auf der eigenen Internetseite für einen Zeitraum von sieben Jahren kostenfrei öffentlich zugänglich machen, § 10 LkSG. Durch diese Pflicht, jährlich einen Bericht zu veröffentlichen, entsteht für das Unternehmen die Gefahr des sogenannten „Signallings“ gegenüber Wettbewerbern. Darunter versteht man den Austausch von wettbewerblich sensiblen Informationen zwischen Unternehmen über öffentliche Kanäle. 

Die Grenzen eines unzulässigen Signalling sind bislang nicht hinreichend geklärt. Berichte sollten deshalb so verfasst sein, dass sie keine wettbewerbssensiblen Informationen beinhalten und sich prinzipiell auf die für den Maßstab des § 10 LkSG notwendigen Informationen beschränken. Wettbewerblich sensible Informationen werden in der Regel im Bericht nicht erforderlich sein. Wenn sie in Ausnahmefällen dennoch unvermeidlich sind, müssen sie in geeigneter Weise anonymisiert und/oder nach den üblichen kartellrechtlichen Standards aggregiert werden.

IV. Conclusio

Durch die Vielzahl der Sorgfaltspflichten des LkSG entsteht das Risiko unbeabsichtigter kartellrechtlicher Verstöße en passant. Mangels Entscheidungspraxis wird es anfangs nicht immer einfach sein, eine sachgerechte Balance zwischen dem LkSG und dem Kartellrecht zu finden. Jedoch stellen die neuen Risiken letztlich keine unbekannten Probleme der kartellrechtlichen Compliance dar. So lassen sich z.B. die Risiken eines Informationsaustauschs und eines Marktmissbrauchs mit bereits bekannten Ansätzen lösen. 

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Nachhaltigkeit und Wettbewerb – Mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft?

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Nachhaltigkeit und Wettbewerb – ­Mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft?

16. Januar 2023

Die Europäische Kommission ("Kommission") hat zu Beginn des neuen Jahres einen Entwurf der Leitlinien für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft ("Leitlinienentwurf") veröffentlicht. Dies zeigt, dass die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen im Kartellrecht auch weiterhin oben auf der Prioritätenliste der europäischen Wettbewerbsbehörde steht. Die Leitlinien zielen darauf ab, die Vorgaben des Art. 210a VO (EU) Nr. 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse ("GMO") zu konkretisieren und mehr Rechtssicherheit für Akteure im Lebensmittel- und Agrarsektor bei der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu schaffen. Dieser Beitrag erläutert die wesentlichen Aussagen des Leitlinienentwurfs und nimmt eine erste Bewertung vor, inwieweit der Entwurf der Kommission einen Beitrag zur rechtssicheren Implementierung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft leistet. Auf die grundlegenden Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Behandlung von Nachhaltigkeitszielen gehen die Blogbeiträge vom 8. Februar 2021 (hier) und vom 27. September 2022 (hier) ein.

I. Bedeutung der Erzeuger landwirtschaftlicher Erzeugnisse für den europäischen "Green Deal"

Art. 210a GMO wurde im Rahmen der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik ("GAP") im Jahr 2021 eingeführt, um den Übergang zu einem nachhaltigen EU-Lebensmittelsystem zu unterstützen. Diese Freistellung vom Kartellverbot soll einen Beitrag zum Erreichen der Ziele des "Green Deal" leisten, mit dem die EU in eine "gerechtere und wohlhabendere Gesellschaft mit einer modernen, ressourcenschonenden und wettbewerbsfähigen Wirtschaft" umgebaut werden soll. Nach Art. 210a Abs 1 GMO findet das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die sich auf die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder den Handel damit beziehen und darauf abzielen, einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, als er durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Diese Freistellung gilt jedoch nur, wenn mit diesen Vereinbarungen, Beschlüssen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen lediglich Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt werden, die für das Erreichen des höheren Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich sind. Die Ausnahme ist nicht auf die Erzeugerebene beschränkt, sondern gilt auch für wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen zwischen Erzeugern und Unternehmen auf verschiedenen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Handels der Lebensmittelversorgungskette. Damit eine Nachhaltigkeitsvereinbarung in den Anwendungsbereich von Art. 210a Abs. 2 GMO fällt, muss mindestens ein Erzeuger als Partei beteiligt sein.

II. Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft

Die Leitlinien sollen nicht nur für Rechtssicherheit sorgen, indem sie Erzeugern und Akteuren in der Lebensmittelversorgungskette bei der Bewertung ihrer Nachhaltigkeitsvereinbarungen als Grundlage dienen. Vielmehr sollen sie auch den nationalen Gerichten und Wettbewerbsbehörden eine Orientierungshilfe bei der Anwendung von Art. 210a GMO bieten. Zu diesem Zweck widmet sich der Leitlinienentwurf einer Vielzahl von Aspekten: (i) dem persönlichen, sachlichen und zeitlichen Anwendungsbereich von Art. 210a GMO und den von der Bestimmung erfassten Produkten; (ii) den von der Ausnahmeregelung erfassten Arten von Wettbewerbsbeschränkungen; (iii) dem Konzept der Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO; (iv) dem Verfahren für die Beantragung einer Stellungnahme der Kommission zu der Frage, ob eine bestimmte Nachhaltigkeitsvereinbarung die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllt; (v) den Voraussetzungen für ein nachträgliches Eingreifen der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden sowie (viii) der Beweislast für den Nachweis, dass die Voraussetzungen des Art. 210a GMO erfüllt sind. Dieser Blogbeitrag widmet sich im Schwerpunkt den erfassten Nachhaltigkeitszielen, dem Konzept der Unerlässlichkeit und dem System der Stellungnahmen der Kommission zur Zulässigkeit einer Nachhaltigkeitsvereinbarung.

1. Nachhaltigkeitsziele: Mehr Gestaltungsfreiraum als bisher?

Nach Art. 210a Abs. 3 GMO muss ein Nachhaltigkeitsstandard zur Erreichung eines oder mehrerer der folgenden Ziele beitragen: (i) Umweltziele (z.B. eine Abschwächung des oder eine Anpassung an den Klimawandel, die nachhaltige Nutzung bzw. der Schutz von Landschaften, Wasser oder des Bodens etc.), (ii) die Verringerung des Einsatzes von Pestiziden und der Gefahr einer Resistenz gegen antimikrobielle Wirkstoffe sowie (iii) Tiergesundheit und Tierwohl. Zu beachten ist jedoch, dass andere als die aufgeführten Ziele wie soziale Verbesserungen (z.B. der Arbeitsbedingungen oder eine gesunde und nahrhafte Ernährung) sowie wirtschaftliche Ziele (z.B. die Entwicklung von Marken oder eine gerechtere Entlohnung von Landwirten) nicht bei der Beurteilung der Einhaltung von Art. 210a GMO berücksichtigt werden können (Rn. 43 Leitlinienentwurf). Daher ist bei der Prüfung, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung von der Freistellung des Art. 210a GMO profitiert, auf eine genaue Identifizierung der Ziele zu achten, zu deren Erreichung der Nachhaltigkeitsstandard beitragen soll. Dies verdeutlicht ein Beispiel der Kommission, in dem Milcherzeuger und Verarbeiter vereinbaren, eine Marke zu entwickeln, die eine gerechtere Entlohnung der Erzeuger gewährleisten soll. Zwar können grundsätzlich Einkommenssteigerungen der Milcherzeuger zu einem Anstieg der Investitionen führen, die Umwelt- oder Tierschutzziele verfolgen. Wenn jedoch das Ziel, zu dessen Erreichung die Vereinbarung beitragen soll, darin besteht, eine gerechtere Entlohnung der Erzeuger zu gewährleisten, wäre dies nicht von den in Art. 210a Abs. 3 GMO aufgeführten Zielen erfasst. Eine Freistellung vom Kartellverbot müsste anhand der Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV geprüft werden.

Um von der Privilegierung des Art. 210a GMO profitieren zu können, muss der Nachhaltigkeitsstandard, der mit der Nachhaltigkeitsvereinbarung verfolgt wird, höher sein als das, was durch europäisches oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Dies bedeutet, dass der Nachhaltigkeitsstandard Nachhaltigkeitsanforderungen aufstellen muss, die über diejenigen einer in Kraft befindlichen Norm hinausgehen. Der Standard kann auch Nachhaltigkeitsanforderungen in Fällen einführen, in denen weder das EU-Recht noch das nationale Recht solche vorschreiben. Die durch die Anwendung einer Nachhaltigkeitsvereinbarung erzielten Ergebnisse müssen grundsätzlich greifbar und messbar sein. Zur Lösung des Problems der Quantifizierung von Nachhaltigkeitsvorteilen dürfte die Erwägung der Kommission beitragen, dass es in Fällen, in denen es nicht adäquat ist, die erzielten Ergebnisse in Zahlen zu messen, z.B. aufgrund der Art oder des Gegenstands der Nachhaltigkeitsnorm, ausreichend sein soll, dass diese beobachtbar und beschreibbar sind (Rn. 52 Leitlinienentwurf).

2. Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO und Art. 101 Abs. 3 AEUV: Same same, but different?

Eines der wichtigsten Kriterien bei der Prüfung, ob eine Nachhaltigkeitsvereinbarung von der Freistellung nach Art. 210a GMO profitieren kann, ist die Unerlässlichkeit der auferlegten Wettbewerbsbeschränkungen. Vergleichbar mit der Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 101 Abs 3 AEUV erfordert auch die Prüfung der Unerlässlichkeit nach Art. 210a GMO im Ausgangspunkt ein Vorgehen in zwei Schritten. Aufgrund des gesetzgeberischen Willens, Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Agrarsektor aus dem Anwendungsbereich von Art. 101 AEUV herauszunehmen, unterscheiden sich die für die Bestimmung des Begriffs der Unerlässlichkeit anzuwendenden Maßstäbe jedoch. So setzt der Maßstab der Unerlässlichkeit im Rahmen des Art. 210a GMO im Gegensatz zu Art. 101 Abs. 3 AEUV keine angemessene Verbraucherbeteiligung an den Vorteilen der Nachhaltigkeitsvereinbarung voraus. Daraus folgt, dass sogar Vereinbarungen über Preise und Preisbestandteile – Hardcore-Verstöße gegen das EU-Kartellrecht, die im Regelfall in den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen und auch keiner (Einzel-)freistellung zugänglich sind – unter bestimmten Voraussetzungen als unerlässlich anzusehen sein können (Rn. 83 Leitlinienentwurf).

Entsprechend dieser zweistufigen Prüfung der Unerlässlichkeit ist in einem ersten Schritt zu klären, ob die Nachhaltigkeitsvereinbarung an sich notwendig ist, um den angestrebten Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, ob der Nachhaltigkeitsstandard in gleicher Weise auch durch individuelles Handeln erreicht werden kann (Rn. 90 ff. Leitlinienentwurf). Nach Auffassung der Kommission kann eine Kooperation auch notwendig sein, wenn der Nachhaltigkeitsstandard zwar durch individuelle Maßnahmen erreicht werden könnte, die Parteien sie aber durch eine Zusammenarbeit schneller und mit weniger Kosten und Aufwand erzielen können (Rn. 95 Leitlinienentwurf). Die Parteien müssen weiter prüfen, ob die konkrete Regelung, z.B. in Bezug auf Preis, Produktion, Innovation oder Vertrieb für die Erreichung des Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich ist.

Wenn die Parteien nach dem ersten Schritt zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Nachhaltigkeitsvereinbarung und die darin festgelegten Maßnahmen unerlässlich sind, um den Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen, ist in einem zweiten Schritt zu klären, ob dies auch für jede durch die Vereinbarung auferlegte Wettbewerbsbeschränkung zutrifft (Rn. 101, 107 ff. Leitlinienentwurf). Bei diesem Prüfungsschritt muss die Maßnahme ausgewählt werden, die am geeignetsten ist, um die Ziele der Nachhaltigkeitsvereinbarung zu erreichen und die gleichzeitig den Wettbewerb am wenigsten beeinträchtigt. So müssen die Parteien z.B. bei einer Vereinbarung über den Preis entscheiden, ob die Festlegung eines Endpreises, eines Mindestpreises oder eines Preisaufschlags unerlässlich zur Erreichung des jeweiligen Nachhaltigkeitsstandards ist. Neben der Art der Beschränkung sind dabei auch ihre Intensität (z.B. die konkrete Höhe des Preises) und ihre Dauer zu berücksichtigen (Rn. 114 und 117 ff. Leitlinienentwurf).

Die Parteien einer Nachhaltigkeitsvereinbarung müssen zudem kontinuierlich überprüfen, ob die Vereinbarung auch im weiteren Verlauf noch unerlässlich ist. Selbst wenn die Kommission in einer ersten Phase zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Unerlässlichkeit i.S.d. Art 210a GMO vorliegt, ist dies keine Garantie dafür, dass die Vereinbarung dauerhaft die Anforderungen an die Unerlässlichkeit erfüllt. Dies kann insbesondere dann nicht mehr der Fall sein, wenn sich der wirtschaftliche und rechtliche Kontext, in dem die Nachhaltigkeitsvereinbarung zum Einsatz kommt, wesentlich ändert (Rn. 130 Leitlinienentwurf).

3. Stellungnahme der Kommission – Vier Monate vom sicheren Hafen entfernt?

Nach Art. 210a Abs. 6 UAbs. 1 GMO können die von der Norm erfassten Erzeuger ab dem 8. Dezember 2023 die Kommission um eine Stellungnahme zur Vereinbarkeit einer Nachhaltigkeitsvereinbarung mit Art. 210a GMO ersuchen, die dem Antragsteller innerhalb von vier Monaten übermittelt wird. Die Kommission betont in dem Leitlinienentwurf, dass diese Frist erst am Tag nach dem Eingang eines vollständigen Antrags beginnt. Für eine zeitnahe Bearbeitung der Stellungnahme ist daher entscheidend, dass dieser die durchaus umfassenden Anforderungen der Kommission an den Antrag und die Darstellung der Nachhaltigkeitsvereinbarung erfüllt (Rn. 144 Leitlinienentwurf). Die Stellungnahmen der Kommission entfalten zwar keine rechtliche Bindungswirkung gegenüber Gerichten und den nationalen Wettbewerbsbehörden. Sie sollen vielmehr die Erzeuger bei der Selbstbeurteilung unterstützen. Dennoch dürfen die nationalen Wettbewerbsbehörden und die nationalen Gerichte die Stellungnahmen der Kommission berücksichtigen, wenn sie dies im Rahmen eines Falles für angebracht halten (Rn. 158 Leitlinienentwurf). Gleichzeitig haben die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden weiterhin das Recht, Nachhaltigkeitsvereinbarungen aufzuheben oder Änderungen daran zu verlangen, wenn dies erforderlich ist, um den Wettbewerb aufrechtzuerhalten, oder wenn davon auszugehen ist, dass die Ziele der GAP gemäß Art. 39 AEUV gefährdet sind (Rn. 161 ff. Leitlinienentwurf).

III. Fazit und Ausblick

Interessierte Kreise sind bis zum 24. April 2023 aufgerufen, den Leitlinienentwurf zu kommentieren. Nach der Auswertung der eingegangenen Stellungnahmen und möglicher Änderungen an den Leitlinien sollen diese bis zum 8. Dezember 2023 veröffentlicht werden. Sollte der Leitlinienentwurf vollständig umgesetzt werden, dürften die Leitlinien einen wichtigen Beitrag zu mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft leisten. Dazu trägt insbesondere die Möglichkeit bei, innerhalb eines vergleichbar kurzen Zeitrahmens von vier Monaten eine Stellungnahme der Kommission mit deren rechtlicher Würdigung der Nachhaltigkeitsvereinbarung zu erhalten. Auch die Erwägung der Kommission, Vereinbarungen über Preise und Preisbestandteile in Nachhaltigkeitsvereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen als mit dem Kartellverbot vereinbar anzusehen, dürfte Nachhaltigkeitsinitiativen neben mehr Gestaltungsfreiheit auch mehr Rechtsicherheit bei der Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen verschaffen. Dieser bemerkenswerte Ansatz der Kommission bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen hat jedoch aufgrund der auf den Agrarsektor begrenzten Bereichsausnahme des Art. 210a GMO keine darüberhinausgehende Ausstrahlungswirkung.

Von entscheidender Bedeutung für die Durchschlagskraft des Art. 210a GMO in der Praxis dürfte auch der Umgang des Bundeskartellamts mit dieser Freistellung vom Kartellverbot sein. In seiner bisherigen Entscheidungspraxis zu Nachhaltigkeitsinitiativen im Agrarsektor hat das Bundeskartellamt von einer Freistellung dieser Initiative gestützt auf Art. 210a GMO abgesehen (hier). Daher bleibt abzuwarten, in welchem Umfang das Bundeskartellamt Art. 210a GMO bei der Beurteilung von Nachhaltigkeitsinitiativen nach der geplanten Veröffentlichung der Leitlinien im Dezember 2023 berücksichtigen wird.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Nachhaltigkeit und Wettbewerb – Mehr Rechtssicherheit für Nachhaltigkeitsvereinbarungen in der Landwirtschaft?

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Dr. Silke Möller

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Das SanInsKG ist da – Temporäre Anpassungen im Sanierungs- und Insolvenzrecht

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Das SanInsKG ist da – Temporäre Anpassungen im Sanierungs- und Insolvenzrecht

21. November 2022

Am 9. November 2022 ist das Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen (Sanierungs- und insolvenzrechtliches Krisenfolgenabmilderungsgesetz, kurz: SanInsKG) in Kraft getreten. Das SanInsKG dient der Umsetzung der insolvenzrechtlichen Vorgaben aus dem dritten Entlastungspaket der Bundesregierung, dass diese als Reaktion auf die erheblichen Preissteigerungen auf den Energie- und Rohstoffmärkten in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und den damit verbundenen, erheblichen finanziellen Belastungen für Unternehmen beschlossen hat.

Durch das SanInsKG soll nach dem Willen oder besser der Hoffnung des Gesetzgebers die erwartete Welle von Unternehmensinsolvenzen verhindert werden. Dies soll maßgeblich durch eine zeitlich befristete Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung nach § 19 InsO erreicht werden. Aber kann dies überhaupt gelingen, wenn es den Unternehmen aufgrund der explodierenden Rohstoff- und Energiepreise schlicht an der notwendigen Liquidität fehlt? Eben diese Fragestellung und weitere Aspekte des SanInsKG werden in diesem Beitrag näher betrachtet.

I. Aus COVInsAG wird das SanInsKG

Zunächst hat der Gesetzgeber mit dem SanInsKG kein neues Gesetz geschaffen. Vielmehr beruht das SanInsKG auf dem im Jahr 2020 in Kraft getretenen COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG), das um einige wenige Regelungen ergänzt und in "Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen" umbenannt wurde.

Das ausdrückliche Ziel des Gesetzgebers und des SanInsKG ist es, im Kern finanziell gesunde Unternehmen, "deren Bestandsfähigkeit unter normalen Umständen, d.h. bei Hinwegdenken der derzeitigen Preisvolatilitäten und Unsicherheiten außer Zweifel stünde" (BT-Drs. 20/4087, S. 8). Zur Erreichung dieses Ziel sieht das SanInsKG verschiedene temporäre Änderungen im Sanierungs- und Insolvenzrecht vor. 

II. Anpassung der Antragspflicht bei Überschuldung nach § 19 Abs. 2 InsO

Die wohl weitreichendsten Regelungen des SanInsKG betreffen die befristete Anpassung der gesetzlichen Vorschriften zur Insolvenzantragspflicht bei einer vorliegenden Überschuldung des Unternehmens nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO. 

1. Verkürzung des Prognosezeitraums für die Fortbestehensprognose nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO

Eine zur Insolvenzantragstellung verpflichtende Überschuldung liegt nach dem Wortlaut von § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.

Der Insolvenzgrund der Überschuldung liegt demnach dann nicht vor, wenn das Fortbestehen des Unternehmens nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist, also eine positive Fortbestehensprognose gegeben ist. Eine positive Fortführungsprognose nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO besteht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wenn sich aus einem aussagekräftigen Unternehmenskonzept eine Lebensfähigkeit des Unternehmens ergibt, wobei diesem Konzept grundsätzlich sowohl ein Ertrags- als auch ein Finanzplan für den Prognosezeitraum von zwölf Monaten zugrunde liegen muss. Oder kurzgesagt: Eine Fortbestehensprognose kann dann angenommen werden, wenn das Unternehmen im Prognosezeitraum von zwölf Monaten über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um die in diesem Zeitraum fällig werdenden Verbindlichkeiten im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Fälligkeit zu befriedigen.

Durch die Regelung von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG wird der Prognosezeitraum für die Fortbestehensprognose nunmehr von zwölf Monaten auf vier Monate verkürzt. Das heißt, das Unternehmen lediglich noch in einem Zeitraum von vier Monaten dazu in der Lage sein müssen, ihre finanziellen Verbindlichkeiten im Zeitpunkt der jeweiligen Fälligkeit bedienen zu können.

Nach der Regelung von § 4 Abs. 2 Satz 2 SanInsKG gilt die Verkürzung des Prognosezeitraum für die Fortbestehensprognose auf vier Monate ausdrücklich auch für solche Unternehmen, bei denen am Tag des Inkrafttretens des SanInsKG, d.h. am 9. November 2022, bereits eine Überschuldung vorlag. Die Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der maßgebliche Zeitpunkt für eine rechtzeitige Insolvenzantragsstellung gem. § 15a Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO am 9. November 2022 noch nicht verstrichen war. 

Daher müssen solche Unternehmen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des SanInsKG bereits überschuldet waren, zwingend und sorgfältig prüfen, ob die Höchstfrist zur Insolvenzantragstellung von maximal sechs Wochen zwischen Eintritt der Überschuldung und dem Inkrafttreten des SanInsKG am 9. November 2022 bereits abgelaufen sein könnte. Ist dies der Fall, können sich die betroffenen Unternehmen nicht auf die Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung auf vier Monate berufen.

Sollte die Höchstfrist von sechs Wochen zur Insolvenzantragsstellung vor dem Inkrafttreten des SanInsKG indes noch nicht verstrichen sein und eine Fortbestehensprognose des Unternehmens für die nächsten vier Monate mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben sein, kann die Insolvenzantragspflicht nachträglich entfallen (BT-Drs. 20/487, S. 9). Dies gilt jedoch nur dann, wenn keine Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens vorliegt, was von den Geschäftsleitern entsprechend zu prüfen ist.

Nach dem Willen des Gesetzgebers können bereits im Insolvenzverfahren befindliche Unternehmen bei Vorliegen einer isolierten Überschuldung, die durch den kürzeren Prognosezeitraum der neuen Regelung entfallen würde, einen selbstgestellten Insolvenzantrag zurücknehmen (BT-Drs. 20/487, S. 9). Dies gilt jedoch ausdrücklich nur dann, wenn nicht auch – was in der Praxis indes häufig der Fall ist – eine Zahlungsunfähigkeit vorliegt.

Im Gegensatz zum COVInsAG ist der Anwendungsbereich der Regelung von § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG und damit die Verkürzung des Prognosezeitraums ausdrücklich nicht an einen kausalen Zusammenhang zwischen der aktuellen Krise und der Überschuldung des Unternehmens geknüpft. Die Erleichterungen gelten somit unabhängig davon, ob die Überschuldung durch die aktuelle Krise auf den Energie- und Rohstoffmärkten verursacht wurde oder auf davon völlig unabhängige Ursachen zurückzuführen ist. Den Verzicht auf einen entsprechenden Kausalitätszusammenhang begründet der Gesetzgeber damit, dass "von den derzeitigen Verhältnissen mehr oder weniger alle Wirtschaftsteilnehmer zumindest mittelbar betroffen seien und ein Kausalitätserfordernis daher nur schwerlich festgelegt werden könnte" (BT-Drs. 20/487, S. 8). 

2. Verlängerung der Höchstfrist für die Insolvenzantragsstellung bei Überschuldung

Auch die Höchstfrist für die Insolvenzantragstellung bei Vorliegen einer Überschuldung erfährt durch das SanInsKG eine vorübergehende Anpassung. Durch die Regelung von § 4a SanInsKG wird die Höchstfrist für die Stellung eines Insolvenzantrags bei Vorliegen der Überschuldung gem. § 15a Abs. 1 Satz 2 InsO von sechs Wochen auf acht Wochen erhöht. 

Die Verlängerung der Höchstfrist für die Stellung des Insolvenzantrags soll nach dem Willen des Gesetzgebers dem Umstand Rechnung tragen, dass aufgrund der aktuellen Situation und der mit ihr einhergehenden Planungsunsicherheiten für etwaige Sanierungsbemühungen sowie die Vorbereitung einer Sanierung im präventiven Restrukturierungsrahmen oder in einem Eigenverwaltungsverfahren mehr Zeit erforderlich werden könnte (BT- Drs. 20/4087, S. 9).

Zu berücksichtigen ist, dass durch die Verlängerung der Höchstfrist für die Insolvenzantragsstellung bei einer Überschuldung auf acht Wochen der Grundsatz nach § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO, wonach Insolvenzanträge ohne schuldhaftes Zögern zu stellen sind, weiterhin uneingeschränkt gilt. Die Höchstfrist von acht Wochen darf also nicht ausgeschöpft werden, wenn bereits zu einem früheren Zeitpunkt feststeht, dass mit einer nachhaltigen Beseitigung der Überschuldung nicht mehr gerechnet werden kann. 

Die Höchstfrist zur Stellung eines Insolvenzantrags bei Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeit wurde ausdrücklich nicht verändert, sodass Geschäftsleiter in diesem Fall spätestens nach drei Wochen einen Insolvenzantrag stellen müssen.

3. Zeitlicher Geltungsbereich

Sowohl die Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO als auch die Verlängerung der Höchstfrist für die Insolvenzantragsstellung bei Vorliegen einer Überschuldung nach § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO gelten zunächst befristet bis zum 31. Dezember 2023 (§ 4 Abs. 2 Satz 1 und § 4a SanInsKG). 

III. Anpassung Verkürzung der Planungszeiträume in Eigenverwaltungsverfahren und Restrukturierungsverfahren

Darüber hinaus werden durch die Regelungen von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 SanInsKG auch die Zeiträume, die Finanzpläne bei der Beantragung eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung nach (§ 270a Abs. 1 Nr. 1 InsO) und bei der Beantragung einer Stabilisierungsanordnung (§ 50 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG), etwa einer Vollstreckungssperre, abdecken müssen, angepasst. 

Bislang ist die Inanspruchnahme dieser beiden Instrumentarien jeweils nur dann möglich, wenn der Insolvenzschuldner gegenüber dem Gericht durch Vorlage eines belastbaren Finanzplans nachweisen kann, dass seine Durchfinanzierung für mindestens sechs Monate gesichert ist. Durch das SanInsKG wird dieser Zeitraum nun jeweils auf vier Monate verkürzt.

IV. Fazit und Praxishinweis

Die deutliche Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung von zwölf Monaten auf vier Monate in Kombination mit der Verlängerung der Höchstfrist für die Stellung eines Insolvenzantrags bei Vorliegen der Überschuldung auf acht Wochen dürfte den Insolvenzantragsgrund der Überschuldung insgesamt entschärfen.

Die Verkürzung des Prognosezeitraums kann in der Praxis im Einzelfall auch hilfreich sein, da ein verkürzter Prognosezeitraum die Unternehmensplanung angesichts der derzeit bestehenden Unsicherheiten im Zusammenhang mit den massiven Preisschwankungen auf den Rohstoff- und Energiemärkten, die eine verlässliche langfristige Planung erschweren, erleichtert. Fraglich ist jedoch, ob die Verkürzung des Prognosezeitraums die gewünschte Wirkung haben wird. Schließlich wird Unternehmen, bei denen der Umsatz einbricht und infolgedessen die Liquidität wegschmilzt, durch eine Verkürzung des Prognosezeitraums nicht geholfen. Überdies werden die allermeisten Insolvenzanträge (auch) wegen des Insolvenzgrunds der Zahlungsunfähigkeit gestellt. Die Regelungen zur Insolvenzantragstellung bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wurden jedoch gerade nicht geändert und die Insolvenzantragspflicht wurde, anders als in der COVID-19-Pandemie, nicht ausgesetzt. 

Die Geschäftsleiter von Unternehmen sollten zudem beachten, dass die Verkürzung des Prognosezeitraums keinesfalls ihre Pflicht zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der langfristigen Unternehmensplanung ersetzt bzw. obsolet macht. Diese sollte auch weiterhin deutlich über den Zeitraum von vier Monaten hinaus erfolgen, fortwährend plausibilisiert und bei Änderung der zugrundeliegenden Planungsprämissen und Umständen angepasst werden. Während einer andauernden Überschuldung hat zudem eine monatlich rollierende Fortschreibung der Unternehmensplanung zu erfolgen, damit der Prognosezeitraum dauerhaft vier Monate beträgt.

Kritisch zu bewerten ist, dass die Verkürzung des Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung nicht an einen Kausalitätszusammenhang zwischen der aktuellen Krise und der Überschuldung des Unternehmens anknüpft. Dies wird dazu führen, dass auch solche Unternehmen in den "Genuss" des verkürzten Prognosezeitraums im Rahmen der Überschuldungsprüfung und damit der Privilegierung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SanInsKG kommen, deren wirtschaftliche Schieflage nicht im Zusammenhang mit den Verwerfungen auf den Rohstoff- und Energiemärkten steht, sondern auf ganz anderen Ursachen, wie etwa Missmanagement, beruht. Es besteht daher die realistische Gefahr, dass die vom Gesetzgeber gut gemeinte Regelung von "im Kern ungesunden" Unternehmen ausgenutzt wird.

Vollkommen offen ist, welche Auswirkungen der Umstand hat, dass der Zeitraum der Fortbestehensprognose im Rahmen der Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO von nunmehr vier Monaten mit der Fortführungsprognose nach § 252 HGB auseinanderfällt, bei der regelmäßig ein Zeitraum von zwölf Monaten zugrunde zu legen ist. Dieses zeitliche Auseinanderfallen der Betrachtungszeiträume kann dazu führen, dass ein Unternehmen zwar insolvenzrechtlich nicht überschuldet ist, gleichwohl aber kein "Going Concern" gegeben ist. Problematisch könnte dies insbesondere deshalb werden, weil Banken etwaige Darlehen gerade auf der Grundlage von Jahresabschlüssen gewähren, nach denen die Fortführung des Unternehmens ausdrücklich sichergestellt ist und ein "Going Concern" testiert wurde.

Abzuwarten bleibt zuletzt, ob die Verlängerung der Höchstfrist für die Insolvenzantragsstellung bei einer Überschuldung in der Praxis tatsächlich einen großen Unterschied machen wird. Schließlich dürfte nicht davon auszugehen sein, dass es einem Unternehmen bzw. dessen Geschäftsleitung gelingt, die Überschuldung innerhalb von acht Wochen nachhaltig zu beseitigen, wenn es die wirtschaftlichen Probleme nicht in den vorhergehenden sechs Wochen in den Griff bekommen hat.

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Guide to the German Foreign Direct Investment Control Regime

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Guide to the German Foreign Direct Investment Control Regime

13 October 2022

Foreign Direct Investment (FDI) control has seen a significant surge in recent years. Germany is no exception. While the German approach towards foreign investments has traditionally been liberal, the German legislator following the overall trend significantly tightened the German FDI regime. This applies not only to investments in specific, security sensitive areas such as military technology. Following the latest amendments of the German FDI regime more and more non-EU/EFTA investments in areas such as critical infrastructure (energy, telecommunications, information technology, etc.), cyber security, high technology, media, medical supplies etc. must be notified with the Federal Ministry for Economic Affairs and Climate Action (BMWK). According to the BMWK's statistics, in 2021 alone 306 transactions were notified with the BMWK compared to around only 40 transactions in 2016. A further increase is expected.

Since FDI control – in addition to merger control – has become a major factor in transaction management, this blogpost provides practical answers to the most pressing questions regarding the German FDI regime.

I. What are the relevant laws in Germany and who is in charge?

The German FDI control is governed by the Foreign Trade and Payments Act (AWG) and the Foreign Trade and Payments Ordinance (AWV). The BMWK is in charge of reviewing foreign invest-ments that are caught by the control regime pursuant to the AWG and the AWV.

II. What is the general scope of FDI control?

German FDI control has two areas, the cross-sectoral (Sec 55 AWV et seqq.) and the sector-specific control (Sec 60 AWV et seqq.):

  • Under the cross-sectoral control, the BMWK may scrutinize every direct and indirect non-EU/EFTA investment of 25% (in certain business sectors 10%/20%) or more of the voting rights in a German company irrespective of the company's field of business.
  • Under the sector-specific control, the BMWK can scrutinize any foreign, i.e., also EU/EFTA, direct or indirect investment of 10% or more of the voting rights in a German company with activities in specific, security sensitive areas (military technology, IT security products used for processing classified government information, etc.).

III. What types of investments are caught by the FDI regime?

Beyond investments of 10%20%25% or more (see above), German FDI control may also apply to investments below the above-mentioned thresholds if the investor – in addition to certain minority voting rights below the thresholds – is assigned, for instance, additional seats or majorities in supervisory bodies or the management or is granted veto rights in the case of strategic business or personnel decisions (Sec 56 (3), 60a (2) AWV).

Moreover, any further acquisition of voting rights – following an initial investment in the German company that already triggered FDI control – is also subject to review if it results in a total of 20%, 25%, 40%, 50% or 75% of the voting rights in the German company depending on the initial threshold applied (10%/20%/25%; sec 56 (2), 61 (2) AWV).

As regards the calculation of the thresholds, one should bear in mind that voting rights of third parties in the German company may be attributed to the investor if the investor, for instance, already holds a certain number of shares in the third company – not necessarily amounting to control over said company (Sec 56 (4)(5), 60a (2) AWV).

Finally, both the cross-sectoral and the sector-specific control capture not only share deals, but also asset deals. Accordingly, it may suffice to acquire certain assets of a German company to trigger the FDI control by the BMWK (Sec 55 (1a), 60 (1a) AWV).

IV. When is an investor considered "foreign"?

As regards the cross-sectoral control any non-EU/EFTA investor is considered foreign. In the sec-tor-specific control any non-German investor is considered foreign, i.e., also EU/EFTA investors.

However, both the cross-sectoral and sector-specific control also capture indirect investments in German companies. The BMWK also has the right to control non-foreign investments if there are indications that the specific structure of the acquisition, i.e., the use of a German or EU/EFTA investment vehicle, is employed to escape scrutiny under German FDI control (Sec 55 (2), 60 (2) AWV). Therefore, depending on the specifics of the case, the BMWK may "look through" the direct investor to assess whether a certain investment has to be considered foreign. A situation in which the BMWK regularly focuses on the natural or legal person behind the direct investor is where a German or EU shelf company is used as a transaction vehicle (e.g., for purposes of tax optimization).

V. When is a target considered "German"?

For a target company to be considered as German, it is sufficient to have a legal person based or headquartered in Germany. Under the notion of "indirect investment" it further suffices that the direct non-German target has a German subsidiary. Finally, a target may also be considered Ger-man if branches of foreign legal persons are headquartered in Germany or permanent establish-ments of foreign legal persons exist in Germany. Accordingly, transactions that appear to be for-eign-to-foreign from the outside, may still be liable to be notified with the BMKW.

VI. Are there any De-minimis exceptions?

In contrast to merger control, elements like turnover or transaction value are not relevant for FDI control. Accordingly, German FDI law does not know De-minimis exceptions that would exclude investments in targets below a certain size from scrutiny. The BMWK's 2020 prohibition of Chinese Addsino's (a subsidiary of state-owned defense group China Aerospace Science and Industry Corp) plans to acquire German IMST GmbH, which is active in the field of satellite and radar communication, is a case in point. At the time of the prohibition IMST GmbH only had a worldwide turnover of EUR 14 million.

VII. Is it mandatory to submit an application ...

Whether the submission of an application is mandatory or not depends on the type of investment.

…UNDER THE CROSS-SECTORAL CONTROL REGIME?

The cross-sectoral control regime allows the BMWK to scrutinize ex officio any direct or indirect acquisition of 25% or more of the voting rights in a German company by a non-EU/EFTA investor irrespective of the business sector involved.

However, the cross-sectoral control only provides for a mandatory application if the German company is active in certain fields of business, which are defined in Sec 55a (1) AWV. Depending on the field of business, a filing obligation arises if the investor acquires 10%/20% or more in the target company, e.g.:

  • Acquisitions of 10% or more of the voting rights must be reported if the target company operates a critical infrastructure or develops or manufactures critical components for the respective infrastructure (e.g., energy, information technology and telecommunications, transport and traffic, health, water, food, finance, and insurance) or if it provides other particularly sensitive services (e.g., cloud-computing offers of a certain size or activities in the media industry) as defined in Sec 55a (1) no 1 to 7 AWV.
  • Acquisitions of 20% or more of the voting rights must be reported if the business activities of the German company fall within the scope of the list provided in Sec 55a (1) no 8 to 27 AWV. The list captures activities in fields as diverse as medical devices, pharmaceuticals, autonomous driving, robotics, quantum technology, semiconductors, AI, or 3D printing.

…UNDER THE SECTOR-SPECIFIC CONTROL REGIME?

Under the sector-specific control regime any acquisition of 10% or more of the voting rights in a German company by a foreign investor (including EU/EFTA investors) is liable to be notified to the BMWK, if the German company is active in certain specific, security sensitive areas (military technology, IT security products used for processing classified government information, etc., Sec 60 AWV).Since the recent amendments of the German FDI control, an application notification may already be triggered if only a small department of a company is active in one of the security sensitive areas, e.g., acts as supplier of goods to a military manufacturer, cf. Sec 60 (1) sentence 1 no 4 AWV.

VIII. Is it possible to receive formal clearance also outside the mandatory notification obligations?

Investments which are not caught by the mandatory filing obligations under the cross-sectoral or sector-specific control regime (e.g., because the target has no relevant activities in any of the listed fields of business, Sec 55a (1) AWV), may generally be consummated without interference of the BMWK. Yet, as already pointed out, the BMWK may decide to investigate any investment of 25% or more of the voting rights by a non-EU/EFTA investor in a German company (irrespective of the company's field of business) up to five years after signing (Sec 14a (3) AWG).

To avoid the uncertainty of a potential ex officio investigation by the BMWK and achieve transaction security, the investor can in a situation, where no filing obligation exists, but the BMWK still has jurisdiction to investigate the transaction, apply for a certificate of non-objection (Sec 58 AWV), This approach is particularly sensible in situations where it is expected that the BMWK may be interested in the deal and might consider it to be a threat to public order or security (compare below IX.).

IX. What is the substantive legal test applied by the BMWK?

The substantive test applied by the BMWK differs, depending on whether the notification is filed under the cross-sectoral or sector-specific control regime.

  • Under the cross-sectoral control, the BMWK can intervene if the acquisition is likely to have an effect on the public order or security of Germany, of another Member State of the European Union or in relation to projects or programs of Union interest within the meaning of Article 8 of Regulation (EU) 2019/452, Sec 55 (1) AWV).
  • Under the sector-specific control, the BMWK can intervene if the acquisition is likely to impair essential security interests of Germany, Sec 60 AWV.

While interventions of the BMKW must respect the principle of proportionality, the BMWK has significant leeway with respect to (i) the decision of whether to intervene, (ii) the scrutiny and weighing of the acquirer’s background, and (iii) potential measures (ranging from conditional approval to prohibition).

X. Which intervention powers does the BMWK have?

If the acquisition does not raise any concerns regarding the public order or security/essential security interests of, in particular, Germany, the BMWK clears the acquisition or issues a certificate of non-objection (Sec 58, 58a, 61 AWV).

If the BMWK, however, identifies concerns for the public order or security/essential security interests of, in particular, Germany, it can prohibit the direct acquirer from making the investment or issue instructions to the parties involved and the companies affiliated to them in order to protect essential security interests (Sec 59, 62 AWV).

XI. What are the deadlines for the review by the BMWK?

The BMWK's review procedure is divided into two phases, the preliminary review (phase I) and the in-depth/formal review (phase II), Sec 14a (1) AWG. Most deals are dealt with and cleared in phase I. The BMWK only opens phase II if it has concerns regarding the envisaged investment.

In phase I, the BMWK has two months (usually starting with the notification/application for a certificate of non-objection) to decide whether to open a phase II in-depth investigation or whether to clear the transaction (Sec 14a (1)(3) AWG). Phase I may be extended with the consent of the parties involved (Sec 14a (5) AWG).

If the BMWK initiates a phase II assessment, it has additional four months (starting from the submission of all relevant information for the BMKW's assessment) to reach a decision. Should the transaction be particularly complex, the deadline may be extended by a further three months, and, if the acquisition affects the defense interests of Germany, by another month (Sec 14a (4) AWG). In addition, phase II may also be extended at any time with the consent of the parties (Sec 14a (5) AWG). Beyond the various extensions, the deadlines for phase II are suspended if the BMWK requests additional information from the parties or negotiates contractual arrangements with them (Sec 14a (6) AWG).

If the BMWK fails to reach a decision within the time frame provided for in phases I or II, the acquisition is deemed to have been cleared. In 2021, of the 306 cases assessed by the BMWK, 266 were cleared within phase I, while 40 cases were subject to a considerably longer phase II review. Of these 40 cases, 6 cases saw interventions from the BMWK (i.e., prohibitions, side conditions, public-law contracts and/or administrative orders). In 2019 and 2020, the BMWK intervened in 12 cases out of 160 (2020)/106 (2019). In general, the fact that the BMWK does not publish its decisions makes it extremely difficult to predict the outcome of a critical case.

XII. What are the consequences if a mandatory application has not been submitted?

In transactions that are subject to a notification obligation, the underlying contractual agreements are valid but subject to dissolution if the BMWK issues a prohibition decision (condition subsequent, Sec 15 (2) AWG). If the BMWK does not clear the transaction, the contracts are invalid from the beginning (ex tunc).

To prevent the unlawful implementation of acquisitions, the German FDI control regime also prohibits certain forms of consummation. The German FDI rules specifically prohibit the exercise of voting rights by the investor and the disclosure of company-related, security relevant information (Sec 15 (4) AWG). Any acts in violation of these gun-jumping rules are null and void pending clearance. Intentional violations of these prohibitions are criminal offenses by the individuals involved and punishable by imprisonment of up to five years or a fine (Sec 18 (2) no 8 AWG). In the case of negligence, the violation is punishable by a fine of up to EUR 500,000 (Sec 19 (1) no 2 AWG).

Where no notification obligation exists, the parties are free to consummate the transaction. Yet, in situations where the parties expect the BMWK to take a critical stance towards the deal, it may be advisable to apply for a non-objection certificate and only close the deal after obtaining the BMWK approval.

XIII. Can decisions of the BMWK be appealed?

The Administrative Court of Berlin is competent for appeals against decisions of the BMWK. Since the BMWK has a significant discretion, its decisions are, however, rarely appealed.

The blog post is available for download here: Guide to the German Foreign Direct Investment Control Regime

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Verschärfte (Compliance-)Pflichten und Haftungsrisiken des Geschäftsleiters bei der internen Unternehmensorganisation – Oberlandesgericht Nürnberg qualifiziert unterlassene Compliance-Maßnahmen als Pflichtverletzung

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Verschärfte (Compliance-)Pflichten und Haftungs­risiken des Geschäfts­leiters bei der internen Unternehmens­organisation – Oberlan­desgericht Nürnberg qualifiziert unterlassene Compliance-Maßnahmen als Pflichtverletzung

5. Oktober 2022

Das OLG Nürnberg hat in seinem Urteil vom 30. März 2022 (Az.: 12 U 1520/19) die Pflichten von Geschäftsleitern im Zusammenhang mit der internen Unternehmensorganisation konkretisiert und dadurch die potenzielle Haftung von Geschäftsleitern weiter verschärft. Obwohl die Entscheidung von erheblicher Bedeutung für die Praxis und die Unternehmensorganisation durch den Geschäftsleiter ist, hat sie erst vor wenigen Wochen die Aufmerksamkeit der breiten (Fach-)Öffentlichkeit erfahren. 

Konkret hat das Oberlandesgericht Nürnberg in seiner Entscheidung die Einführung eines Vier-Augen-Prinzips für kritische Prozesse und schadensträchtige Tätigkeiten als Teil eines internen Compliance-Management-Systems als verpflichtend angesehen und das Unterlassen von dessen Einführung als Pflichtverletzung des Geschäftsleiters qualifiziert.

I. Sachverhalt der Entscheidung des OLG Nürnberg

Der Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg lag folgender – stark verkürzt wiedergegebener – Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin, eine GmbH & Co. KG, vertrieb unter anderem an von ihr eingerichteten Tankstellen Mineralölprodukte an Unternehmen mit eigenen Fuhrparks. Zu diesem Zweck gab die Klägerin Tankkarten mit einem Kreditlimit an Kunden mit großen Fuhrparks aus, sodass die Fahrer der Kunden unter Benutzung der Tankkarten bargeldlos bei der Klägerin tanken konnten. Die einzelnen Tankvorgänge wurden den Kunden von der Klägerin monatlich in Rechnung gestellt. 

Die Einhaltung der Kreditlimits wurde bei der Klägerin zunächst nicht flächendeckend und systematisch kontrolliert. Daher konnten im Jahr 2006 zwei Kunden ihre Fahrzeuge weit über das ihnen eingeräumte Kreditlimit hinaus betanken, ohne dass es zu einer Sperrung der Tankkarten kam. Über das Vermögen der beiden Kunden wurde in der Folge jeweils ein Insolvenzverfahren eröffnet, was zu einem erheblichen Zahlungsausfall der Klägerin führte.

Daraufhin fasste der Beirat der Klägerin den Beschluss, sämtliche Tankkarten bzw. deren Kreditlimit künftig auf einen Betrag von EUR 25.000,00 zu begrenzen. Etwaige Ausnahmen von dieser Regel sollten nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Beirats möglich sein. Die Einhaltung der Regelungen sollte wöchentlich durch die Controlling-Abteilung der Klägerin kontrolliert und dem Beirat hierüber monatlich berichtet werden.

Im Jahr 2008 wurde der Beklagte als Geschäftsführer der Komplementär GmbH der Klägerin bestellt. Als solcher war er gerade auch mit der Geschäftsführung der Klägerin betraut. Im Herbst 2012 nahm der Beklagte an zwei Geschäftsführerschulungen der Klägerin teil, in denen es u.a. um die internen Regularien der Kreditgewährung an Kunden und das hierbei einzuhaltende Vier-Augen-Prinzip sowie die Pflichten eines Geschäftsführers im Rahmen des Rechnungs- und Mahnwesens ging. 

Zu dieser Zeit gerieten drei Kunden der Klägerin in eine wirtschaftliche Schieflage und konnten die Rechnungen der Klägerin nicht mehr bezahlen. Die Kreditlimits sämtlicher von der Klägerin an diese Kunden ausgegebener Tankkarten waren vollständig ausgeschöpft. Ein Mitarbeiter der Klägerin, der für den Bereich Akquise und Betreuung von Kartenkunden zuständig war, erhielt von der wirtschaftlichen Schieflage der Kunden Kenntnis. Statt die betreffenden Tankkarten nach Maßgabe der internen Regularien zu sperren, missbrauchte er seine Befugnis zur Anlage und Verwaltung von Kunden in der Tankkartenabrechnungssoftware der Klägerin, indem er die Tankkarten der drei Unternehmen entweder anderen tatsächlichen Kunden der Klägerin oder von ihm angelegten fiktiven Kunden zuordnete. Durch diese Manipulation ermöglichte er es den drei Kunden, ihre Fahrzeuge weit über das ihnen eingeräumte Kreditlimit hinaus zu betanken. Damit sein Vorgehen nicht im Zuge der monatlichen Rechnungserstellung durch die Buchhaltung der Klägerin auffiel, übernahm der Mitarbeiter zudem kompetenzwidrig Aufgaben aus der Buchhaltung und dem Beschwerdemanagement. 

Während eines längeren Urlaubs des Mitarbeiters häuften sich die Beschwerden von Kunden über fehlerhafte Rechnungen. Bei einer daraufhin durchgeführten Überprüfung wurden die Manipulationen entdeckt. Da über die Vermögen der drei Kunden jeweils ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, entstand der Klägerin in der Folge ein Schaden von ca. EUR 800.000,00.

Die Klägerin machte daraufhin gerichtlich Schadensersatzansprüche nach § 43 Abs. 2 GmbHG gegen den Beklagten geltend, da dieser als Geschäftsführer der Komplementärin nicht die Einhaltung des intern vorgegebenen Vier-Augen-Prinzips gewahrt habe und er im Rahmen der Unternehmensorganisation Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen unterlassen habe. Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat der Klage weitgehend stattgegeben und den Beklagten entsprechend verurteilt. Der Beklagte hat gegen das Urteil Berufung eingelegt.

II. Entscheidung des OLG Nürnberg vom 30. März 2022 (AZ.: 12 U 1520/19)

Das Oberlandesgericht Nürnberg hat die Berufung des Beklagten – bis auf einen geringen Teilbetrag – zurückgewiesen und festgestellt, dass dieser aufgrund der unterlassenen Einführung des Vier-Augen-Prinzips seine Sorgfaltspflichten als Geschäftsleiter verletzt habe und der Klägerin daher nach § 43 Abs. 2 GmbHG zum Schadensersatz verpflichtet sei.

1. Unmittelbare Haftung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH gegenüber der Kommanditgesellschaft

Zunächst führt das Oberlandesgericht Nürnberg aus, dass es der Einstandspflicht des Beklagten nicht entgegenstehe, dass zwischen ihm und der Klägerin weder ein Organ- noch ein Anstellungsverhältnis bestanden habe. Zwar sei der Beklagte allein als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH der Klägerin bestellt gewesen und auch nur mit dieser habe ein Geschäftsführeranstellungsvertrag bestanden. Allerdings erstrecke sich der Schutzbereich des zwischen der Komplementär-GmbH der Klägerin und dem Beklagten als Geschäftsführer bestehenden Organ- und Anstellungsverhältnisses im Falle einer sorgfaltswidrigen Geschäftsführung auch auf die Kommanditgesellschaft, wenn und soweit die alleinige oder wesentliche Aufgabe der Komplementär-GmbH – wie vorliegend – in der Führung der Geschäfte der Kommanditgesellschaft bestehe. In diesem Fall hafte der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH allein aufgrund der organschaftlichen Sonderrechtsbeziehung gegenüber der Kommanditgesellschaft nach § 43 Abs. 2 GmbHG unmittelbar.

2. Schaffung von interner Organisationsstruktur als Sorgfaltspflicht des Geschäftsleiters

Der Beklagte müsse sich als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH an der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns messen lassen. Dies gelte ausdrücklich auch insoweit, als er in den Angelegenheiten der von ihm über die Komplementär-GmbH geleiteten Klägerin tätig werde.

Sodann führt das Oberlandesgericht Nürnberg weiter aus, dass es die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters gebiete, sofern er nicht sämtliche Maßnahmen selbst beschließe und ausführe, eine interne Organisationsstruktur der Gesellschaft zu schaffen, die die Rechtmäßigkeit und Effizienz ihres Handelns gewährleiste. Insoweit konkretisiere sich die Sorgfaltspflicht des Geschäftsleiters zu einer Unternehmensorganisationspflicht. Der Geschäftsleiter habe das von ihm geführte Unternehmen daher so zu organisieren, dass er jederzeit Überblick über die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Gesellschaft habe. Dies erfordere gegebenenfalls die Einführung eines Überwachungssystems, mit dem Risiken für den Unternehmensfortbestand erfasst und kontrolliert werden könnten.

3. Legalitätspflicht erfordert Implementierung eines Compliance-Management-Systems

Aus dieser Legalitätspflicht des Geschäftsleiters folge die Verpflichtung zur Einrichtung eines Compliance-Management-Systems, das die Begehung von Rechtsverstößen durch die Gesellschaft oder deren Mitarbeiter verhindere. Diese Pflicht erschöpfe sich ausdrücklich nicht in einer Überwachung oder einem Überwachen lassen des Geschäftsbetriebs, sondern umfasse vielmehr auch eine Pflicht zum sofortigen Eingreifen, wenn und soweit sich Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten im Unternehmen ergeben würden. Eine Pflichtverletzung des Geschäftsleiters liege bereits dann vor, wenn Mitarbeitern durch eine unzureichende Organisation, Anleitung und Kontrolle die Begehung von Straftaten oder sonstigen Fehlhandlungen ermöglicht oder auch nur erleichtert werde.

4. Grundsatz: Kein flächendeckendes Kontrollnetz erforderlich

Zu der Überwachungspflicht des Geschäftsleiters gehört nach der Ansicht des Oberlandesgerichts Nürnberg überdies eine hinreichende Kontrolle, die nicht erst dann eingreifen dürfe, wenn Missstände bereits entdeckt worden seien. Insoweit führt das Gericht aus, dass sich der erforderliche Umfang der Kontrollen nach der Gefahrgeneigtheit der konkreten Unternehmenstätigkeit und der Bedeutung und dem Gewicht der zu beachtenden Vorschriften richte. Im Grundsatz seien regelmäßige stichprobenartige und überraschende Prüfungen erforderlich, aber auch ausreichend, sofern dadurch den Unternehmensangehörigen vor Augen gehalten werde, dass etwaige Verstöße entdeckt und geahndet werden würden. Da alle Aufsichtsmaßnahmen ihre Grenze jedoch in der objektiven Zumutbarkeit fänden und bei der Beurteilung der Zumutbarkeit die Würde der Betriebsangehörigen und die Wahrung des Betriebsklimas zu berücksichtigen seien, könne es einem Geschäftsleiter regelmäßig nicht abverlangt werden, ein flächendeckendes Kontrollnetz zu installieren.

5. Ausnahme: Unregelmäßigkeiten in der Vergangenheit

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nach den Ausführungen des Oberlandesgerichts Nürnberg indes ausdrücklich dann, wenn es in dem Unternehmen in der Vergangenheit bereits zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Bei der Klägerin sei dies – wie dem Beklagten aufgrund der Geschäftsführerschulungen auch bekannt gewesen sei – in Gestalt der unterlassenen Kontrolle der Kreditlimits der Tankkarten und deren Abrechnung der Fall gewesen. Daher sei der Beklagte dazu verpflichtet gewesen, im Rahmen der internen Unternehmensorganisation der Klägerin solche Compliance-Management-Strukturen zu schaffen, die ein rechtmäßiges und effektives Handeln aller Mitarbeiter gewährleisten und die Begehung von Rechtsverstößen durch die Gesellschaft oder deren Angestellte verhindern.

Solche Compliance-Management-Strukturen und Prozesse habe der Beklagte indes gerade nicht implementiert, insbesondere habe er entgegen der internen Regularien im schadensträchtigen Bereich der Ausgabe von Tankkarten sowie deren EDV-mäßiger Verbuchung und Zuordnung nicht das Vier-Augen-Prinzip eingeführt und eingehalten. Das Oberlandesgericht Nürnberg führt insoweit aus, dass es gerade das Ziel des Vier-Augen-Prinzips sei, das Risiko von Fehlern und Missbrauch zu reduzieren. Das Vier-Augen-Prinzip sei dabei branchenübergreifend bei einer Vielzahl von unternehmensinternen Arbeitsprozessen zu finden, die als kritisch bewertet werden könnten. Kritisch in diesem Sinne seien Prozesse immer dann, wenn sie bei einer nicht ordnungsgemäßen Durchführung Personenschäden oder erhebliche finanzielle Auswirkungen für das Unternehmen zur Folge haben könnten.

6. Delegation der Überwachungspflicht möglich

Das Oberlandesgericht Nürnberg stellt dabei noch einmal explizit fest, dass ein Geschäftsleiter seine Überwachungspflicht selbstverständlich delegieren könne. In diesem Fall reduziere sich seine effektive Überwachungspflicht auf die ihm unmittelbar unterstellten Mitarbeiter und deren konkreten Führungs- und Überwachungstätigkeiten. Auch bei einem mehrstufigen Überwachungssystem – vom Oberlandesgericht Nürnberg als Meta-Überwachung bezeichnet – verbleibe die Oberaufsicht jedoch stets bei dem Geschäftsleiter, da ihm allein die Organisations- und Systemverantwortung obliege.

Soweit der Beklagte sich damit verteidigt hat, dass er kein geeignetes Personal für die Einführung des Vier-Augen-Prinzips gefunden habe, hält das Oberlandesgericht Nürnberg diesen Einwand für unerheblich. Sofern die Überwachung nicht auf Mitarbeiter delegiert werden könne, müsse ein Geschäftsleiter die notwendigen Überwachungstätigkeiten selbst durchführen.

III. Fazit und Stellungnahme

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg zeigt abermals auf, dass Geschäftsleitern auch bei der internen Unternehmensorganisation umfassende Sorgfaltspflichten obliegen. Zu diesen Sorgfaltspflichten eines Geschäftsleiters gehört die Schaffung unternehmensinterner Organisationsstrukturen, die das rechtmäßige Handeln des Unternehmens und der Mitarbeiter gewährleisten. Diese Sorgfaltspflicht beinhaltet auch die Einführung eines Compliance-Management-Systems für die Überwachung und Kontrolle der Unternehmensprozesse und der Mitarbeiter.

Nach der (bislang) allgemeinen Meinung besteht bei der konkreten Ausgestaltung eines Compliance-Management-Systems und der einzelnen Compliance-Maßnahmen jedoch ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum der Geschäftsleitung. Abweichend hiervon hat das Oberlandesgericht Nürnberg nunmehr entschieden, dass bei schadensgeneigten Geschäftsfeldern, bei denen Personenschäden oder große finanzielle Schäden für das Unternehmen im Raum stehen, verpflichtend das Vier-Augen-Prinzip gelte bzw. einzuhalten sei. Damit hat – soweit ersichtlich – erstmals ein deutsches Oberlandesgericht eine konkrete Organisations- bzw. Compliance-Maßnahme, wenn auch unter bestimmten Voraussetzungen, als verpflichtend angesehen. Ob sich diese Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg in der Rechtsprechung der anderen Oberlandesgerichte durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.

Positiv hervorzuheben ist, dass das Oberlandesgericht Nürnberg noch einmal ausdrücklich hervorgehoben hat, dass eine Delegation von Überwachungspflichten im Rahmen der Unternehmensorganisation und innerhalb von Compliance-Management-Systemen selbstverständlich möglich ist. In diesem Fall reduziert sich die effektive Überwachungspflicht des Geschäftsleiters auf eine sorgfältige Auswahl und Überwachung derjenigen Personen, die mit der Überwachung der kritischen Unternehmensprozesse betraut werden und sind (sog. Überwachung der Überwacher).

IV. Auswirkungen für die Praxis

Auch wenn derzeit noch offen ist, ob sich die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg durchsetzen wird, ist die Entscheidung gleichwohl von erheblicher Bedeutung für die Praxis der Geschäftsleitung. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg verdeutlicht einmal mehr, dass die Implementierung eines Compliance-Management-Systems, durch das ein effizientes und rechtmäßiges Handeln der Gesellschaft und der Mitarbeiter gewährleistet wird, von erheblicher Bedeutung für die Haftungsvermeidung und -reduzierung von Geschäftsleitern ist.

Dabei kommt der Größe des Unternehmens, wie die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg verdeutlicht, ausdrücklich keine Bedeutung zu. Schließlich waren bei der Klägerin lediglich 13 Mitarbeiter beschäftigt. Allerdings dürften bei größeren und mitarbeiterstärkeren Unternehmen noch deutlich strenge Maßstäbe an ein Compliance-Management-System gestellt werden, als es das Oberlandesgericht Nürnberg bei der Klägerin getan hat. Schließlich steigt mit der Größe der Unternehmen auch die Zahl der zu überwachenden Mitarbeiter und Prozesse.

Mit Blick auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg sollten Geschäftsleiter folgende Schritte unternehmen:

  • Überprüfung der internen Unternehmensorganisation im Hinblick auf solche Arbeitsprozesse, bei denen eine nicht ordnungsgemäße Durchführung Personenschäden oder erhebliche wirtschaftliche Folgen für das Unternehmen haben kann. 
  • Sofern dabei kritische Bereiche identifiziert werden, sollten in diesen Bereichen zumindest das Vier-Augen-Prinzip oder andere vergleichbare Kontrollmechanismen implementiert werden. 
  • Die Aufgabenverteilung bei wichtigen Prozessen in Unternehmen sollte dergestalt erfolgen, dass nicht ein Mitarbeiter des Unternehmens allein sämtliche Arbeitsschritte vornehmen kann. Vielmehr sollten mindestens zwei Mitarbeiter für ein und denselben Prozess nach dem Vier-Augen-Prinzip verantwortlich sein.
  • Mitarbeiter, die mit sensiblen Daten oder der Kontrolle von Zahlungsströmen befasst sind, sollten dahingehend geschult werden, dass sie anderen Mitarbeitern nicht ohne Weiteres Zugang zu diesen Informationen gewähren.
  • Sorgfältige Auswahl und Überwachung derjenigen Personen, die mit der Überwachung von kritischen Unternehmensprozessen betraut sind oder betraut werden sollen.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Verschärfte (Compliance-)Pflichten und Haftungsrisiken des Geschäftsleiters bei der internen Unternehmensorganisation – Oberlandesgericht Nürnberg qualifiziert unterlassene Compliance-Maßnahmen als Pflichtverletzung

Still hot – Neue Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Beurteilung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen auf europäischer und deutscher Ebene

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Still hot – Neue Entwick­lungen bei der kartell­rechtlichen Beur­teilung von Nachhaltig­keits­verein­barungen auf europäischer und deutscher Ebene

27. September 2022

Zuletzt hat der Blogbeitrag vom 8. Februar 2021 (hier) aktuelle Entwicklungen bei der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen im Rahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV und die unterschiedlichen Herangehensweisen nationaler Wettbewerbsbehörden an diese Thematik beleuchtet. Die wettbewerbspolitische und kartellrechtliche Debatte, in welchem Rahmen das Kartellrecht einen Beitrag zur Erreichung von Nachhaltigkeitszielen leisten kann, ist seither um eine Vielzahl neuer Impulse bereichert worden. Während auf europäischer Ebene das Thema im Rahmen gesetzlicher Regelungen bzw. Leitlinien angegangen wird, bestimmt in Deutschland die Entscheidungspraxis des Bundeskartellamts die rechtliche Beurteilung. Dieser Beitrag erläutert die aktuellen Entwicklungen bei der kartellrechtlichen Bewertung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen auf europäischer und deutscher Ebene und zeigt Handlungsoptionen für Unternehmen zur rechtssicheren und kartellrechtskonformen Ausgestaltung auf.

I. ENTWURF DER HORIZONTALLEITLINIEN UND FREISTELLUNG VOM KARTELL-VERBOT IM AGRARORGANISATIONENRECHT

In ihrem Competition Policy Brief "Competition Policy in Support of Europe’s Green Ambition" aus September 2021 kündigte die Europäische Kommission ("Kommission") an, im Rahmen der Überarbeitung wichtiger kartellrechtlicher Leitlinien Unternehmen "Guidance" zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen an die Hand geben zu wollen. In Umsetzung dessen nahm die Kommission in ihrem Entwurf der Horizontalleitlinien ("Horizontal-LL") ein eigenes Kapitel zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen auf. Zudem dürfte auch eine Freistellung vom Kartellverbot im Agrarorganisationenrecht horizontalen und vertikalen Initiativen für Nachhaltigkeit neue Spielräume eröffnen.

1. Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Entwurf der Horizontal-LL

Nachhaltigkeitsvereinbarungen werden im Entwurf der Horizontal-LL als Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern definiert, die ein oder mehrere Nachhaltigkeitsziele verfolgen. Zu diesen weit gefassten Nachhaltigkeitszielen zählt die Kommission unter anderem die Bekämpfung des Klimawandels, die Vermeidung von Umweltverschmutzung oder die Gewährleistung des Tierschutzes. Ein besonderes Augenmerk legt die Kommission in dem Entwurf der Horizontal-LL auf Nachhaltigkeitsvereinbarungen, durch die Nachhaltigkeitsstandards festgelegt werden. Solche Vereinbarungen zu Nachhaltigkeitsstandards sollen unter sieben kumulativ genannten Voraussetzungen bereits keine Wettbewerbsbeschränkung i.S.d. Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellen. Für den Fall, dass eine Nachhaltigkeitsvereinbarung in den Anwendungsbereich des Kartellverbots fällt, erläutert die Kommission, wie die vier Voraussetzungen der Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV in Bezug auf Nachhaltigkeitsvereinbarungen auszulegen und anzuwenden sind. Dabei bringt der Entwurf der Kommission bezogen auf die beiden in dem vorausgegangenen Blogbeitrag diskutierten Voraussetzungen "Nachhaltigkeitsverbesserungen als Effizienzgewinne" und "angemessene Verbraucherbeteiligung" mehr Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.

Zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang zunächst die Klarstellung der Kommission, auch Nachhaltigkeitsverbesserungen wie eine geringere Umweltverschmutzung oder die längere Haltbarkeit nachhaltig hergestellter Produkte seien als qualitative Effizienzgewinne grundsätzlich berücksichtigungsfähig. Da dies die Unternehmen jedoch nicht von einem Nachweis der Effizienzgewinne entbindet, die objektiv, konkret und nachprüfbar sein müssen, dürften die entsprechenden Nachweisanforderungen auch aufgrund der teilweise komplexen ökonomischen Modelle eine Herausforderung für die betroffenen Unternehmen und die kartellrechtliche Praxis darstellen. Hierfür hält der Entwurf der Horizontal-LL keine konkreten Lösungen bereit, sondern verweist auf die erst noch zu entwickelnde Fallpraxis, die auch zu belastbaren Bewertungsmethoden führen könnte.

Ferner stellt die Kommission klar, dass die insbesondere bei Nachhaltigkeitsvereinbarungen auftretenden kollektiven Gewinne, die auf einem anderem als dem von der Wettbewerbsbeschränkung betroffenen Markt eintreten, grundsätzlich im Rahmen von Art. 101 Abs. 3 AEUV zu berücksichtigten sind. Die Kommission fordert jedoch für die Berücksichtigung kollektiver Verbrauchervorteile ein hohes Maß an Überschneidung zwischen den von der Beschränkung betroffenen und der von den Effizienzgewinnen begünstigten Verbrauchergruppe. Insoweit bleibt die Kommission im Grundsatz ihrer bisherigen Praxis treu, eine angemessene Beteiligung der Verbraucher auf dem betroffenen Markt vorauszusetzen. Darüber hinaus verlangt die Kommission für eine "angemessene Verbraucherbeteiligung", dass die Gesamtwirkungen auf die Verbraucher auf dem betroffenen Markt zumindest neutral sein müssen. Damit positioniert sich die Kommission deutlich zurückhaltender als beispielsweise die niederländische Wettbewerbsbehörde Autoreit Consument & Markt, die sich für eine stärkere Berücksichtigung kollektiver Vorteile jenseits des betroffenen Marktes sowie gegen die Notwendigkeit einer vollen Kompensation der Verbraucher auf dem betroffenen Markt ausspricht.

2. Mehr Nachhaltigkeit im Agrarsektor: Freistellung vom Kartellverbot

Von besonderer Bedeutung für das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen im Agrarsektor dürfte der Ende 2021 in Erweiterung der VO Nr. 1308/2013 in Kraft getretene Art. 210 a über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse ("GMO") sein. Danach findet das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV keine Anwendung auf Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Erzeugern landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die sich auf die Erzeugung landwirtschaftlicher Erzeugnisse oder den Handel mit diesen beziehen und darauf abzielen, einen höheren Nachhaltigkeitsstandard anzuwenden, als er durch das Unionsrecht oder nationales Recht vorgeschrieben ist. Diese Freistellung gilt jedoch nur, wenn mit diesen Vereinbarungen, Beschlüssen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen lediglich Wettbewerbsbeschränkungen auferlegt werden, die für das Erreichen des höheren Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich sind. Die Ausnahme ist nicht auf die Erzeugerebene beschränkt, sondern gilt auch für wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen zwischen Erzeugern und Unternehmen auf verschiedenen Stufen der Erzeugung, der Verarbeitung und des Handels der Lebensmittelversorgungskette.

II. VON BANANEN, RINDERN UND MILCH – NACHHALTIGKEITSINITIATIVEN IN DER FALLPRAXIS DES BUNDESKARTELLAMTS

Im Gegensatz zur Kommission verfolgt das Bundeskartellamt weiterhin den Ansatz, Nachhaltigkeitsinitiativen im Rahmen des Aufgreifermessens im Einzelfall zu prüfen und "Guidance" für Unternehmen "lediglich" anhand der Fallpraxis bereitzustellen. In jüngster Zeit hat das Bundeskartellamt seine Bewertung von vier Nachhaltigkeitsinitiativen veröffentlicht, die alle im Lebensmittelbereich zu verorten sind. Drei dieser Initiativen erhielten vom Bundeskartellamt grünes Licht, während die vom Agrardialog Milch vorgeschlagenen Preisaufschläge zugunsten der Rohmilcherzeuger das Bundeskartellamt nicht überzeugen konnten.

So hatte das Bundeskartellamt keine wettbewerblichen Bedenken gegen die Nachhaltigkeitsinitiative der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ("GIZ") sowie der Arbeitsgruppe des deutschen Einzelhandels zur Förderung existenzsichernder Löhne (Living Wages). Ein Ziel der Initiative ist die freiwillige Selbstverpflichtung der teilnehmenden Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels, bis 2025 möglichst 50 Prozent der in Deutschland als Eigenmarken verkauften Bananen entsprechend der sogenannten Living Wages-Kriterien abzusetzen. Zudem will die Initiative die gemeinsame Einführung verantwortungsvoller Beschaffungspraktiken sowie die Entwicklung von Prozessen zum Monitoring transparenter Löhne vorantreiben. Für die positive kartellrechtliche Beurteilung war insbesondere entscheidend, dass im Zusammenhang mit der Initiative kein Informationsaustausch zu Einkaufspreisen, Kosten, Produktionsmengen oder Margen stattfindet. Zudem war aus Sicht des Bundeskartellamts von Relevanz, dass durch die Initiative keine verpflichtenden Mindestpreise, Preisaufschläge oder sonstigen Vorgaben eingeführt werden, wie die höheren Kosten entlang der Lieferkette weitergegeben werden und es deshalb nicht zu einer faktischen Preisbindung der zweiten Hand kommt.

Zudem hatte das Bundeskartellamt gegen die Erweiterung der Initiative Tierwohl ("ITW"), mit der sich das Bundeskartellamt seit 2014 befasst, auf den Bereich der Rindermast keine durchgreifenden wettbewerblichen Bedenken. Das wichtigste Element dieser Initiative ist die Zahlung eines einheitlichen Preisaufschlags an Tierhalter, die bestimmte Tierwohlkriterien erfüllen, um so die Verbesserung der Haltungsbedingungen zu belohnen. Dieser Preisaufschlag wird durch die Lebensmitteleinzelhandelskonzerne finanziert. Auch wenn das Bundeskartellamt der Vereinbarung eines einheitlichen Preisaufschlags kritisch gegenüberstand, toleriert es diesen aufgrund des Pioniercharakters des Projekts für eine Übergangsphase, die nun bis 2024 verlängert wurde. Für die Zeit danach ist ITW aufgerufen, ein Finanzierungsmodell mit stärker wettbewerblichen Elementen zu präsentieren. Das Bundeskartellamt will sich dann auch vertieft mit einer möglichen Anwendbarkeit von Art. 210 a GMO befassen.

Auch einer vergleichbaren Initiative für mehr Tierwohl in der Milcherzeugung der "Branchenvereinbarung Milch" des QM-Milch e.V. gab das Bundeskartellamt grünes Licht. Im Mittelpunkt der Initiative steht die Einführung eines Labels für Produkte, welche die Tierwohlkriterien des QM+-Programms erfüllen. Die anfallenden Mehrkosten sollen mittels eines sogenannten Tierwohlaufschlages für die Erzeuger finanziert werden. Vor dem Hintergrund, dass im Bereich Milch eine Vielzahl von Konkurrenzlabeln existiert, zwischen diesen Marken intensiver Wettbewerb besteht und nur ein Teil der Molkereien an dem QM+-Programm teilnimmt, kam das Bundeskartellamt zu einer positiven kartellrechtlichen Bewertung der Initiative. In dieser Entscheidung zeigte sich bereits die Bedeutung des auf europäischer Ebene neu eingeführten Art. 210 a GMO für die kartellrechtliche Beurteilung von Nachhaltigkeitsinitiativen in der Agrarindustrie. So sei nach Ausführungen des Bundeskartellamts die Entscheidung, die Initiative für mehr Tierwohl in der Milcherzeugung zu tolerieren, auch "im Lichte" des Art. 210 a GMO erfolgt.

Dagegen bewertete das Bundeskartellamt das vom Agrardialog Milch vorgestellte Finanzierungskonzept, nach dem Preisaufschläge zugunsten von Rohmilcherzeugern zwischen den Erzeugern, Molkereien und Lebensmitteleinzelhandel vereinbart werden sollten, als Verstoß gegen das Kartellverbot. Nach Ansicht des Bundeskartellamts diene das Konzept allein der Sicherstellung eines höheren Einkommensniveaus für Milcherzeuger, ohne aber Nachhaltigkeitsaspekte zu berücksichtigen. Aufgrund des fehlenden Beitrags zu einem höheren Nachhaltigkeitsstandard käme auch keine Freistellung dieser Vereinbarung nach Art. 210 a GMO in Betracht, zumal auch die Unerlässlichkeit der Beschränkung in Frage stünde.

Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, hat wiederholt hervorgehoben, das Kartellrecht stehe "Kooperationen zum Erreichen von Nachhaltigkeitszielen nicht im Wege". Dementsprechend zeigen die soeben erörterten Beispiele aus der Entscheidungspraxis eine grundsätzlich wohlwollende Einstellung des Bundeskartellamts zu Nachhaltigkeitsinitiativen. Gleichzeitig wird durch die Entscheidung zum Agrardialog Milch deutlich, dass das Bundeskartellamt nicht bereit ist, Kooperationen von Wettbewerbern, die unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit zu einer Wettbewerbsbeschränkung führen, einen Freifahrtschein zu erteilen. Nichtsdestotrotz bringt der fallspezifische Ansatz des Bundeskartellamts Rechtsunsicherheiten bei der kartellrechtlichen Bewertung von Nachhaltigkeitsinitiativen mit sich, während die wettbewerbspolitische Agenda 2025 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz das Ziel formuliert, "den Unternehmen einen klaren Rechtsrahmen für Nachhaltigkeitskooperationen zu bieten."

III. FAZIT UND AUSBLICK

Die fortlaufende Befassung des Bundeskartellamts und der Kommission mit dem Thema Nachhaltigkeit und Wettbewerb verdeutlichet, dass die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen in der behördlichen Kartellrechtspraxis einen starken Bedeutungszuwachs erfahren hat. Zudem machen die Veröffentlichungen der Wettbewerbsbehörden deutlich, dass das Bedürfnis von Unternehmen nach Rechtssicherheit in Bezug auf nachhaltigkeitsfördernde Kooperationen ernstgenommen wird.

Auch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind spannende Ansätze bei der kartellrechtlichen Behandlung von Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu beobachten. Der österreichische Gesetzgeber hat die Ausnahme vom nationalen Kartellverbot dahingehend erweitert, dass eine "ausreichende Beteiligung der Verbraucher" auch dann gegeben sei, wenn der vorausgesetzte Gewinn, der aus der Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder der Förderung des technischen/wirtschaftlichen Fortschritts entsteht, wesentlich zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft beiträgt. Es bleibt abzuwarten, ob sich der deutsche Gesetzgeber – wie in der Agenda 2025 angekündigt – für den Erlass vergleichbarer Rechtsvorschriften in Deutschland entscheidet.

Die Horizontal-LL, die Anfang 2023 in Kraft treten sollen, sind ein erster wichtiger Schritt hin zu mehr Rechtssicherheit. Die Kommission hat zudem in ihrem Competition Policy Brief ihre Bereitschaft betont, auf Antrag Nachhaltigkeitsinitiativen zu prüfen und darüber hinaus Entscheidungen zu erlassen, in denen sie feststellt, dass bestimmte Vorschriften des Kartellrechts nicht auf Nachhaltigkeitsinitiativen anwendbar sind. Dies eröffnetet kooperationswilligen Unternehmen im Einzelfall die Möglichkeit, Rechtssicherheit für die angestrebte Nachhaltigkeitsinitiative zu erreichen. Für Unternehmen, die im Rahmen von Nachhaltigkeitsinitiativen kooperieren wollen, ist eine umfassende kartellrechtliche Prüfung und ggf. eine Abstimmung dieser Initiativen mit den Kartellbehörden der beste Weg für eine kartellrechtskonforme und rechtssichere Ausgestaltung ihrer Kooperationsvorhaben für mehr Nachhaltigkeit.

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Ein Jahr nach der Altice-Entscheidung des EuG – Bedeutung für die M&A-Praxis

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Ein Jahr nach der Altice-Entscheidung des EuG – Bedeutung für die M&A-Praxis

22. September 2022

Am 22. September 2021 bestätigte das Gericht der Europäischen Union (EuG) in seiner Altice-Entscheidung die bislang höchste Bußgeldentscheidung der Europäischen Kommission im Zusammenhang mit dem kartellrechtlichen Vollzugsverbot (T-425/18). Die Europäische Kommission hatte in ihrer Entscheidung in der Unterzeichnung des Anteilskaufvertrags mit bestimmten Genehmigungsvorbehalten zugunsten der Käufergesellschaft (sog. Pre-Closing Covenants) einen Verstoß gegen das kartellrechtliche Vollzugsverbot und die Anmeldepflicht gesehen und ein Rekord-Bußgeld in Höhe von EUR 124,5 Mio. verhängt (M.7993), welches das EuG nach Abschluss des Gerichtsverfahrens nur leicht nach unten korrigierte. Die gegen die Entscheidung des EuG gerichtete Rechtsbeschwerde ist gegenwärtig beim EuGH anhängig (C-746/21 P).

Die Altice-Entscheidung des EuG ist ein wichtiger Schritt bei der Ausformung der kartellrechtlichen Pflichten im Rahmen der M&A-Vertragsgestaltung und daher auch ein Jahr nach dem Urteil von anhaltender Bedeutung. Vor dem Hintergrund der Bußgeldrelevanz von etwaigen Verstößen gegen das Vollzugsverbots - wie zuletzt in der Sache Canon durch das EuG bestätigt (T-609/19) -  sowie der zu erwartenden Entscheidung des EuGH in der Sache Altice lohnt sich daher ein erneuter Blick auf die kartellrechtliche Beurteilung der in der M&A-Praxis verbreiteten Pre-Closing Covenants.

I. Hintergrund und Verfahrensablauf

Das niederländische Kabel- und Telekommunikationsunternehmen Altice beabsichtigte, durch einen im Dezember 2014 geschlossenen Anteilskaufvertrag die alleinige Kontrolle über den portugiesischen Konkurrenten PT Portugal zu erwerben. Dieser Erwerb war nach der Fusionskontrollverordnung (FKVO) anmeldepflichtig. Im Anteilskaufvertrag wurden für den Zeitraum zwischen der Unterzeichnung des Vertrags (Signing) und dessen Vollzug (Closing) zugunsten von Altice gewisse Geschäftsentscheidungen der Zielgesellschaft unter Genehmigungsvorbehalt gestellt. Die Pre-Closing Covenants bezogen sich unter anderem auf Veränderungen der Führungsebene, Änderungen der Preispolitik und Konditionen gegenüber Kunden sowie den Abschluss, die Modifikation oder die Beendigung bestimmter Verträge.

Nach Unterzeichnung des Anteilskaufvertrags und formeller Anmeldung der Transaktion bei der Europäischen Kommission wurde der Erwerb von der Europäischen Kommission nach Abgabe von Veräußerungszusagen durch die Parteien in der Sache freigegeben, womit das Vollzugsverbot entfiel. Gleichwohl leitete die Europäische Kommission eine Untersuchung wegen eines möglichen Verstoßes insbesondere gegen das Vollzugsverbot ein. Die Europäische Kommission bewertete die Unterzeichnung des Anteilskaufvertrags aufgrund der Pre-Closing Covenants als Verstoß gegen das Vollzugsverbot (Art. 7 FKVO) sowie gegen die Anmeldepflicht (Art. 4 FKVO) und verhängte gegen Altice schließlich Bußgelder wegen dieser Verstöße in Höhe von jeweils EUR 62,25 Mio. Auch den mit Blick auf die Pre-Closing Covenants erfolgten Informationsaustausch zwischen Altice und PT Portugal nach dem Signing sah die Europäische Kommission als Teil des Verstoßes. Nach Ansicht der Europäischen Kommission war dabei nicht entscheidend, dass die Genehmigungsvorbehalte und die damit verbundene Möglichkeit der Einflussnahme als solche noch nicht zu einem dauerhaften Kontrollwechsel führten.

Gegen diese Bußgeldentscheidung erhob Altice Klage vor dem EuG, das die Kommissionsentscheidung jedoch weitgehend bestätigte und lediglich das Bußgeld geringfügig reduzierte.

II. Rechtliche Einordnung

Art. 4 Abs. 1 FKVO bestimmt, dass Zusammenschlüsse, die die in Art. 1 Abs. 2 und 3 FKVO defi-nierten Schwellenwerte überschreiten, vor ihrem Vollzug bei der Europäischen Kommission anzu-melden sind. Das für den Fall einer Anmeldepflicht greifende Vollzugsverbot ist in Art. 7 Abs. 1 FKVO normiert. Hiernach darf ein Zusammenschluss bis zur Freigabe durch die Europäische Kommission nicht vollzogen werden. Die an der Transaktion beteiligten Unternehmen sollen bis zur Freigabe weiter als unabhängige Unternehmen agieren. Im Fall eines Verstoßes gegen Art. 4 FKVO oder Art. 7 FKVO ist die Kommission gemäß Art. 14 Abs. 2 FKVO berechtigt, Geldbußen in Höhe von bis zu 10 % des letztjährigen Konzerngesamtumsatzes zu verhängen.

Vollzugsverbote gehören zum fusionskontrollrechtlichen Standard und existieren in einer Vielzahl von Jurisdiktion innerhalb und außerhalb der europäischen Union.

III. Pre-Closing Covenants als Verstoß gegen das Vollzugsverbot

1. Allgemeine Einführung

Pre-Closing Covenants werden in aller Regel in Anteilskaufverträge aufgenommen, um dem grundsätzlich legitimen Interesse des Käufers an der Erhaltung des Zielgeschäfts zwischen Signing und Closing Rechnung zu tragen. Der Zustand des Zielgeschäfts im Zeitpunkt des Closings soll möglichst demjenigen im Zeitpunkt des Signings entsprechen. Dazu werden die Freiräume des Verkäufers mit Blick auf die Führung des Zielgeschäfts für den relevanten Zeitraum durch die Auferlegung von Verhaltenspflichten wie bspw. Genehmigungsvorbehalte oder Konsultationsrechte begrenzt und damit der Wert des Zielgeschäfts gesichert. 

Die Einflussnahme des Käufers auf das Zielgeschäft bzw. die Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Verkäufers steht in einem Spannungsverhältnis zum Vollzugsverbot und ggf. zur Anmeldepflicht. Die im Vollzug der Transaktion liegende Kontrollveränderung darf erst nach Freigabe durch die Europäische Kommission erfolgen. Zulässig sind bis dahin allein Maßnahmen, die den Vollzug vorbereiten, ohne ihn (teilweise) vorwegzunehmen. Bei der Bewertung von Pre-Closing Covenants ist demnach entscheidend, ob in ihnen im Einzelfall lediglich eine zulässige Vorbereitungsmaßnahme oder bereits der Vollzug der Transaktion zu sehen ist, d.h. ob sie ganz oder teilweise, tatsächlich oder rechtlich zu einer Veränderung der Kontrolle des Zielunternehmens beitragen (Vgl. EuGH, Urt. v. 31. Mai 2018 – ECLI:EU:C:2018:371, Rn. 59 "E&Y").

2. Entscheidungsgründe

In der Altice-Entscheidung hat sich das EuG mit der Frage auseinandergesetzt, in welchem Umfang dem Veräußerer und der Zielgesellschaft Beschränkungen zwischen Signing und Closing auferlegt werden können und dabei die schwierig zu ziehende Grenze zwischen einer zulässigen Vorbereitungshandlung und dem vorzeitigen Vollzug weiter konkretisiert, wenngleich weite Graubereiche verbleiben.

Das EuG erkennt grundsätzlich das Bedürfnis für Pre-Closing Covenants an, soweit sich diese auf das zum Erhalt des Unternehmenswerts bzw. der Integrität des Zielgeschäfts notwendige Maß beschränken. Dem Erwerber dürfe hingegen nicht die Möglichkeit eines bestimmenden Einflusses auf das Zielgeschäft eröffnet werden, weil dieser – also der Erwerb von Kontrolle im kartellrechtlichen Sinne – erst nach der Freigabe erfolgen dürfe. Nicht entscheidend ist dabei nach Auffassung des EuG, dass einzelne Einflussnahmemöglichkeiten für sich gesehen noch nicht zu einem dauerhaften Kontrollwechsel und damit vollständigem Vollzug führen.

Insgesamt hat das EuG im Rahmen der Altice-Entscheidung drei Kategorien von Genehmigungsvorbehalten beanstandet:

  • Dies betrifft zunächst die Ernennung und Abberufung von Führungskräften, weil die Mitbestimmung bei der Ernennung und Abberufung von Führungskräften nach Auffassung des EuG bereits einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Zielgesellschaft ermöglicht und damit zu einem vorzeitigen Vollzug führt.
  • Auch Vetorechte mit Blick auf die Gestaltung der Preispolitik und der Geschäftsbedingungen mit Kunden sind nach Auffassung des EuG zu weitgehend, zumindest soweit der Anwendungsbereich nicht klar begrenzt wird und somit sehr weite Möglichkeiten zur Einflussnahme bestehen. Im konkreten Fall hätte jede Preisänderung und die Änderung von jeglichen Standardverträgen einem Genehmigungsvorbehalt unterlegen. Das EuG sieht hierin die Möglichkeit, bestimmenden Einfluss auszuüben.
  • Zudem sieht das EuG den im Anteilskaufvertrag enthaltenen Katalog mit zustimmungspflichtigen Geschäften (z.B. Abschluss von Verträgen, Erwerb von Vermögensgegenständen) kritisch. Durch zu weit gefasste Genehmigungsvorbehalte mit Blick auf die Geschäftstätigkeit wird nach Ansicht des EuG bereits ein bestimmender Einfluss auf die Geschäftspolitik eröffnet, der nicht mehr von einem legitimen Interesse gedeckt ist. Kriterien zur Bestimmung von angemessenen Schwellenwerten führt das EuG nicht an.

Der Verstoß gegen das Vollzugsverbot nach Art. 7 Abs. 1 FKVO setzt dabei nach Auffassung des EuG nicht voraus, dass der Käufer von Rechten aus dem Anteilskaufvertrag auch Gebrauch macht (wenngleich Altice dies vorliegend getan hatte). Schon bei Unterzeichnung des Pre-Closing Covenants enthaltenden Anteilskaufvertrags sei der Verstoß verwirklicht, weil schon die Möglichkeit der Ausübung des bestimmenden Einflusses Kontrolle begründe und damit erst nach Freigabe eingeräumt werden dürfe. 

Zudem stuft das EuG den Austausch von wettbewerbsrechtlich sensiblen Informationen, bspw. über zukünftige Strategien und kommerzielle Ziele von PT Portugal, nach dem Signing als Bestandteil des Verstoßes gegen das Vollzugsverbot bzw. die Anmeldeplicht ein. Der Austausch nach Signing, der nicht mehr dem Interesse des Käufers an der Werterhaltung diene, sei Teil der und belege die unzulässige Einflussnahme auf das Zielgeschäft. Weil das vollzugsrelevante Verhalten im konkreten Fall schon im Zeitpunkt des Signings und damit vor der förmlichen Anmeldung erfolgte, sieht das EuG zudem einen Verstoß gegen Art. 4 FKVO. Insoweit geht das EuG davon aus, dass die Ve

Zudem stuft das EuG den Austausch von wettbewerbsrechtlich sensiblen Informationen, bspw. über zukünftige Strategien und kommerzielle Ziele von PT Portugal, nach dem Signing als Bestandteil des Verstoßes gegen das Vollzugsverbot bzw. die Anmeldeplicht ein. Der Austausch von Informationen nach Signing, der nicht mehr dem Interesse des Käufers an der Wertermittlung diene, sei Teil der und belege die unzulässige Einflussnahme auf das Zielgeschäft. Ob auch ein alleiniger Informationsaustausch nach Signing einen Verstoß gegen das Vollzugsverbot begründen kann, lässt das EuG offen. 

Weil das vollzugsrelevante Verhalten im konkreten Fall schon im Zeitpunkt des Signings und damit vor der förmlichen Anmeldung erfolgte, sieht das EuG wie die Europäische Kommission zudem einen Verstoß gegen Art. 4 FKVO. Insoweit geht das EuG davon aus, dass die Verhängung von zwei Bußgeldern für dasselbe Verhalten nicht gegen das Verbot der Doppelbestrafung oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemäß Art. 49 Abs. 3 GrCh verstößt. Die Vorschriften der Art. 4 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 lit. a FKVO und Art. 7 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 lit. b FKVO verfolgten autonome Ziele. Zudem gewährleistet nach Ansicht des EuG die Möglichkeit, zwei Bußgelder zu verhängen, eine Differenzierung zwischen verschiedenen Verhaltensweisen und damit eine effektive Fusionskontrolle.

IV. Auswirkungen auf die Praxis

Die Altice-Entscheidung des EuG (und ihre weite Auslegung von unzulässigen Vollzugshandlungen) hat dazu beigetragen, den Parteien und ihren Beratern das Vollzugsverbot auch im Kontext von Pre-Closing Covenants verstärkt ins Bewusstsein zu rufen, zumal entsprechende Regelungen zum Standard vieler Transaktion gehören. Bei der vertraglichen Gestaltung von Pre-Closing Covenants sind daher neben der Sicherstellung ihrer zivilrechtlichen Wirksamkeit auch die Bußgeldrisiken zu berücksichtigen.

Da bereits die Unterzeichnung des Anteilskaufvertrags zu einem Verstoß gegen das kartellrechtliche Vollzugsverbot führen kann, ist es geboten, sich bereits in der Frühphase einer Transaktion mit der Thematik auseinander zu setzen und nicht unbedacht zu weitreichende Genehmigungsvorbehalte zu fordern bzw. zu gewähren. Bei der Aufnahme von Pre-Closing Covenants in den Anteilskaufvertrag sollte daher insbesondere der Käufer im Einzelfall sorgfältig prüfen, welche Vorbehalte tatsächlich notwendig sind, um seine legitimen Interessen (Werterhalt, Integrität des Zielgeschäfts) zu wahren. Als Faustregel dürfte gelten, dass Pre-Closing Covenants möglichst eng formuliert, klar definiert und keinesfalls in den "ordinary course of business" des Zielgeschäfts eingreifen sollten. 

Da bereits die Unterzeichnung des Anteilskaufvertrags zu einem Verstoß gegen das kartellrechtliche Vollzugsverbot führen kann, ist es geboten, sich bereits in der Frühphase einer Transaktion mit der Thematik auseinander zu setzen und nicht unbedacht zu weitreichende Genehmigungsvorbehalte zu fordern bzw. zu gewähren. Bei der Aufnahme von Pre-Closing Covenants in den Anteilskaufvertrag sollte daher insbesondere der Käufer im Einzelfall sorgfältig prüfen, welche Vorbehalte tatsächlich notwendig sind, um seine legitimen Interessen (Werterhalt, Integrität des Zielgeschäfts) zu wahren. Als Faustregel dürfte gelten, dass Pre-Closing Covenants möglichst eng formuliert, klar definiert und keinesfalls in den "ordinary course of business" des Zielgeschäfts eingreifen sollten. 

Noch zulässig dürften z.B. Vetorechte sein, die sich auf den Abschluss von Geschäften beziehen, welche den Geschäftsbestand unmittelbar berühren und auch ausweislich ihres Volumens (Schwellenwerte) außerhalb des "ordinary course of business" liegen, bspw. die Veräußerung von wesentlichen Vermögensgegenständen. Etwaige Schwellenwerte sollten an sachlichen, nachvollziehbaren Kriterien orientiert sein und müssen so gewählt sein, dass sie angesichts des üblichen Geschäfts- und Investitionsvolumens des Zielgeschäfts nicht als Eingriff in den ordentlichen Geschäftsbetrieb erscheinen. Hier bedarf es einer Einzelfallbetrachtung. Arbeitnehmerbezogene Zustimmungsvorbehalte könnten etwa derart ausgestaltet werden, dass sie sich auf die Weiterbeschäftigung von – sofern vorhanden – für die Zielgesellschaft wesentlichen Schlüsselmitarbeitern beschränken. Kritisch zu sehen sind hingegen grundsätzlich Zustimmungsvorbehalte hinsichtlich des Geschäftsplans, des Jahresbudgets, der Besetzung der Geschäftsleitung und des ordentlichen Geschäftsbetriebs.

Diese Grundsätze gelten nicht nur für die EU-Fusionskontrolle, sondern auch bei Transaktionen, die außerhalb der EU oder in einzelnen Mitgliedstaaten angemeldet werden müssen. In den allermeisten Jurisdiktionen dürfen anmeldepflichtige Vorhaben vor der Freigabe nicht vollzogen werden. Es ist daher wahrscheinlich, dass auch nationale Wettbewerbsbehörden in Zukunft verstärkt die vertragsrechtlichen Grundlagen einer Transaktion in den Blick nehmen. Naheliegend ist dies insbesondere dann, wenn die vertragliche Dokumentation im Rahmen der Fusionskontrolle mit eingereicht werden muss.

Schließlich ruft die Entscheidung des EuG die Brisanz des Informationsaustauschs zwischen an einer Transaktion beteiligten Wettbewerbern in Erinnerung. Ein ungefilterter Informationsaustausch begründet leicht ein erhebliches kartellrechtliches Haftungsrisiko, nicht nur im Kontext von Art. 101 AEUV. Die sorgfältige Organisation der Informationsflüsse auch jenseits der Due Diligence-Phase sollte daher ein wesentlicher Eckpfeiler des Transaktionsmanagements sein.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Ein Jahr nach der Altice-Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union – Auswirkungen auf die M&A-Praxis

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Harbinger of Things to Come – Takeaways from the German Way to Deal with Big Tech

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Harbinger of Things to Come – Takeaways from the German Way to Deal with Big Tech

7 September 2022

In January 2021, the 10th amendment to the German Act against Restraints of Competition ("ARC") came into force and heralded the dawn of a new era in international digital antitrust law. With the so-called "ARC-Digitalization-Act" Germany introduced, as first country in the world, an innovative set of rules which intends to put its competition watchdog in a position to intervene earlier and more effectively against competitive practices of Big Tech that are widely regarded as anti-competitive today. The new rules aim to tackle dysfunctional competitive structures in the digital sector and corresponding detrimental effects – to the benefit of competitors, consumers, and the society overall.

However, the new German regulatory environment is only one piece of the larger puzzle. As legislators all over the world bolster the powers of their regulatory agencies to effectively address anti-competitive conduct of Big Tech, public enforcement will be on the rise in the coming years. Yet, in view of notorious tight budgets and limited (personnel) resources of the public hand, effective enforcement of the new rules will also require supplementary private enforcement, as we are already accustomed with in the field of antitrust law. Market participants that deal with Big Tech will, thus, have to assess whether their business partners comply with the multitude of obligations arising under the new digital competition regulations. Private initiative via complaints with the authorities or private enforcement before the national courts will likely be a big factor.

Against this background, the following blogpost looks at the initial public enforcement activities of the German Federal Cartel Office ("FCO") with respect to Sec 19a ARC against Google, Amazon, Meta, and Apple. In this regard, the post provides a first impression of Big Tech's business conduct as well as its fields of activities which the FCO will likely address in the coming years. This should help market participants to keep an eye on relevant developments in order to monitor and – if needed – to enforce compliance.

CURRENT STATUS OF THE FCO'S PROCEEDINGS AGAINST GAFA

Introduction

Shortly after the ARC-Digitalization-Act came into force in early 2021, the FCO picked up the ball and initiated proceedings against Google, Amazon, Meta/Facebook, and Apple under the newly introduced Sec 19a ARC. Pursuant to Sec 19a(1) ARC, the FCO may – in a first step – declare that a certain company has a "paramount significance for competition across markets". In a second step, pursuant to Sec 19a(2) ARC, the FCO may prohibit such a company from engaging in certain practices, e.g., self-preferencing, raising barriers to entry for other market participants, etc. Should the addressee of the FCO's decision not comply, it will automatically violate the German ARC without the FCO having to proof any further effects on competition in an individual case.

Until Septemner 2022, the FCO has issued three decisions under Sec 19a(1) ARC, namely concerning Google, Meta, and Amazon. Decisions pursuant to Sec 19a(2) ARC will surely follow (see below). Apple's case is still pending but expected to close soon with the fourth consecutive declaration under Sec 19a(1) ARC.

Google

Google (with revenues of approximately USD 260 billion in 2021) was the first target of the FCO. On 20 December 2021, the FCO declared that Google has "paramount significance for competition across markets". Google accepted the verdict and did not lodge an appeal.

While the FCO did not rule on any specific conduct yet, the decision finds that Google has a superior, if not dominant, position in a variety of markets, including (i) general search services, (ii) search-linked advertising, (iii) Android and Play Store, (iv) Chrome and (v) Youtube. These findings may already prove helpful for market participants who are contemplating about bringing an individual case against Google – be it with a view to non-compliance with existing competition rules or new regulatory regimes or with a view to claiming damages suffered as a result of Google's market conduct in the past, e.g., app-publishers or companies from the advertising industry. 

Moreover, the FCO has already identified certain practices it intends to scrutinize with a view to possible prohibition decision pursuant to Sec 19a(2) ARC: 

  • The FCO is investigating a variety of restrictive practices regarding the combination of Google's map services with third-party map services. The FCO intends to examine, inter alia, whether Google impedes the integration of location data from Google Maps, the search function, or Google Street View data into non-Google applications. Furthermore, the FCO investigates Google's licensing conditions for the use of its maps services in vehicles.
  • Also, the rollout of Google's News Showcase service in Germany is subject to the FCO's scrutiny. Google's news offering provides the opportunity for highlighted and in-depth presentation of publisher content and was made available to several German publishers in 2020. Based on a complaint filed with the FCO by Corint Media, the agency is examining a variety of issues, namely (i) the integration of Google's News Showcase into Google search and its presentation with a view to self-preferencing, (ii) the contractual conditions with a view to unreasonable disadvantages for cooperating publishers (in particular, a possible impediment to intellectual property rights) and (iii) the conditions for access to Google News Showcase with a view to whether non-discriminatory access for press publishers is guaranteed. Google has already modified some of its Showcase practices and has agreed to address further ambiguities and concerns through changes in the underlying agreements and through clarifying statements. Stakeholders were consulted on Google's proposed measures in January 2022, but no decision has been reached yet. 
  • Finally, the FCO is taking a detailed look at Google's data processing conditions. A key question in this context is whether companies and consumers have sufficient choice regarding the use of their data by Google if they want to use any of Google's services.

Amazon

On 5 July 2022 the FCO, based on Sec 19a(1) ARC, determined that Amazon has a "paramount significance for competition across markets" and found that Amazon's multi-market relevance stems, inter alia, from its e-commerce activities as a retailer and marketplace provider. The FCO emphasized, however, that Amazon has supplemented its core products with a large variety of further services over the years, including its prime offers as well as logistics, advertising, and payment processing services. Finally, Amazon is considered a global leader in the field of cloud computing, where it generated approximately 56% of its net revenues in 2021.

In its decision, the FCO highlights that Amazon has a unique position in German online retailing through its trading platform and has, in terms of marketplace services for commercial retailers in Germany, a revenue-based market share of over 70% leading to market dominance. Furthermore, due to its position as the central only sales platform, Amazon is able to set the rules for competition on the platform and influence its competitors' success. The FCO further found that Amazon can control other companies' access to a variety of supply and demand markets, while playing out its dual role as retailer and marketplace. 

Unlike Google and Meta/Facebook (see below), Amazon has challenged the FCO's finding under Sec 19a(1) ARC before the Federal Supreme Court. It will be the first time the new rules will be tested before court.

As regards the potential for prohibition orders under Sec 19a(2) ARC against Amazon in the future, the situation is somewhat unclear. While the FCO has initiated proceedings against Amazon under the traditional abuse of dominance framework (Art 102 TFEU, Sec 19 et seq ARC), it remains to be seen whether the FCO will follow through or whether it will take advantage of its powers under Sec 19a(2) ARC. The current abuse of dominance proceedings concern 

  • the extent to which Amazon uses price control mechanisms or algorithms to abusively influence the pricing of other retailers operating on the Amazon marketplace and 
  • to what extent agreements between Amazon and brand manufacturers (including Apple) exclude third-party retailers from selling branded products on the Amazon marketplace. 

In any event, companies relying on the Amazon marketplace including other services should be mindful of the FCO investigation and possible effects on its business. In this context it should be kept in mind that the European Commission is also investigating Amazon under Art 102 TFEU with a view to Amazon's BuyBox and Marketplace. The European Commission is assessing whether Amazon has abused its dominance by systematically relying on non-public data that it obtains as marketplace operator to the benefit of its own retail business, and by artificially favoring its own retail offers and offers of marketplace sellers that use Amazon’s logistics and delivery services. While Amazon does not agree with the Commission's findings, it has offered commitments pursuant to Art 9 of Regulation (EC) No 1/2003 to address the Commission's competition concerns. The Commission has invited interested third parties on 20 July 2022 to comment on Amazon's proposed commitments by 9 September 2022 (Link). It remains to be seen what the outcome of the proceedings will be and which relation it will have to comparable decisions of national competition authorities (such as the FCO's decisions under Sec 19a para 2 ARC) or to Amazon's obligations under the DMA.

Meta/Facebook

Meta' prominence predominantly stems from its social media services Facebook (including the Facebook Messenger), Instagram, and WhatsApp. However, the company is building towards an all-encompassing ecosystem, the metaverse – a comprehensive virtual 3D world for a new-generation Internet – and is thus investing substantial resources in innovative hard- and software appliances. 

Against this background, the FCO held in its Sec 19a(1) ARC decision, which Meta – like Google, but unlike Amazon – did not contest, that Meta's market dominance, its vertical integration, its conglomerate ties as well as its data access are of particular importance and, thus, that the company has "paramount significance for competition across markets". In its decision, the authority found that Meta holds a dominant position, if not a monopoly, on the market for social networks for private users in Germany and at the same time has a very strong position in social media advertising. As a result of Meta's position in private social networks, access to the company's channels is indispensable for advertisers. Due to its role as owner of the core online social communication infrastructure, access to Meta's services/advertising spaces has a considerable influence on the opportunities for commercial communication and, thus, on the ability to successfully advertise and market a multitude of products and services in social networks.

In addition to the ongoing Sec 19a ARC proceeding, the FCO already issued a decision against Meta under the traditional competition law framework at the beginning of 2019 and prohibited it to combine user data from different sources under the rules against an abuse of a dominant position. However, Meta has contested the decision and the respective litigation is still pending, currently at the European Court of Justice. Moreover, the FCO investigates the combination of Meta Quest's (formerly Oculus) 3D glasses service with Facebook. The investigation started in 2020 and was included into the Sec 19a ARC-proceeding later.

Apple

As regards Apple, the FCO has not issued a decision yet. However, it appears to be a foregone conclusion the Apple will follow the road Google, Amazon and Meta have taken. In fact, the FCO has already indicated the practices it intends to review under Sec 19a(2) ARC: 

  • The implementation of Apple's App Tracking Transparency (ATT) Framework to the detriment of advertisers and app-publishers, which rely on tracking data to monetize their content via targeted advertising. Those practices are, inter alia, subject of an antitrust litigation against Apple filed by several publishers, including French newspapers Le Figaro and L'Equipe, in the United States District Court for the Northern District of California on 1 August 2022.
  • The exclusive pre-installation of Apple's own apps as a possible case of self-preferencing and the resulting damages to competing app-publishers which rely on the iOS system to market their products and services.
  • The notorious obligation for app-publishers to exclusively use Apple's own payment system for in-app purchases and to pay the associated commission rates of up to 30%.

Apple's practices are the subject of an increasing number of antitrust probes following complaints from market participants. This includes proceedings, e.g., by the European Commission, which investigates Apple's conduct with regard to access to the iOS NFC technology for mobile payment services and the 30% commission on in app purchases (see Link). Additionally, more and more private antitrust litigation is pending, for instance in the United States, Australia, the United Kingdom, the Netherlands and Portugal (see Link), increasing the pressure on Apple. Especially the latter development shows that private antitrust enforcement plays a vital role and that affected undertakings should consider to take action to protect their commercial interests in the absence or even alongside public enforcement. The FCO's Sec 19a(1) and (2) ARC decisions will surely help in this endeavor.

TAKEAWAYS FOR DECISION-MAKERS

The entrenched structures on digital markets have already been identified some time ago as a major problem for both the global economy and the functioning of democratic societies. As a result, the business practices of Big Tech have not only come into the focus of antitrust authorities based on the traditional "antitrust tool kit", but have also become the subject of numerous innovative legislative initiatives around the globe. The German Sec 19a ARC and the corresponding decisions of the FCO give a taste of things to come. Beyond the German regulatory framework, the European Union with its recently adopted DMA follows suit, providing an alternative to the individual assessment of practices under antitrust law. Practices currently investigated under Art 102 TFEU – such as the 30% commission on in app-purchases (Art 5(7) DMA) or self-preferencing (Art 6(5) DMA) – will be straight out unlawful. While it remains to be seen what effects the multiple efforts of legislators and competition authorities around the globe will eventually have, it appears very likely that the impact on Big Tech's business model and, thus, on future market behavior will be rather substantial.

Yet, while the authorities will do their best to enforce the rules against Big Tech and secure compliance with the new rules (and antitrust law), tight budgets and limited (personnel) resources mean that authorities will need market input, be it with a view to input on factual questions or with information on potential violations. Finally, to make the new regulatory regimes a success story for all affected companies, private enforcement before the courts of the member states will most likely be needed to supplement regulatory activities.

From our perspective, the developing mélange of traditional antitrust standards, innovative enforcement possibilities and a deeper understanding of Big Tech's market position and effects, based on the variety of in-depth probes of antitrust authorities, has the potential to readjust the equilibrium in the market over time. Companies that have been dependent on Big Tech's goodwill can now start, especially in Germany, to develop alternative strategies to get back into control when doing business with or relying on these companies. The tide is turning, and decision makers should keep a close eye on chances (and risks) created by the latest developments in digital antitrust law.

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Zivilrechtliche Haftung wegen Kapitalanlagebetrugs (auch) bei Erwerb am Sekundärmarkt

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Zivilrechtliche Haftung wegen Kapitalanlagebetrugs (auch) bei Erwerb am Sekundärmarkt – BGH, Urteil vom 5. Mai 2022 – III ZR 131/20 (NJW 2022, 2262)

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs entschied jüngst mit Urteil vom 5. Mai 2022 – III ZR 131/20 (NJW 2022, 2262), dass ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht schon dann ausscheide, wenn ein Wertpapier nicht über den Primär-, sondern über den Sekundärmarkt erworben werde. Die Entscheidung präzisiert die Voraussetzungen einer zivilrechtlichen Haftung wegen Kapitalanlagebetrugs.

Der Blog-Beitrag gibt nach einer Zusammenfassung des maßgeblichen Sachverhalts (in Abschnitt I) den wesentlichen Inhalt der Entscheidung wieder (in Abschnitt II). Abschließend wird ein Blick auf praktische Konsequenzen der Entscheidung geworfen (in Abschnitt III).

I. Sachverhalt

Die inzwischen insolvente WGF AG erwarb günstige Immobilien, um diese anschließend aufzuwerten und sodann gewinnbringend zu veräußern (sog. "Fix & Flip"). Sie finanzierte ihre Geschäftstätigkeit vornehmlich durch die Emission von insgesamt acht Hypothekenanleihen, von denen nur zwei planmäßig zurückgezahlt werden konnten. Die Beklagten sind ehemalige Vorstandsmitglieder der WGF AG.

Die WGF AG veröffentlichte im Rahmen der Emission der Hypothekenanleihen jeweils Wertpapierprospekte. Einigen Wertpapierprospekten waren durch Wirtschaftsprüfer testierte Jahresabschlüsse beigefügt, in denen Forderungsausfälle, die eine Überschuldung der AG zur Folge hatten, nicht berücksichtigt waren.

Die WGF AG nahm anlässlich der Forderungsausfälle eine Berichtigung der Jahresabschlüsse für die Geschäftsjahre 2008 und 2009 vor. Diese wiesen danach eine Überschuldung der WGF AG aus. Im Zusammenhang mit der Präsentation des Jahresabschlusses für 2010 veröffentlichte die WGF AG im Juli 2011 eine Pressemitteilung mit der Überschrift "WGF AG legt Jahresabschluss 2010 vor", in der darauf hingewiesen wurde, dass sie für das Geschäftsjahr 2008 eine Wertberichtigung im Zusammenhang mit dem Ausfall von Forderungen an drei Immobilienfonds vorgenommen habe. Die berichtigten Jahresabschlüsse für die Geschäftsjahre 2008 und 2009 wurden im Januar 2012 im Bundesanzeiger veröffentlicht.

Der Jahresabschluss für das Geschäftsjahr 2011 wies eine Überschuldung der WGF AG auf. Der Vorstand der WFG AG stellte im Dezember 2012 daraufhin schließlich Insolvenzantrag wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der WGF AG wurde im März 2013 eröffnet.

Der Kläger erwarb zwischen Juni 2010 und März 2013 mehrfach im Wege des Zweiterwerbs von der WGF AG emittierte Anleihen. Diese wurden von der inzwischen insolventen WGF AG nicht zurückgezahlt. Der Kläger begehrte angesichts dessen von den Beklagten Schadensersatz. Hierzu stützte er sich u.a. auf eine vermeintliche Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 1 StGB.

II. Wesentliche Aspekte der Entscheidung

Der Entscheidung lassen sich für die Praxis insbesondere drei wesentliche Aussagen entnehmen, die im Folgenden dargestellt werden.

1. Zivilrechtliche Haftung auch bei Erwerb am Sekundärmarkt

Zunächst stellt der Senat fest, dass ein Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht schon dann ausscheide, wenn ein Wertpapier über den (Börsen-)Handel unter den Marktteilnehmern, also über den Sekundärmarkt, erworben werde (Rn. 22 f. – dieser wie auch die folgenden Nachweise beziehen sich auf die in NJW 2022, 2262 abgedruckte Fassung des Urteils). Zur Begründung führt der Senat an, dass eine Auslegung, wonach die Vorschrift nur den Erwerb am Primärmarkt erfasse, weder durch den Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift geboten sei (Rn. 23). Sinn und Zweck der Vorschrift – namentlich der Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes und der meist unerfahrenen Kapitalanleger vor Vermögensschäden – sprächen vielmehr für eine weite Auslegung, da der Schutz des Kapitalmarkts sowohl den Schutz des Primär- als auch den Schutz des Sekundärmarkts umfasse und ein funktionierender Kapitalmarkt gleichermaßen sowohl einen funktionierenden Primär- als auch einen funktionierenden Sekundärmarkt voraussetze (Rn. 23). Kapitalanleger seien "auf beiden (Teil-)Märkten" schutzbedürftig (Rn. 23).

Anders als die Frage der Schutzgesetzqualität des § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB, die der BGH in ständiger Rechtsprechung bejaht (Rn. 21 für Nachweise) und die der Senat auch hier ohne Weiteres annimmt (Rn. 21), war bisher nicht höchstrichterlich geklärt, ob die Vorschrift bei einem Erwerb von Wertpapieren auf dem Sekundärmarkt anwendbar ist. Der Senat wendet sich mit seiner Entscheidung gegen die überwiegende Ansicht in der Literatur und die bisher zu der Frage ergangene Rechtsprechung.

Die meisten Literaturstimmen und die einschlägige Instanzrechtsprechung verneinten die Anwendbarkeit des § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB auf Transaktionen am Sekundärmarkt bisher unter Verweis auf den Wortlaut der Norm, der einen Zusammenhang mit dem "Vertrieb" von Wertpapieren erfordert, was nur bei einer Emission, nicht aber im laufenden Börsenhandel vorliegen könne (vgl. nur Fuchs, in: Fuchs (Hrsg.), WpHG, 2. Aufl. 2016, Vor §§ 37b, 37c, Rn. 67).

Auch der II. Zivilsenat des BGH hatte sich in einer Entscheidung aus dem Jahr 2004 am Rande zu der Frage geäußert und im dort zugrundeliegenden Fall des Erwerbs von Aktien an der Börse den "in § 264a Abs. 1 StGB vorausgesetzten Zusammenhang der Tathandlung mit dem 'Vertrieb von Anteilen' (Nr. 1) oder mit einem Erhöhungsangebot (Nr. 2)" in einer nicht tragenden Erwägung verneint (BGH, Urteil vom 19. Juli 2004 - II ZR 218/03, NJW 2004, 2664, 2666). In der Literatur wurde diese Entscheidung vielfach so verstanden, dass auch der BGH die Vorschrift des § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB nur bei einem einen Erwerb am Primärmarkt für anwendbar hält.

Der Senat geht knapp auf diese ältere Entscheidung ein und weist darauf hin, dass der II. Zivilsenat in der Entscheidung keinen Rechtssatz aufgestellt habe, wonach ein im Tatbestand des § 264a Abs. 1 StGB vorausgesetzter Zusammenhang mit dem Vertrieb von Anteilen nur bei einem Erwerb derselben über den Primärmarkt, nicht hingegen bei einem solchen über den Sekundärmarkt, etwa über eine Börse, bestehe (Rn. 24). Den jeweiligen Literaturstimmen, die der Entscheidung des II. Zivilsenats Gegenteiliges entnommen hatten, erteilt der Senat somit eine Absage.

2. Kausalität von Prospektfehlern für die Anlageentscheidung

Der Senat konkretisiert in seiner Entscheidung außerdem die in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung entwickelte tatsächliche Vermutung, wonach ein Prospektfehler nach der Lebenserfahrung für die Anlageentscheidung ursächlich sei (Rn. 37 für Nachweise).

Sei in einem Emissionsprospekt ein von einem Wirtschaftsprüfungsunternehmen mit uneingeschränktem Bestätigungsvermerk versehener Jahresabschluss abgedruckt, werde hierdurch zumindest das Vertrauen begründet, dass die Anlage in dem bestätigten Umfang zu dem maßgeblichen Zeitpunkt keine Mängel aufgewiesen habe, die zur Verweigerung oder Einschränkung des Testats hätten führen müssen (Rn. 42). Dieses Vertrauen wirke insoweit fort, als der Anleger nur mit einer seither eingetretenen Veränderung der Verhältnisse rechnen müsse, nicht aber damit, dass zu dem für den im Prospekt wiedergegebenen Bestätigungsvermerk maßgeblichen Prüfungszeitpunkt strukturelle Mängel der Anlage bestanden, die sich noch auswirken (Rn. 42). Erst wenn zwischen Prüfungsstichtag und Anlageentschluss eine so lange Zeit verstrichen sei, dass mit wesentlichen, auch die Grundlagen des Unternehmens erfassenden Änderungen der Verhältnisse gerechnet werden müsse, könne die durch Lebenserfahrung begründete Vermutung der Ursächlichkeit für die Anlageentscheidung nicht mehr eingreifen (Rn. 42). Bis zu diesem Zeitpunkt bestehe zudem eine Aktualisierungspflicht in Form einer Verpflichtung zum Nachreichen richtigstellender Informationen, wenn die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der ursprünglichen Angaben zunächst nicht erkannt wurde oder sich später infolge geänderter Umstände einstelle (Rn. 42).

Der Senat lässt in diesem Zusammenhang offen, wann davon ausgegangen werden kann, dass die tatsächliche Vermutung nicht mehr greift. Jedenfalls sei die tatrichterliche Würdigung, wonach das Einstellen der berichtigten Jahresabschlüsse für die Geschäftsjahre 2008 und 2009 auf der Homepage der AG und das Veröffentlichen einer Pressemitteilung mit der Überschrift "WGF AG legt Jahresabschluss 2010 vor" nicht zu einem Wegfall der tatsächlichen Vermutung führe, nicht zu beanstanden (Rn. 44). Es sei auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht einen Wegfall der Kausalitätsvermutung nur angenommen hätte, wenn die Anleger zusätzlich durch eine Information auf der Homepage auf die geänderten Jahresabschlüsse und das nunmehr negative Bilanzergebnis in den Jahren 2008 und 2009 hingewiesen worden wären (Rn. 44).

3. Tatbestandsirrtum bei uneingeschränktem Bestätigungsvermerk

Der Senat stellt ferner klar, dass die Erteilung eines uneingeschränkten Bestätigungsvermerks durch einen Wirtschaftsprüfer bei einem redlichen Vorstandsmitglied die Annahme eines vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtums begründen könne, wenn in einem Prospekt eine unrichtige vorteilhafte Angabe in Bezug auf eine risikobehaftete Forderung enthalten und dies auf eine fehlerhafte bilanzielle Bewertung zurückzuführen sei (Rn. 30). Die Rechtsprechung des Senats, wonach ein Bestätigungsvermerk zumindest das Vertrauen begründe, dass zu dem maßgeblichen Zeitpunkt keine Mängel vorhanden waren, die zur Einschränkung des Testats hätten führen müssen, sei auf Vorstandsmitglieder übertragbar (Rn. 30). Das jeweilige Vorstandsmitglied müsse allerdings darlegen, "alle Aufklärungen und Nachweise, die für eine sorgfältige Prüfung notwendig sind" (§ 320 Abs. 2 Satz 1 HGB) vorgenommen zu haben (Rn. 30).

III. Praktische Konsequenzen

Die Entscheidung präzisiert die Voraussetzungen der zivilrechtlichen Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 264a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Die Haftungsvoraussetzungen bleiben angesichts der Anforderungen an den subjektiven Tatbestand gleichwohl äußerst hoch.

Ferner konkretisiert sie die Anforderungen an den Nachweis der Ursächlichkeit von Prospektfehlern für die Kaufentscheidung von Anlegern. Die Vermutung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, dass die Unrichtigkeit eines Prospekts ursächlich für die Kaufentscheidung war, sei dem Senat zufolge hier erst dann nicht mehr anwendbar, wenn zwischen Prüfungsstichtag und Anlageentschluss eine so lange Zeit verstrichen sei, dass mit wesentlichen, auch die Grundlagen des Unternehmens erfassenden Änderungen der Verhältnisse gerechnet werden müsse. Wie lang dieser Zeitraum zu bemessen ist, bleibt eine Frage des Einzelfalls und wird vom Senat auch nicht näher ausgeführt. Für die Praxis bedeutsam ist zudem, dass stets eine Widerlegung der Vermutung möglich ist.

Bis zu diesem Zeitpunkt bestehe zudem eine Aktualisierungspflicht, das heißt eine Verpflichtung zum Nachreichen richtigstellender Informationen, wenn die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der ursprünglichen Angaben zunächst nicht erkannt wurde oder sich später infolge geänderter Umstände einstellte.

Der Umstand, dass ein uneingeschränktes Testat eines Wirtschaftsprüfers einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum begründen kann, begründet für Anspruchsgegner im Übrigen eine Exkulpationsmöglichkeit, die allerdings aufgrund der ihnen obliegenden Darlegungslast eine sorgfältige Dokumentation erfordert.

Wegen der Vielgestaltigkeit der praktisch denkbaren Konsequenzen empfiehlt sich für betroffene Unternehmen und ihre Organmitglieder in jedem Fall, frühzeitig Rechtsrat einzuholen, um mögliche Haftungsrisiken zu vermeiden. GLADE MICHEL WIRTZ steht für einen Austausch zu diesen Themen jederzeit gern zur Verfügung.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Zivilrechtliche Haftung wegen Kapitalanlagebetrugs (auch) bei Erwerb am Sekundärmarkt – BGH, Urteil vom 5. Mai 2022 – III ZR 131/20 (NJW 2022, 2262)

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