Die Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung geht weiter – Bundesgerichtshof verschärft und konkretisiert erneut die Anforderungen an den Nachweis und die Kenntnis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes

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Die Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung geht weiter – Bundes­gerichtshof verschärft und konkretisiert erneut die Anfor­derungen an den Nachweis und die Kenntnis des Gläubiger­benachteiligungs­vorsatzes

10. März 2022

Der Bundesgerichtshof hat mit seinem Urteil vom 10. Februar 2022 (Az.: X ZR 148/19), welches Anfang März 2022 veröffentlicht wurde, seine jüngst eingeschlagene Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO fortgesetzt. In seiner Entscheidung hat der IX. Zivilsenat die Anforderungen an den Nachweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners und die Kenntnis des Anfechtungsgegners weiter verschärft und konkretisiert. Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, dass ein schleppendes Zahlungsverhalten des Schuldners allein nicht auf eine später eingetretene Zahlungseinstellung schließen lasse, wenn sich das schleppende Zahlungsverhalten – unabhängig von der Liquidität des Schuldners – durch die gesamte Geschäftsbeziehung ziehe.

Die Entscheidung erging zwar, wie bereits die Entscheidung vom 6. Mai 2021 (Az.: X ZR 72/20), über die wir ebenfalls berichtet haben, zu der Regelung des § 133 InsO in seiner bis zum 4. April 2017 geltenden Fassung; der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass seine Ausführungen auch für den § 133 InsO in der derzeit geltenden Fassung gelten.

I. HINTERGRUND DER ENTSCHEIDUNG UND RECHTLICHE AUSGANGSLAGE

In dem zu beurteilenden Sachverhalt wurde über das Vermögen einer GmbH im Jahr 2015 das Insolvenzverfahren eröffnet. Die klagende Insolvenzverwalterin hatte insgesamt 36 Einzelzahlungen der Schuldnerin an eine Spedition i.H.v. insgesamt ca. EUR 53.000,00 angefochten, mit denen diese in der Zeit vom 7. April 2014 bis zum 9. September 2015 Transportleistungen der Beklagten vergütet hatte und deren Rückzahlung verlangt (§§ 133 Abs. 1, 143 Abs. 1 Satz 1 InsO). Zur Begründung trug die Klägerin vor, dass die GmbH bereits seit Anfang 2013 zahlungsunfähig gewesen sei. Zum damaligen Zeitpunkt hatten sowohl eine Krankenversicherung wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge als auch das zuständige Finanzamt wegen ausstehender Steuerzahlungen jeweils Insolvenzanträge gestellt; gegenüber dem Finanzamt hatte die Schuldnerin zudem erklärt, zahlungsunfähig zu sein. Da ein Dritter die ausstehenden Sozialversicherungsbeiträge und Steuerschulden i.H.v. insgesamt rund EUR 73.000,00 beglich, wurden die Insolvenzanträge für erledigt erklärt, sodass es nicht zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens kam. Die Beklagte war nicht über die beiden Insolvenzanträge informiert. Ihr war ausschließlich das seit Beginn der Geschäftsbeziehung Anfang 2012 durch eine dauerhafte und im Wesentlichen gleichbleibend schleppende Begleichung ihrer entstandenen Forderungen geprägte Zahlungsverhalten der Schuldnerin bekannt. Die Schuldnerin zahlte die offenen Rechnungen stets erst nach einer oder mehreren Mahnungen oder der Androhung von rechtlichen Schritten. Letztere mussten jedoch nie eingeleitet werden und es kam auch in keinem Zeitpunkt zu einem Anwachsen der Verbindlichkeiten der Schuldnerin gegenüber der Beklagten.

Die klagende Insolvenzverwalterin behauptete, die Schuldnerin sei spätestens seit Mitte 2013 nicht mehr in der Lage gewesen, die Forderungen der Beklagten zu erfüllen. Daher seien die angefochtenen Zahlungen mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz geleistet worden, welcher der Beklagten aufgrund der schleppenden Zahlungsweise der Schuldnerin auch bekannt gewesen sei. Sowohl das Landgericht Köln als auch das Oberlandesgericht Köln haben der Klage der Insolvenzverwalterin stattgegeben, da die Schuldnerin zahlungsunfähig gewesen sei und die Anfechtungsgegnerin hiervon aufgrund der schleppenden Zahlungsweise der Schuldnerin entsprechende Kenntnis gehabt habe.

Nach § 133 Abs. 1 InsO ist eine Rechtshandlung bekanntermaßen anfechtbar, die der Schuldner in den letzten zehn Jahren – bei kongruenten Deckungshandlungen in den letzten vier Jahren – vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte. Diese Kenntnis des anderen Teils wird dabei gemäß § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO vermutet, wenn dieser wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung gläubigerbenachteiligend ist. 

Sowohl der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners als auch die Kenntnis des Anfechtungsgegners von diesem Vorsatz sind innere, dem Beweis nur eingeschränkt zugängliche, Tatsachen. Diese subjektiven Voraussetzungen können daher in aller Regel nur mittelbar aus objektiven (Hilfs-)Tatsachen hergeleitet werden. Zu diesen äußeren Beweiszeichen zählte – auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – lange Zeit die durch den Anfechtungsgegner erkannte Zahlungsunfähigkeit. Nach der vom Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 6. Mai 2021 (Az.: X ZR 72/20) eingeleiteten Rechtsprechungsänderung können bei einer kongruenten Deckung sowohl der Benachteiligungsvorsatz des Schuldners als auch die Kenntnis des Anfechtungsgegners von dem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nicht mehr allein darauf gestützt werden, dass der Schuldner im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung erkannter maßen zahlungsunfähig ist. Insoweit reicht es nicht mehr aus, wenn der Schuldner weiß, dass er im Zeitpunkt der Rechtshandlung nicht alle seine Gläubiger befriedigen kann. Vielmehr liegen der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz und die Kenntnis des anderen Teils nach der geänderten Rechtsprechung des Bundesgerichthofs nur dann vor, wenn der Schuldner weiß oder jedenfalls billigend in Kauf nimmt, seine übrigen Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen zu können. 

II. ERHÖHTE VORAUSSETZUNGEN AN DIE FESTSTELLUNG DES GLÄUBIGERBENACHTEILIGUNGSVORSATZES UND DIE ERFORDERLICHE KENNTNIS DES ANFECHTUNGSGEGNERS BEI SCHLEPPENDEM ZAHLUNGSVERHALTEN

Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wirkt eine einmal eingetretene Zahlungsunfähigkeit so lange fort, bis der Schuldner seine Zahlungen im Allgemeinen wieder aufnimmt. Dies ist jedoch nicht bereits dann der Fall, wenn die Verbindlichkeit, deren Nichtbedienung die Feststellung der Zahlungseinstellung trägt, aufgrund ihrer Erfüllung oder Stundung nicht mehr herangezogen werden kann. Vielmehr ist erforderlich, dass der Schuldner jedenfalls den wesentlichen Teil seiner übrigen Verbindlichkeiten bedient. Die allgemeine Wiederaufnahme der Zahlungen ist dabei von dem Anfechtungsgegner darzulegen und zu beweisen.

In seiner aktuellen Entscheidung rückt der Bundesgerichtshof nunmehr ausdrücklich davon ab, dass der Anfechtungsgegner die allgemeine Wiederaufnahme der Zahlungen durch die Schuldnerin vollumfänglich darzulegen und zu beweisen habe. Vielmehr hält es der Bundesgerichtshof für angezeigt, die Anforderungen an den für die Entkräftung der Fortdauervermutung erforderlichen Vortrag des Anfechtungsgegners durch eine sekundäre Darlegungslast des Insolvenzverwalters zu beschränken. Er begründet seine geänderte Rechtsprechung damit, dass dem Anfechtungsgegner oftmals unmögliches abverlangt werde, wenn er die allgemeine Wiederaufnahme der Zahlungen der Schuldnerin vollumfänglich darzulegen und zu beweisen habe. Schließlich kenne er häufig nur das Zahlungsverhalten des Schuldners gegenüber ihm selbst, während ihm die allgemeine wirtschaftliche Lage des Schuldners und die Tatsache, ob dieser den wesentlichen Teil seiner übrigen Verbindlichkeiten wieder bedient habe, regelmäßig unbekannt sei.

Die sekundäre Darlegungslast des Insolvenzverwalters soll nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs eingreifen, wenn der Anfechtungsgegner einen Umstand beweist oder ein solcher unstreitig ist, der eine Wiederaufnahme der Zahlungen im Allgemeinen als möglich erscheinen lässt. Dies soll bereits dann anzunehmen sein, wenn die Verbindlichkeit, deren Nichtbedienung die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit trägt bzw. getragen hat, nicht mehr herangezogen werden kann und dem Anfechtungsgegner keine weiteren Kenntnisse über das Zahlungsverhalten des Schuldners vorliegen. In diesem Fall soll es dann dem Insolvenzverwalter obliegen, zum Zahlungsverhalten des Schuldners im Übrigen, insbesondere zu weiterhin nicht bedienten Verbindlichkeiten des Schuldners in demjenigen Zeitraum vorzutragen, in dem die Wiederaufnahme der Zahlungen erfolgt sein soll.

Diesen Anforderungen hat der Vortrag der Klägerin in dem zu beurteilenden Sachverhalt nicht genügt. Sie hatte die Zahlungsunfähigkeit und Zahlungseinstellung nämlich lediglich auf die seinerzeit offenen Sozialversicherungsbeiträge und Steuerforderungen sowie die daraufhin gestellten Insolvenzanträge gestützt. Da eben diese Verbindlichkeiten jedoch durch einen Dritten beglichen wurden, hätte die Klägerin ausdrücklich auch zu den weiterhin nicht bedienten Verbindlichkeiten der Schuldnerin gegenüber anderen Gläubigern vortragen müssen. Nur dann wäre die Beklagte in die Lage versetzt worden, die Vermutung der Fortdauer der Zahlungsunfähigkeit zu entkräften.

Im Weiteren führt der Bundesgerichtshof aus, dass sich eine Zahlungseinstellung der Schuldnerin auch nicht auf andere Umstände stützen lasse. Sofern es an einer entsprechenden Erklärung des Schuldners fehle, könne die Zahlungseinstellung zwar auch auf andere Umstände gestützt werden. Diese müssten jedoch das einer Erklärung entsprechende Gewicht erreichen. Dies sei bei Zahlungsverzögerungen allein, auch wenn sie wiederholt auftreten, regelmäßig nicht der Fall. Vielmehr müssten Umstände hinzutreten, die mit einer hinreichenden Gewissheit dafürsprechen würden, dass die Zahlungsverzögerung auch auf einer fehlenden Liquidität des Schuldners beruht. Diese Umstände müssten jeweils im konkreten Einzelfall ein Gewicht erreichen, dass der Erklärung des Schuldners entspricht, aus einem Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können.

Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs käme der schleppenden Zahlungsweise und den verspäteten Zahlungen der Schuldnerin ein solches Gewicht und ein solcher Erklärungsgehalt ausdrücklich nicht zu. Der schleppenden Zahlungsweise ließe sich nämlich nicht mit der nach § 286 ZPO erforderlichen hinreichenden Gewissheit entnehmen, dass die Schuldnerin ihre Zahlungen tatsächlich eingestellt habe. Zum einen wiesen die Mahnungen der Anfechtungsgegnerin neben den überfälligen Forderungen auch solche Forderungen aus, die noch nicht fällig waren. Zum anderen habe die Schuldnerin gegenüber der Anfechtungsgegnerin schon seit Beginn der Geschäftsbeziehung Anfang 2012 ein schleppendes Zahlungsverhalten an den Tag gelegt. Da sich dieses Zahlungsverhalten in der Folge nicht wesentlich verändert habe, verliere es seine Bedeutung, um eine später eingetretene Zahlungseinstellung annehmen zu können. Lege der Schuldner jedoch unabhängig von seiner Liquiditätssituation ein schleppendes Zahlungsverhalten an den Tag, könne aus diesem nicht (mehr) auf eine später eingetretene Zahlungseinstellung geschlossen werden.

III. VERSCHÄRFUNG DER ANFORDERUNGEN AN DIE KENNTNIS VON DER DROHENDEN ZAHLUNGSUNFÄHIGKEIT

Ergänzend führt der Bundesgerichtshof sodann aus, dass ein Anfechtungsgegner, dem lediglich das Zahlungsverhalten des Schuldners ihm gegenüber bekannt sei, in der Regel keine Kenntnis von der drohenden Zahlungsunfähigkeit des Schuldners habe. Dies begründet der Bundesgerichtshof damit, dass es dem Anfechtungsgegner in der Regel an denjenigen Kenntnissen fehle, die zur Beurteilung der drohenden Zahlungsunfähigkeit erforderlich seien. Schließlich sei für die Beurteilung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit eine in die Zukunft gerichtete Prognose erforderlich, bei der die Liquidität sowie die innerhalb des Prognosezeitraums fällig werdenden Forderungen des Schuldners den fälligen sowie den innerhalb des Prognosezeitraums fällig werdenden Verbindlichkeiten gegenüberzustellen zu seien. Von eben diesen Parametern habe ein Anfechtungsgegner, dem lediglich die Zahlungsweise des Schuldners ihm gegenüber bekannt sei, regelmäßig jedoch keine Kenntnis und könne daher auch keine Kenntnis von der drohenden Zahlungsunfähigkeit haben.

IV. FAZIT/STELLUNGNAHME

Der Bundesgerichtshof setzt mit seiner jüngsten Entscheidung seine im vergangenen Jahr begonnene Neuausrichtung der Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO fort. Dies folgt bereits daraus, dass der Bundesgerichtshof in seiner jüngsten Entscheidung ausdrücklich auf seine Entscheidung vom 6. Mai 2021 (Az.: X ZR 72/20) Bezug nimmt und anknüpfend hieran die Voraussetzungen für den Nachweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners und die Kenntnis des Anfechtungsgegners hiervon weiter konkretisiert und verschärft. 

Ein pauschaler Verweis auf eine schleppende Zahlungsweise und Zahlungsmoral des Schuldners wird zukünftig nicht mehr ausreichen, um den Eintritt oder das Fortbestehen einer eingetretenen Zahlungseinstellung im Rahmen der Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO darzulegen und zu beweisen. Die jüngste Entscheidung des Bundesgerichtshofs dürfte daher die Position von Gläubigern, die sich einer Vorsatzanfechtung ausgesetzt sehen, weiter stärken. Schließlich wurden sowohl die Anforderungen an den Nachweis des Benachteiligungsvorsatzes auf Seiten des Schuldners als auch von dessen Kenntnis auf Seiten des Anfechtungsgegners ein weiteres Mal verschärft. Spiegelbildlich dazu wurden die Anforderungen an den Vortrag des Anfechtungsgegners für den Wegfall einer eingetretenen Zahlungseinstellung deutlich reduziert. Dieser muss lediglich einen Umstand beweisen, der eine Wiederaufnahme der Zahlungen im Allgemeinen als möglich erscheinen lässt, wobei es bereits ausreicht, wenn er vorträgt, dass eine Verbindlichkeit, auf deren Nichterfüllung die Zahlungseinstellung gestützt wurde, nicht mehr besteht. Gelingt dem Anfechtungsgegner dieser Nachweis, obliegt es dem Insolvenzverwalter vorzutragen, dass in dem Zeitpunkt der angenommenen Zahlungseinstellung andere nicht bediente Verbindlichkeiten des Schuldners bestanden.

Gleichwohl wird einem Insolvenzverwalter der Nachweis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes und die Kenntnis des Anfechtungsgegners auch zukünftig gelingen können, wenn er in der Lage ist, der ihm etwaig obliegenden sekundären Darlegungslast hinsichtlich der offenen Verbindlichkeiten der Schuldnerin nachzukommen. Hierfür wird es in aller Regel einer entsprechend aufbereiteten Buchhaltung der Schuldnerin brauchen, aus der die einzelnen Verbindlichkeiten der Schuldnerin zu den jeweiligen Stichtagen ersichtlich sind. Soweit die Buchhaltung der Schuldnerin diesen Anforderungen nicht genügt, wird der Insolvenzverwalter diese – sofern möglich – vor einem Anfechtungsprozess entsprechend aufbereiten müssen.

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The Data Act – Sharing is Caring. Or Is It?

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTs­­­ENTWICKLUNGEN

The Data Act – Sharing is Caring. Or Is It?

3 March 2022

On 23 February 2022 the European Commission (Commission) published its draft proposal for a regulation on harmonized rules on fair access to and use of data (Data Act) (COM(2022) 68 final). The Data Act, which builds on the Data Governance Act (COM(2020) 767 final), aims to facilitate the access to and exchange of data between, in particular, businesses as a major resource in the age of digitalization and the so-called industry 4.0. The relevance of data as a resource has been at the forefront of the legislative agenda both nationally and on the EU-level in the last years. Apart from the General Data Protection Regulation (GDPR), which concerns the protection of personal data, initiatives like the EU's Digital Markets Act (DMA) or the 10th amendment of the German Act Against Restraints of Competition (ARC) address, inter alia, the importance of data and the potential competitive harm of foreclosing access to data. However, the Data Act is by far the most ambitious project as it has the potential to remodel the way data is handled in the EU and beyond. This blogpost takes a first look at the Commission's proposal and, in particular, the (potential) nexus to antitrust law.

I. Introduction

The Data Act is part of the Commission's data agenda laid out in its communication "A European Strategy for Data", which was published on 19 February 2020 (COM(2020) 66 final). It must be seen in the wider context of the Commission's broader policy goals set out in "A Europe Fit for the Digital Age".

In its data strategy, the Commission describes its vision for a "data-agile" European economy and has identified data access and sharing between, inter alia, businesses as a prerequisite and the accumulation of data in the hands of a few players as a major threat for its vision of "a genuine single market for data" (Commission, A European Strategy for Data, p 3, 4, 6 et seq). The Commission's data strategy was welcomed by the European Parliament in its resolution on a European strategy for data (2020/2217(INI)) of 25 March 2021.

Against this background, the Data Act is designed to lay the ground for data sharing and is supposed to act as major contributor to the data-agile economy. In the words of the Data Act: "The aim [is] to ensure fairness in the allocation of data value among actors in the data economy and to foster access to and use of data" (p 2 of the Commission's proposal).

The Data Act complements the Data Governance Act, which is set to enter into force in the first half of 2022 and which, most notably, addresses the re-use of public sector data and sets up a regulatory framework for data intermediaries. In addition, the Data Act has several important intersections to existing and future "vertical" data regulation such as the Payment Service Directive (2015/2366) for the financial sector and, in particular, the DMA as well as competition law in general (p 3 et seq of the Commission's proposal).

II. Overview

The legal basis for the Data Act is Art 114 of the Treaty on the Functioning of the European Union (TFEU), which allows the Commission to implement rules that advance the internal market.

Pursuant to Art 1(1), the Data Act creates a framework for the basic access to and exchange of data, with data being defined broadly as "any digital representation of acts, facts, or information and any compilation of such acts, facts or information, including in the form of sound, visual or audio-visual recording" (Art 2(1) Data Act).

The Data Act is business sector agnostic. It is a "horizontal" regulation and applies to virtually all businesses no matter their products or services. Accordingly, apart from some exceptions for micro or small enterprises pursuant to Art 2 of the Annex to Recommendation 2003/361/EC (Art 7 Data Act), data holders and data recipients must comply with the Data Act. This alone shows the significant impact the Data Act would have. It would apply to any producer or provider of Internet-of-Things (IoT) products or related services, be it vehicles that drive autonomously, voice assistants, cellphones, smart machinery of any type, smart home appliances, medical and health devices, etc. (Art 1(2)(a), Recital 14 Data Act).

The Data Act's 42 Articles are divided up into 11 chapters, which cover the following topics:

  • Chapters II and III contain the main rules concerning business to business (B2B) and business to consumer (B2C) data sharing with a particular focus on access to data generated by use of IoT products or related services.
  • Chapter IV defines unfair contractual terms that shall not be used vis-à-vis micro, small or medium-sized enterprises with respect to data access and use of data.
  • Chapter V regulates business to government (B2G) data sharing where there is an exceptional need for data by public authorities. 
  • Chapters VI, VII and VIII address the switching between and interoperability of data processing services like cloud providers (including rules on smart contracts) and the access and transfer of (non-personal) data internationally.
  • Chapter IX includes rules on public enforcement, which will – unlike for the DMA – rest with the member states, which "shall designate one or more competent authorities as responsible for the application and enforcement of this Regulation" (Art 31 Data Act). 
  • Chapters X and XI contain miscellaneous provisions, which, inter alia, stipulate that the rules of the Data Act shall apply 12 months after its entry into force.

The remaining part of this blogpost will focus on the data access rules contained in chapters II and III and their enforcement as they have the potential to be a gamechanger in the handling of non-personal data and thus would have a profound impact on businesses.

III. IOT Data Sharing, Chapter II

Chapter II is the heart of the Data Act because it contains extensive data sharing obligations with a view to IoT products or related services between, inter alia, businesses.

Access by design

Art 3(1) Data Act stipulates that data generated using IoT products or related services shall be accessible by design: "Products shall be designed and manufactured, and related services shall be provided, in such a manner that data generated by their use are, by default, easily, securely and, where relevant and appropriate, directly accessible to the user". In addition, pursuant to Art 3(2) Data Act, users of such products or services shall be provided with the relevant information to understand the availability of the generated data.

The notion of accessibility by design is potentially far reaching, as (i) any producer of IoT products, namely, any product that "obtains, generates or collects data concerning its use or environment" (Art 2(2) Data Act), or (ii) related services, namely, any "digital service, including software, which is incorporated in or inter-connected with a product in such a way that its absence would prevent the product from performing one of its functions" must comply and ensure that easy and secure data access is possibly for the user by default. However, as of yet, the Data Act does not provide further guidance as to the conditions for a product or service to be deemed in compliance with Art 3(1) Data Act.

Despite the difficulties in determining the standard of accessibility, the obligation under Art 3(1) Data Act has the potential to transcend the Data Act. If IoT products, be it consumer or industry IoT, were accessible by design, this would also have a significant impact on data access and sharing obligations beyond the Data Act as it could reduce the practical hurdles faced, for instance, with respect to an industry 4.0 data sharing obligation under already existing Sec 20 para 1a ARC.

Access to data

Art 4 Data Act stipulates that any user of any IoT product or related service (consumer or business) has a right to access and use data generated using the IoT products or related services vis-à-vis the data holder, namely, any "legal or natural person, who has the right or obligation […] or […] through control of the technical design of the product or related service, the ability to make available certain data" (Art 2 no 6 Data Act).

Going even further, Art 5(1) Data Act stipulates that "upon request by a user, or by a party acting on behalf of a user, the data holder shall make available the data generated by the use of a product or related service to a third party." The data made available to the third party must have the same quality as is available to the data holder and, where applicable, must also be provided continuously and in real-time. In this context, it is worth noting that Art. 5(2) Data Act excludes undertakings that provide platform services which have been designated as gatekeeper under the DMA, as an eligible third party within the meaning of Article 5(1) Data Act. Accordingly, a data user could not share machine data with such undertaking under the Data Act.

The practical implications Art 4 and 5 may have on the so-called industry 4.0 are immense. Art 5 Data Act basically means that any (business) user of any IoT product, e.g., smart machinery of any kind, and (almost) any third party having the consent of said user must be given access to data that is generated by the IoT product or related service. The Commission itself flags the (obvious) relevance of the third-party data access for aftermarket situations, namely, the repair of IoT products or services like predictive maintenance (Recitals 6, 28 and Q&A Data Act).

However, the Data Act would not introduce a general right to third-party data access. Any third-party rights under Art 5 Data Act are derived from the individual IoT user. A third party would thus not be able to request non-individual data access from any producer of IoT products or provider of related services. Furthermore, the right to access under the Data Act is confined to the data itself. Non-individual data access, access to software or interoperability on a wider scale could only be requested under antitrust law or via other types of access regulation such as the DMA, provided the respective requirements are met.

In stark contrast to the broad access rights of the user and third parties, Art 4(6) and Art 5(5) Data Act would limit the data holder's own right to use generated data. Unless contractually agreed upon, the data holder would not be allowed to use non-personal data generated by using the product or related service. A highly questionable approach given the producers' need to access data to continuously improve and monitor the safety of IoT products such as autonomous vehicles or smart machinery.

IV. GENERAL OBLIGATIONS FOR DATA HOLDERS, CHAPTER III

Chapter III sets out general provisions in relation to any obligation to make data available. Such obligation may originate from the Data Act itself, namely, Art 5, or any "other Union law or national legislation implementing Union law" that comes into force after the date of application of the Data Act (Art 12(3), Art 41(2) Data Act). Against this background, the (future) reach of Chapter III may be significant.

Pursuant to Art 8(1) Data Act, a data holder who is obliged to make data available to a third party under Art 5 Data Act must apply fair, reasonable and non-discriminatory (FRAND) terms and act transparently. In addition, Art 9(1) Data Act stipulates that any compensation for access and use of data shall be reasonable, and that the data holder must provide the necessary information on the calculation so that the data recipient may assess whether the compensation is in fact reasonable (Art 9(4) Data Act). 

Art 8 and 9 Data Act build heavily on the FRAND criteria that feature prominently in the Art 102 TFEU obligations on holders of standard essential patents (SEP). Accordingly, provided the relevant provisions enter into force, there is much to be learned from antitrust law with a view to the procedural obligations as defined by the ECJ in Huawei/ZTEand further spelled out by national courts. Despite the reasonableness of referring to the FRAND criteria regarding data access in general, SEP litigation shows that perceptions of what is in fact FRAND may differ significantly.

Finally, the data access rules enshrined in Art 8 and 9 Data Act could go beyond their direct scope of application. With a view to the relevance of data access in competition law and the DMA, they may very well develop into a blueprint of how data access can be handled in a more general way.

V. ENFORCEMENT, CHAPTER IX

Public Enforcement

Pursuant to Art 31 Data Act, the Member States are responsible for the public enforcement: "Each Member State shall designate one or more competent authorities as responsible for the application and enforcement of the Data Act". The designated authorities must be equipped to levy penalties that are "effective, proportionate and dissuasive" (Art 33(1) Data Act). Beyond this general obligation, Art 33(3) Data Act defines that a violation of any obligation laid down in chapters II, III and V of the Data Act is punishable with fines in maximum amounts of EUR 20 million or 4 percent of global turnover, whichever is higher.

Private Enforcement

The Data Act does not contain a dedicated private enforcement regime. However, Art 10 Data Act envisages a dispute settlement regime that allows data holders and data recipients to settle any conflicts about data sharing or access, although decisions shall only be binding if agreed upon by the parties to the proceeding (Art 10(8) Data Act). 

Beyond that, Art 10(9) Data Act explicitly states that "[t]he Article does not affect the right […] to seek an effective remedy before a court or tribunal of a Member State". Private enforcement before national courts would thus be an option if the Data Act were to enter into force. Given the sheer quantitative relevance of the data sharing obligations laid down in chapters II and III of the Data Act, private enforcement would probably be of relevance especially in aftermarket situations.

VI. OUTLOOK

The Data Act is an important building block of the Commission's regulatory scheme for the digital economy.

While it remains to be seen how the certainly ambitious Data Act fairs in the upcoming legislative process and how much watering down will take place, the Commission appears serious about its vision of "a genuine single market for data". The Data Act has the potential to fundamentally reshape the regulatory landscape for data handling in the EU. Accordingly, companies should take a close look at the Commission's draft to assess how their business model might be – positively or negatively – affected and follow the developments closely to be prepared.

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Die „Schiedsfähigkeit“ von Beschlussmängelstreitigkeiten

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Die "Schiedsfähigkeit" von Beschluss­mängel­streitigkeiten

25. Februar 2022

Schiedsverfahren sind alternative Streitbeilegungsverfahren. Der Streit wird nicht von einem staatlichen Gericht, sondern von einem privaten Schiedsgericht entschieden. Aus vielfältigen Gründen erfreuen sich Schiedsverfahren zunehmender Beliebtheit. Dies gilt auch für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten und damit auch für gesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten. Für diese Streitigkeiten ist es wichtig, die notwendigen Anforderungen an die Schiedsvereinbarung zu beachten, die der Bundesgerichtshof in seinen Entscheidungen Schiedsfähigkeit I bis Schiedsfähigkeit III (II ZR 124/95; II ZR 255/08; I ZB 32/16) herausgearbeitet und in der Entscheidung Schiedsfähigkeit IV (I ZB 13/21) jüngst noch einmal konkretisiert hat. Der Beitrag nimmt diese jüngste Entscheidung zum Anlass, die besonderen Anforderungen an die Schiedsvereinbarung betreffend Beschlussmängelstreitigkeiten zu skizzieren und aufzuzeigen, worauf bei der Gestaltung derartiger Vereinbarungen zu achten ist.

DIE SCHIEDS­VEREINBARUNG ALS GRUNDLAGE DES SCHIEDS­VERFAHRENS

Grundlage eines jeden Schiedsverfahrens ist eine sogenannte Schiedsvereinbarung. Sie ist eine vertragliche Vereinbarung der Parteien mit dem Inhalt, im Falle des Streits über eine bestimmte Sache, diesen Streit vor einem Schiedsgericht auszutragen (§ 1029 Abs. 1 ZPO). Ist die Schiedsvereinbarung wirksam, ist der Weg zu den staatlichen Gerichten für diesen Streit grundsätzlich versperrt (§ 1032 Abs. 1 ZPO). Der Abschluss einer Schiedsvereinbarung will also gründlich überlegt sein.

Wie alle Verträge, unterliegen auch Schiedsvereinbarungen der Wirksamkeitskontrolle. Hier gilt es insbesondere zu beachten, dass Schiedsvereinbarungen den wirkungsvollen Rechtsschutz für jede Partei nicht in seiner Substanz abbedingen dürfen. So muss die Schiedsvereinbarung für jede Partei ein Mindestmaß an Rechtsschutz gewährleisten. Kontrolliert wird dies insbesondere über § 138 Abs. 1 BGB.

Nicht alle Streitigkeiten sind der Entscheidung durch Schiedsgerichte zugänglich. Der Streitgegenstand muss vielmehr schiedsfähig sein. Schiedsfähig sind alle vermögensrechtlichen Ansprüche und solche Streitgegenstände, über die die Parteien einen Vergleich schließen können (§ 1030 ZPO). Vermögensrechtlich ist ein Streitgegenstand, wenn er sich aus einem Vermögensrecht ableitet oder auf eine vermögenswerte Leistung abzielt. 

Gesellschafts­rechtliche (Beschluss­mängel-)Streitig­keiten vor Schiedsgerichten

Die Schiedsfähigkeit von gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten und die Wirksamkeit entsprechender Schiedsvereinbarungen ist allgemein anerkannt. Probleme hat seit jeher jedoch die Frage aufgeworfen, ob auch Beschlussmängelstreitigkeiten, also Streitigkeiten um die Beseitigung von seitens der Organe der Gesellschaft gefassten Beschlüssen, einer Schiedsvereinbarung zugänglich sind.

In mittlerweile vier Entscheidungen hat sich der Bundesgerichtshof mit dieser Frage in ihren verschiedenen Konturen befasst ("Schiedsfähigkeit I  IV"). Während der Bundesgerichtshof in den Entscheidungen Schiedsfähigkeit I und IImit Beschlussmängelstreitigkeiten in der GmbH befasste, betreffen die Entscheidungen Schiedsfähigkeit III und IVBeschlussmängelstreitigkeiten in Personengesellschaften. Noch nicht entschieden ist die Frage für die AG.

I. BESCHLUSS­MÄNGEL­STREITIGKEITEN IN DER GMBH(SCHIEDSFÄH­IGKEIT I UND II)

Das Aktienrecht stellt in den §§ 241 ff. AktG für Beschlussmängelstreitigkeiten verschiedene Klagearten vor den staatlichen Gerichten zur Verfügung (Anfechtungs-, Nichtigkeitsfeststellungs- oder positive Feststellungsklage). Für die GmbH gelten diese Vorschriften entsprechend.

Den Klagearten ist gemein, dass die Klage gegen die Gesellschaft, nicht gegen die Gesellschafter zu richten ist (§§ 246 Abs. 2 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG). Das Urteil in einem solchen Verfahren entfaltet Wirkung für und gegen die Gesellschaft und alle Gesellschafter, unabhängig davon, ob diese Parteien des Verfahrens waren (sog. erga-omnes-Wirkung, §§ 248 Abs. 1 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG). 

Zur Absicherung beziehungsweise Legitimation dieser erga-omnes-Wirkung müssen alle Gesellschafter Kenntnis über die Klage erhalten, damit sie Gelegenheit haben, sich als sogenannte Nebenintervenienten (§ 66 ZPO) am Verfahren zu beteiligen und auf dieses Einfluss nehmen zu können (§§ 246 Abs. 4 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG). Damit es nicht zu divergierenden Entscheidungen kommt, ist für Beschlussmängelklagen das Landgericht am Sitz der Gesellschaft ausschließlich zuständig (§§ 246 Abs. 3 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG). Sind hier mehrere, den gleichen Beschluss betreffende Klagen anhängig, so sind diese zu einem Verfahren zu verbinden (§§ 246 Abs. 3 S. 6, 249 Abs. 2 S. 1 AktG).

Ausgangspunkt aller Diskussionen um die Schiedsfähigkeit von Beschlussmängelstreitigkeiten war die Tatsache, dass einem Schiedsspruch eines privaten Schiedsgerichts diese erga-omnes-Wirkung nicht ohne weiteres zukommt und sie sich auch nicht ganz so einfach erzeugen lässt. Zwar haben Schiedssprüche gemäß § 1055 ZPO "die Wirkungen eines rechtskräftigen gerichtlichen Urteils", dies aber gemäß § 1055 ZPO nur "unter den Parteien".

Im Kern der juristischen Diskussion geht es also weniger um die (objektive) Schiedsfähigkeit des Streitgegenstands, als um die Frage, ob und wie sich die gesellschaftsrechtlichen Besonderheiten des Beschlussmängelrechts, allen voran die erga-omnes-Wirkung mit ihren sie flankierenden Absicherungen, ins Schiedsverfahrensrecht transportieren lassen.

Eine Möglichkeit, die Rechtskrafterstreckung der §§ 248 Abs. 1 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 auch im Schiedsverfahren herzustellen, ist freilich deren analoge Anwendung auf Schiedssprüche. Gerade dies hatte der Bundesgerichtshof 1996 in seiner Schiedsfähigkeit I-Entscheidung in Erwartung eines gesetzgeberischen Tätigwerdens jedoch abgelehnt. Es gab nach Auffassung des Gerichts nämlich keine tragfähige Grundlage dafür, die erga-omnes-Wirkung der §§ 248 Abs. 1 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG auf die Entscheidung eines privaten Schiedsgerichts zu übertragen.

Im Rahmen des Schiedsverfahren-Neuregelungsgesetzes (1997) spielte der Gesetzgeber den Ball ("angesichts ihrer Vielschichtigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht") an die Rechtsprechung zurück. Als die Frage 2009 erneut den Bundesgerichtshof erreichte, nahm dieser den Ball wieder auf und änderte in seiner Schiedsfähigkeit II-Entscheidung seine vorher vertretene Position. Der Bundesgerichtshof entschied nunmehr, die sich aus den §§ 248 Abs. 1 S. 1, 249 Abs. 1 S. 1 AktG ergebende erga-omnes-Wirkung nun doch analog auf Schiedssprüche anzuwenden.

Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs soll dies allerdings nur dann gelten, wenn über die Schiedsvereinbarung sichergestellt wird, dass den Gesellschaftern ein zum staatlichen Verfahren gleichwertiger Rechtsschutz zukommt und verhindert wird, dass es (durch Anwendung der erga-omnes-Wirkung) zu einer Benachteiligung einzelner Gesellschafter und/oder sich widersprechender Entscheidungen kommt. 

Dazu muss die Schiedsvereinbarung die vom Bundesgerichtshof in Schiedsfähigkeit II herausgearbeiteten konkreten Anforderungen – die sogenannten "Gleichwertigkeitskautelen" – erfüllen. Diese sind im Einzelnen:

(1) Die Schiedsvereinbarung muss mit Zustimmung aller Gesellschafter im Gesellschaftsvertrag oder in einem gesonderten Vertrag festgeschrieben werden;

(2) Alle Gesellschafter und Gesellschaftsorgane müssen über die Einleitung und den Verlauf des Schiedsverfahrens informiert und dadurch in die Lage versetzt werden, dem Verfahren zumindest als Nebenintervenient beizutreten;

(3) Alle Gesellschafter müssen an der Auswahl und Bestellung der Schiedsrichter mitwirken können, sofern nicht die Auswahl durch eine neutrale Stelle erfolgt;

(4) Alle denselben Streitgegenstand betreffenden Beschlussmängelstreitigkeiten müssen bei einem Schiedsgericht konzentriert werden.

Durch die Etablierung dieser Gleichwertigkeitskautelen schafft es der Bundesgerichtshof faktisch, die (o.g.) gesetzlichen Besonderheiten des Beschlussmängelstreits, die die Rechtskrafterstreckung der gerichtlichen Entscheidung rechtfertigen beziehungsweise absichern, im Schiedsverfahren nachzubilden. 

Einzig die dritte Gleichwertigkeitskautele (Mitwirkungsmöglichkeit aller Gesellschafter an Auswahl und Bestellung der Schiedsrichter) stellt eine Besonderheit des Schiedsverfahrens dar, in dem es den Parteien – anders als im staatlichen Verfahren – möglich ist, ihre Schiedsrichter selbst zu bestimmen. In der praktischen Umsetzung stellt sich gerade die Erfüllung dieser dritten Gleichwertigkeitskautele als besonders schwierig dar. Denn eine Standard-Schiedsvereinbarung ermöglicht die Mitwirkung von Gesellschaftern, die nicht Partei des Verfahrens sind, an der Schiedsrichterbestellung regelmäßig gerade nicht. Deshalb hat beispielsweise die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) eine eigene Muster-Schiedsklausel entworfen, die auf die "Ergänzenden Regeln für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten (DIS-ERGeS)" verweist.

Erfüllt eine Schiedsvereinbarung diese vorgenannten Gleichwertigkeitskautelen nicht, ist sie nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach § 138 BGB unwirksam (zur vertieften Lektüre siehe die sehr lesenswerte dogmatische Kritik an der Verortung in § 138 BGB bei Otto, Anforderungen an die Schiedsvereinbarung für gesellschaftsrechtliche Beschlussmängelstreitigkeiten, ZGR 2019, 1082-1121. Zu § 138 BGB als Prüfungsmaßstab im Allgemeinen siehe Pipoh, Die Struktur der Wirksamkeitskontrolle von Schiedsvereinbarungen im Spannungsfeld zwischen Schiedsverfahrensrecht, Kartellrecht und allgemeinem Zivilrecht, S. 126 ff.).

Unwirksam ist die Schiedsvereinbarung – so hat es der Bundesgerichtshof nunmehr in Schiedsfähigkeit IVentschieden – allerdings nur insoweit, als sie für Beschlussmängelstreitigkeiten gilt. Denn – so der Bundesgerichtshof – im Zweifel lasse eine Schiedsvereinbarung, die alle Streitigkeiten aus dem Gesellschaftsverhältnis umfasse, auf den Willen der Vertragsparteien schließen, im Falle ihrer Teilnichtigkeit nicht vollständig von ihr Abstand zu nehmen, sondern sie im zulässigen Umfang aufrechtzuerhalten.

II. BESCHLUSS­MÄNGEL­STREITIGKEITEN IN PERSONEN­GESELLSCHAFTEN (SCHIEDSFÄHIGKEIT III UND IV)

Während sich die Entscheidungen Schiedsfähigkeit I und Schiedsfähigkeit II auf Schiedsvereinbarungen in GmbH-Gesellschaftsverträgen bezogen, stellte sich dem Bundesgerichtshof in Schiedsfähigkeit III (2017) die analoge Frage für Schiedsvereinbarung in Personengesellschaften.

Der Bundesgerichtshof übertrug in Schiedsfähigkeit III die in Schiedsfähigkeit II entwickelten Anforderungen an eine Beschlussmängelstreitigkeiten in der GmbH betreffende Schiedsvereinbarung auf Schiedsvereinbarungen in Personengesellschaften. Begründet hat er dies damit, dass die in Schiedsfähigkeit II entwickelten Gleichwertigkeitskautelen aus den "grundlegenden Maßstäben des § 138 BGB und des Rechtsstaatsprinzips entwickelt" wurden und dass die Gesellschafter einer Personengesellschaft ebenso wie die Gesellschafter in einer GmbH vor der Entziehung des notwendigen Rechtsschutzes bewahrt werden müssten.

Übersehen hatte der Bundesgerichtshof dabei jedoch, dass die Gleichwertigkeitskautelen in Schiedsfähigkeit II zwar aus § 138 BGB und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet worden waren, sie aber maßgeblich der Absicherung und Legitimation der (analog erzeugten) erga-omnes-Wirkung der §§ 248, 249 AktG dienen. Gerade eine solche erga-omnes-Wirkung (die es analog anzuwenden gälte) gibt es im Personengesellschaftsrecht aber grundsätzlich nicht. 

Die §§ 241 ff. AktG werden im Recht der Personengesellschaften nämlich nicht entsprechend angewendet. Dort ist die Nichtigkeit fehlerhafter Beschlüsse mit der allgemeinen Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO gegenüber den die Nichtigkeit bestreitenden Gesellschaftern – und gerade nicht gegenüber der Gesellschaft – geltend zu machen. Das auf sie ergehende Urteil wirkt nur inter-partes. Deshalb wird die Klage regelmäßig gegen alle Mitgesellschafter erhoben, damit sich die Rechtskraft des Urteils auch gegenüber allen Gesellschaftern entfaltet. Das Risiko, dass Mitgesellschaftern durch einen Schiedsspruch mit erga-omnes-Wirkung Mitwirkungsrechte entzogen werden, besteht folglich im Personengesellschaftsrecht im Ausgangspunkt gar nicht.

Anders ist es nur, wenn – was seit langem anerkannt ist – im Gesellschaftsvertrag geregelt wird, dass sich die Feststellungsklage eben doch gegen die Gesellschaft (und nicht gegen die Gesellschafter) richten muss und die Gesellschafter das Urteil eines gegen die Gesellschaft geführten Beschlussmängelstreits gegen sich gelten lassen.

Für die mangelnde Berücksichtigung dieser vorgenannten personengesellschaftsrechtlichen Besonderheiten hat der Bundesgerichtshof in der Literatur viel Kritik erfahren. Ende 2021 bot sich ihm nun die Gelegenheit, die Kritik aufzugreifen und seine Rechtsprechung zu Schiedsvereinbarungen betreffend Beschlussmängelstreitigkeiten in Personengesellschaften zu konkretisieren. 

Konsequenterweise hat er dies in der Entscheidung Schiedsfähigkeit IV dahingehend getan, dass die Anforderungen an die Schiedsvereinbarung aus Schiedsfähigkeit II nur für solche Personengesellschaften gelten, bei denen der Gesellschaftsvertrag vorsieht, dass Beschlussmängelstreitigkeiten nicht unter den Gesellschaftern, sondern mit der Gesellschaft auszutragen sind. Denn – wie bereits ausgeführt – nur dort besteht die Notwendigkeit zur Absicherung und Rechtfertigung der (schuldrechtlich erzeugten) erga-omnes-Wirkung.

Enthält der Gesellschaftsvertrag eine solche Klausel indes nicht, sind Beschlussmängelstreitigkeiten also – wie gesetzlich "vorgesehen" – gegenüber den bestreitenden Gesellschaftern geltend zu machen, so bedarf es der (strengen) Anforderungen an die Schiedsvereinbarung aus Schiedsfähigkeit II nicht. Die Schiedsvereinbarung unterliegt in diesem Fall allein der allgemeinen Wirksamkeitskontrolle.

III. ÄNDERT SICH ETWAS DURCH DAS MOPEG?

Am 1. Januar 2024 tritt das Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (MoPeG) in Kraft. Es stellt sich deshalb die Frage, ob sich aufgrund dieses Gesetzes an den vom Bundesgerichtshof aufgestellten Anforderungen an Beschlussmängelstreitigkeiten in Personengesellschaften betreffende Schiedsvereinbarungen etwas ändern wird.

Mit dem MoPeG wird in den §§ 110 ff. HGB n.F. erstmals das Beschlussmängelrecht der Personenhandelsgesellschaften kodifiziert und dem für die Kapitalgesellschaften geltenden Beschlussmängelrecht der §§ 241 ff. AktG angeglichen, ohne es zu kopieren. In § 113 Abs. 2 HGB n.F. wird festgelegt, dass Beschlussmängelklagen gegen die Gesellschaft zu richten sind. Nach Abs. 6 wirkt das darauf ergehende Urteil für und gegen alle Gesellschafter, auch wenn diese nicht Partei des Verfahrens waren. So wird die zukünftige Rechtslage bei den Personenhandelsgesellschaften der bei den Kapitalgesellschaften entsprechen, die den Bundesgerichtshof in Schiedsfähigkeit II die Gleichwertigkeitskautelen als Anforderungen an die Schiedsvereinbarung aufstellen ließ. 

Mit Inkrafttreten des MoPeG zum 1. Januar 2024 wird die Geltung der Anforderungen an die Schiedsvereinbarung aus Schiedsfähigkeit II für Personenhandelsgesellschaften deshalb zum Regelfall. Nur ausnahmsweise gelten die Anforderungen nicht für solche Personenhandelsgesellschaften, die gesellschaftsvertraglich für die Beibehaltung des heutigen "Feststellungsmodells" optieren, was wohl eher selten vorkommen dürfte. 

Für die GbR, für deren Beschlussmängelrecht des MoPeG keine Änderungen bringt, bleibt es bei der heutigen Rechtslage: Die Anforderungen aus Schiedsfähigkeit II gelten, wenn der Gesellschaftsvertrag die Geltendmachung gegenüber der Gesellschaft vorsieht.

ZUSAMMEN­FASSUNG UND PRAKTISCHE HINWEISE

Festzuhalten gilt es also: Beschlussmängelstreitigkeiten in der GmbH und in Personengesellschaften können auch vor Schiedsgerichten ausgetragen werden. In der GmbH und in Personengesellschaften, bei denen die Klage gegen die Gesellschaft zu richten ist, muss die Schiedsvereinbarung die Anforderungen des Bundesgerichtshofs aus Schiedsfähigkeit II erfüllen. Tut sie das nicht, so ist sie insoweit unwirksam. 

Bestehende Gesellschaftsverträge sollten auf die Erfüllung dieser Kriterien hin überprüft werden. Noch ungeklärt ist die Lage übrigens für die Aktiengesellschaft. Hier wird bislang überwiegend schon wegen der Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) die Verankerung einer Schiedsvereinbarung für unzulässig erachtet. Insoweit besteht also noch Raum für Schiedsfähigkeit V.

Für andere Streitigkeiten der Gesellschafter untereinander oder mit der Gesellschaft gelten die Anforderungen an die Schiedsvereinbarung aus Schiedsfähigkeit II nicht. Sie können ohne Weiteres Gegenstand einer Schiedsvereinbarung sein. Das gilt übrigens auch für Organhaftungsansprüche.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Die "Schiedsfähigkeit" von Beschlussmängelstreitigkeiten

Ausgewählte Aspekte der Stellungnahme der ESMA zum geplanten Listing Act der Europäischen Kommission

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTS­ENTWICKLUNGEN

Ausgewählte Aspekte der Stellung­nahme der ESMA zum geplanten Listing Act der Euro­päischen Kommission

22. Februar 2022

  • Mit ihrem "Listing Act" verfolgt die EU-Kommission das Ziel, kleinen und mittelgroßen Unternehmen den Zugang zum Kapitalmarkt zu erleichtern. Nunmehr hat sich die ESMA im Rahmen des Konsultationsverfahrens zu einzelnen Fragen und Vorschlägen im Zusammenhang mit dem Listing Act geäußert – insbesondere zu markmissbrauchsrechtlichen Themen.
  • Die ESMA bekräftigt erneut, dass sie keinen großen Bedarf sieht, den Begriff der Insiderinformation anzupassen. Insbesondere lehnt sie die Einführung einer "Insiderinformation light" ab. Aus ihrer Sicht können auch kurzfristige Preisausschläge die Kursrelevanz begründen.
  • Auch bei weiteren Themen wie Managers' Transactions und Insiderlisten sieht die ESMA progressive Änderungsvorschläge kritisch.

Hintergrund

Die Europäische Kommission führt derzeit eine Konsultation zur Identifikation des bestehenden Anpassungsbedarfs an bereits bestehenden Rechtsakten bezüglich börsennotierter Gesellschaften (insbesondere ProspektVO, Marktmissbrauchsverordnung, MiFID II, Transparenz-RL und Listing Directive) durch. Hintergrund ist, dass insbesondere kleinen und mittelgroßen Unternehmen der Zugang zum Kapitalmarkt nachhaltig erleichtert werden soll (sog. "Listing Act").

Mit der Konsultation soll bei den Stakeholdern in Erfahrung gebracht werden, welche Anforderungen an die Börsennotierung den größten Aufwand verursachen und wie es möglich wäre, diesen ohne Beeinträchtigung der Marktintegrität zu verringern. Dabei sollen u.a. auch die Definition der Insiderinformation und die Anforderungen an die Selbstbefreiung auf den Prüfstand gestellt werden. Die ESMA hat in dem Konsultationsverfahren Mitte Februar 2022 zu dem geplanten Listing Act Stellung genommen (ESMA32-384-5357). Die Konsultationsfrist endet am 25. Februar 2022.

Dieser Blog-Beitrag fasst relevante Aussagen der ESMA zur MAR zusammen und beleuchtet diese insbesondere unter dem Blickwinkel der Emittenten. Im Anschluss wird darüber hinaus ein kurzer Ausblick gegeben.

Art. 7 MAR - Begriff der Insiderinformation

Im Rahmen der Konsultation hat sich die ESMA erneut mit der Frage beschäftigt, ob hinsichtlich des Begriffs der Insiderinformation Anpassungsbedarf besteht (vgl. dazu bereits die Äußerung zur Insiderinformation in dem ESMA-Report zum MAR-Review, S. 56). Immer wieder gibt es Stimmen, wonach die derzeitige Definition des Begriffs der Insiderinformation zu weitgehend sei; insbesondere sei es für Emittenten – so z.B. bei gestreckten Geschehensabläufen – nicht ohne Weiteres möglich, eine Insiderinformation als solche zu identifizieren. Zudem berge die jetzige Definition das Risiko, dass sich Marktteilnehmer auf eine Information stützen, die noch nicht den für eine Anlageentscheidung notwendigen Reifegrad erreicht habe:

"According to stakeholders, the current definition of inside information may raise problems, notably (i) for the issuer, the problem of identification of when the information becomes "inside information" and (ii) for the market, the risk of relying on published information which is not yet mature enough to make investment decisions."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 39.

Nichtsdestotrotz kommt die ESMA erneut zu dem Schluss, dass gegenwärtig hinsichtlich des Begriffs der Insiderinformation kein Anpassungsbedarf bestehe und bestätigt damit ihre bereits in ihrem MAR Review dargestellte Auffassung:

"ESMA, however, considers that the current definition of inside information "strikes a good balance between being sufficiently comprehensive to cater for a variety of market abuse behaviours, and sufficiently prescriptive to enable market participants, in most cases, to identify when information becomes inside information" and recommended to leave the definition unchanged."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 39.

Zugleich erklärt sie aber – wie schon im MAR Review vorgeschlagen – dass Leitlinien zu der Definition der Insiderinformation herausgeben werden könnten:

"ESMA however acknowledged that clarifications were sought by stakeholders both on the general interpretation of certain paragraphs of Article 7 of MAR (for instance, as regards intermediate steps, or the level of certainty needed to consider the information as precise), and on concrete scenarios. Therefore, ESMA stands ready to issue guidance on the definition of inside information under MAR."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 39.

Darüber hinaus weist die ESMA darauf hin, dass sie eine Anpassung der Definition des erheblichen Kursbeeinflussungspotentials als wenig zielführend erachtet. Dabei geht sie auch auf die Problematik kurzfristiger Preisausschläge versus langfristige Fundamentalwertbetroffenheit ein.

"The Commission asks whether the respondents support some proposed changes or clarifications to the current definition of "inside information" under MAR, among others, whether the definition of inside information with a significant price effect should be refined to clarify that "significant price effect" means "information a rational investor would be likely to consider relevant for the long-term fundamental value of the issuer and use as part of the basis of his or her investment decisions".

ESMA would like to stress the risks connected with such proposal.

While the proposal seems to have been designed with the public disclosure obligation in mind, one should not forget that insider dealing can also occur through use of information with a short-term price impact. Therefore, given the unique definition of inside information, the proposal would end up limiting insider dealing to information with long term effects on the price. To give an example, dividend announcements usually have a significant effect on the price of the issuer's financial instruments, without necessarily having an influence on the long-term fundamental value of the issuer."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 40.

Art. 17 Abs. 4 MAR - Aufschub der Veröffentlichung einer Insiderinformation

Emittenten können gemäß Art. 17 Abs. 4 MAR die Veröffentlichung einer Insiderinformation ausnahmsweise aufschieben, wenn (i) ein berechtigtes Aufschubinteresse und (ii) keine Irreführung der Öffentlichkeit vorliegt sowie (iii) die Vertraulichkeit der Information gewährleistet ist.

Diesbezüglich führt die ESMA aus, dass jegliche Klarstellung in Bezug auf den Aufschub der Veröffentlichung stets auch den Begriff der Insiderinformation als solche beträfe. Dennoch gestand sie bereits in ihrem Abschlussbericht zum MAR-Review zu, dass es Auslegungsprobleme bzw. Anwendungsschwierigkeiten (u.a. hinsichtlich des Merkmals der Irreführung der Öffentlichkeit) geben könne. Sie habe daher eine Überarbeitung ihrer Guidelines in Angriff genommen:

"Article 17(4) of MAR allows, under specified conditions, to delay the disclosure of inside information. The regime of delayed disclosure of inside information is intimately interconnected with the definition of inside information. Any clarifications provided on delayed disclosures would thus have de facto an impact on when the information has to be considered as inside information.

Some stakeholders underline that there are currently interpretative challenges around the conditions to delay disclosure, especially in relation to when the delay is not likely to mislead the public. ESMA in its final report acknowledged the existence of interpretative challenges, but did not consider it necessary to amend the conditions for the application of the delay finding them reasonable and aligned with the overall market abuse regime. However ESMA engaged into revising its guidelines on delay in the disclosure of inside information."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 41.

Art. 19 MAR - Managers' Transactions

Führungskräfte von Emittenten sind grundsätzlich verpflichtet, Transaktionen mit Finanzinstrumenten des Emittenten zu melden (Art. 19 Abs. 1 MAR). Die gleiche Verpflichtung trifft Personen, die mit den Führungskräften eng verbunden sind (wie zum Beispiel Ehegatten). Darüber hinaus treffen die Führungskräfte (nicht hingegen deren eng verbundene Personen) in bestimmten Zeitfenstern des Kalenderjahres (regelmäßig vor der Finanzberichterstattung) gemäß Art. 19 Abs. 11 MAR Handelsverbote (sog. Closed Periods).

Auch diesbezüglich hat sich die ESMA im Rahmen der Konsultation geäußert. Sie teilte mit, dass zwar nach der Konsultation ein Großteil der Teilnehmer der Auffassung gewesen sei, dass der derzeitige Schwellenwert von EUR 5.000 zu niedrig bemessen sei. Dennoch empfiehlt sie eine Anhebung dieses Schwellenwerts nicht. Damit widerspricht sie dem Großteil der Teilnehmer der Konsultation; auch in den Abschlussberichten der Technical Expert Stakeholder Group ("TESG") und des Capital Markets Union High-Level Forum ("CMU HLF") wurde vorgeschlagen, den Schwellenwert für Managers' Transactions zu erhöhen. Einige Aufsichtsbehörden in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Dänemark haben den Schwellenwert ohnehin bereits – wie in der MAR optional vorgesehen – auf EUR 20.000 angehoben.

Die TESG vertritt zudem die Auffassung, dass eine Liste der im Sinne des Art. 19 Abs. 1 MAR in enger Beziehung zu Führungskräften stehenden Personen obsolet sei, weil diese in keinem Verhältnis zu den möglichen Vorteilen stehe:

"Finally, the TESG holds that the requirement to keep a list of closely associated persons should be repealed, as it entails costs that are disproportionate to the benefits offered."

Final report of the Technical Expert Stakeholder Group (TESG) on SMEs, Mai 2021, S. 31.

Nach Auffassung der ESMA sei es sinnvoll, zunächst weitere Informationen darüber zu sammeln, inwieweit die gegenwärtigen Anforderungen die Emittenten belasten:

"In order for the Commission to strike the right balance between the burden associated with these requirements and the specific need for an efficient supervision of the integrity of the financial markets it is useful to gather quantitative data on how much those requirements weight on issuers."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 42.

Art. 18 MAR - Insiderlisten

Emittenten und deren Dienstleister sind nach Art. 18 Abs. 1 MAR verpflichtet, Personen mit Zugang zu Insiderinformationen in einer Insiderliste zu erfassen. Insiderlisten stellen aus Sicht der ESMA ein elementares Instrument zur Verhinderung und Aufklärung von Verstößen gegen die MAR dar.

Im Hinblick auf die Pflicht zur Führung von Insiderlisten hat die ESMA lediglich geringfügige Anpassungen der derzeitigen Regelung vorgeschlagen, da diese für die zuständigen Behörden nach wie vor ein wichtiges Instrument bei Ermittlungen wegen Marktmissbrauchs darstellen würden:

"In light of the fact that national competent authorities consider the insider lists to be a key tool in market abuse investigations, in its final report on the review of the Market Abuse Regulation, ESMA did not suggest extensive alleviations to the insiders list rules, proposing only minor adaptations to the current regime."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 46.

Auch insoweit widerspricht die ESMA der TESG, die die Kosten für das Führen der Insiderlisten als zu hoch bewertet und daher empfohlen hat, die Verpflichtung zur Führung einer Insiderliste für Emittenten mit einer Marktkapitalisierung von unter EUR 1 Mrd. aufzuheben sowie den Inhalt der Insiderlisten weiter zu vereinfachen.

Auch gegenüber einer Vereinfachung dahingehend, dass nur die für die Identifizierung "wesentlichsten Informationen" in die Insiderliste aufzunehmen sind, äußert sich die ESMA ablehnend. Sie stellt insbesondere auch fest, dass nicht eindeutig sei, worauf genau sich die Beschränkung auf die wesentlichsten Informationen bezöge:

"The Commission asks whether the insider list regime should be simplified for all issuers, "to ensure that only the most essential information for identification purposes is included".

ESMA notes that it is not clear if the concept of "most essential information" refers to a proposed subcategory of inside information, with only that one to be included in the insider list, or whether the reference is rather to the information about the persons included in the insider list, which should be limited to the most essential ones to identify them."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 46 f.

Art. 11 MAR – Market Sounding

Bereits im Jahr 2020 empfahl die ESMA in ihrem Abschlussbericht zum MAR-Review, den derzeitigen Anwendungsbereich der Market Sounding-Regelungen unverändert zu lassen. Stattdessen sollten Möglichkeiten zur Vereinfachung des Verfahrens gesucht werden. An dieser Einschätzung hält die ESMA auch heute noch fest:

"The public consultation carried out by ESMA in 2020 for the MAR review final report confirmed stakeholders' concerns on the complexity of the market sounding regime and their request to reduce the scope of the market sounding regime. Nonetheless, ESMA recommended to keep the current scope of the market sounding regime unchanged and rather look into ways to simplify the market sounding procedures (ESMA final report paragraphs 6.3.3 and ff.)."

Stellungnahme der ESMA im Konsultationsverfahren zum Listing Act (ESMA32-384-5357) S. 47.

Ausblick

Die Konsultationsfrist zum Listing Act der EU-Kommission läuft noch bis zum 25. Februar 2022. Betrachtet man die vorstehend zusammengefassten Äußerungen der ESMA, wäre es überraschend, wenn es zu umfangreichen Änderungen der MAR (Level 1) bzw. der delegierten und Durchführungsrechtsakte (Level 2) kommen wird. Die bereits angekündigten Ergänzungen der Q&As und Leitlinien zu einzelnen Bestimmungen der MAR (Level 3) dürften aber bald erfolgen.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Ausgewählte Aspekte der Stellungnahme der ESMA zum geplanten Listing Act der Europäischen Kommission

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Das Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts – ein erster Überblick

#GMW-BLOG: Aktuelle Rechtsentwicklungen

Das Gesetz zur Moder­nisierung des Personen­gesellschafts­rechts – ein erster Überblick

15. Februar 2022

In seiner Sitzung vom 24. Juni 2021 hat der Bundestag das Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (kurz: MoPeG) verabschiedet. Hiermit ist die im Koalitionsvertrag vom 7. Februar 2018 geplante Reform des Personengesellschaftsrechts in rekordverdächtiger Zeit umgesetzt und bereits am 17. August 2021 im Bundesgesetzblatt verkündet worden. Das Gesetz bringt umfassende Änderungen des Personengesellschaftsrechts mit sich und wird zum 1. Januar 2024 in Kraft treten. 

Über das Reformvorhaben und seinen Fortschritt haben wir bereits in früheren Blogbeiträgen berichtet. In einer mit diesem Beitrag beginnenden Reihe von Blogbeiträgen sollen nunmehr einzelne wesentliche Rechtsänderungen durch das MoPeG dargestellt und deren Auswirkungen auf die Praxis bewertet werden. 

Dieser Blogbeitrag gibt einen Überblick über die Entstehungsgeschichte des MoPeG und fasst – als Ausblick auf die weiteren Beiträge der Blogserie – die wichtigsten Änderungen durch das MoPeG zusammen.

I. Entstehungsgeschichte des MoPeG

Anlass der Reform durch das MoPeG ist vorrangig die Kritik der Literatur an den zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden gesetzlichen Vorschriften über die Personengesellschaften, insbesondere im Hinblick auf die GbR. Denn nach und nach definierte die Rechtsprechung die GbR entgegen ihrer gesetzlichen Regelungen als eine nach außen im Rechtsverkehr aktiv auftretende Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit. 

Grundlegend ist in diesem Zusammenhang das Urteil des BGH in Sachen "ARGE/Weißes Ross" vom 29. Januar 2001 (Az.: II ZR 331/00), mit dem er die Rechtsfähigkeit sowie die aktive und passive Parteifähigkeit der Außen-GbR anerkannte und die persönliche Haftung der Gesellschafter auf § 128 HGB analog stützte. Diese fortgeschriebene Rechtsentwicklung führte dazu, dass sich das Recht der GbR immer mehr vom geschriebenen Recht entfernte.

Um das Personengesellschaftsrecht an die geltende Rechtsprechung und Vertragspraxis anzupassen und es zu modernisieren, beauftragte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eine Expertenkommission damit, einen Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des geschriebenen Rechts an die geltende Rechtsprechung und Vertragspraxis zu erarbeiten. Entstanden ist dabei der sog. Mauracher Entwurf, welcher als wesentliche Grundlage des MoPeG diente und schließlich lediglich mit vereinzelten Änderungen beschlossen worden ist.

II. Rechtsänderungen des MoPeG

In Bezug auf das Recht der GbR bringt das MoPeG grundlegende Änderungen mit sich. Sie sollen vor allem der Konsolidierung des Rechts der GbR mit den über die Jahre entwickelten Rechtsgrundsätzen zur GbR und der Behebung ihres Publizitätsdefizits dienen.

Zudem kam es vereinzelt auch zu Rechtsänderungen im Personengesellschaftsrecht insgesamt, wovon auch die Rechtsformen der oHG und der KG betroffen sind. Ziel der Reform ist insoweit vor allem die Gewährleistung von Rechtssicherheit bei Beschlussmängelstreitigkeiten und die Flexibilisierung der Haftungsverhältnisse für Angehörige freier Berufe.

Die wichtigsten Neuerungen durch das MoPeG lassen sich wie folgt überblicksartig zusammenfassen:

1. Wesentliche Änderungen des GbR-Rechts

  • Neu ist zunächst, dass das Gesetz künftig die Rechtsfähigkeit der GbR ausdrücklich anerkennt und zwischen der rechtsfähigen und der nicht rechtsfähigen GbR unterscheiden wird. Maßgeblich für die Rechtsfähigkeit der GbR wird sein, ob die Gesellschaft nach dem gemeinsamen Willen der Gesellschafter am Rechtsverkehr teilnehmen soll. Für diese beiden Arten der GbR werden unterschiedliche Regelungsregimes gelten.
  • Als zweite große Änderung im Hinblick auf die GbR bringt das MoPeG die Möglichkeit mit sich, die GbR in ein neu gegründetes Gesellschaftsregister eintragen zu lassen. Dabei steht den Gesellschaftern grundsätzlich ein Eintragungswahlrecht zu, welches sich unter Umständen zu einer Eintragungspflicht verdichten kann – etwa, wenn die GbR Rechte an Grundstücken oder Anteile an einer GmbH erwerben möchte.
  • Künftig wird die eingetragene GbR die Möglichkeit haben, an einer Umwandlung, etwa einer Verschmelzung, einer Spaltung oder einem Formwechsel, beteiligt zu sein, wodurch die Rechtsform der GbR insgesamt verkehrsfähiger wird.

2. Neuregelungen in Bezug auf die GbR, die oHG und die KG

  • In Bezug auf die Rechtsformen der GbR, der oHG und der KG werden die Ausscheidensgründe der Gesellschafter und die Auflösungsgründe der Gesellschaft neu gefasst. Dabei werden in Bezug auf die GbR einige Auflösungsgründe zu Ausscheidensgründen, sodass diese Neuregelung den Fokus von der Personenkontinuität auf die Verbandskontinuität der GbR verlagert.
  • Die eingetragene GbR, die oHG und die KG werden künftig die Möglichkeit der freien Sitzwahl haben. Hierdurch werden sie ihren Verwaltungssitz, unabhängig von ihrem Vertragssitz, ins Ausland zu verlegen können.

3. Gesetzesanpassungen mit Bezügen zum Prozessrecht

  • Rechtsformübergreifend wird für alle Personengesellschaften des BGB und des HGB die actio pro socio gesetzlich geregelt. Diese sog. Gesellschafterklage erlaubt es den Gesellschaftern, im eigenen Namen – statt als Vertreter der Gesellschaft – deren Ansprüche gerichtlich geltend zu machen. Dies ist vor allem relevant, wenn sich der geschäftsführende Gesellschafter weigert, auf Leistung an die Gesellschaft zu klagen.
  • Eine ebenfalls wesentliche Neuregelung ist die Einführung eines Beschlussmängelrechts für die Personenhandelsgesellschaften, d.h. die oHG und die KG. Diese Regelungen werden – angelehnt an das aktienrechtliche Beschlussmängelrecht – zwischen nichtigen und anfechtbaren Gesellschafterbeschlüssen unterscheiden. Letztere werden binnen einer Frist von drei Monaten gerichtlich anzugreifen sein.

4. Besondere Änderungen betreffend die KG – insbesondere die GmbH & Co. KG

  • Das Informationsrecht der Kommanditisten wird gestärkt. Künftig steht den Kommanditisten ein erweitertes Informationsrecht unter der Voraussetzung zu, dass die Auskunft zur Wahrnehmung ihrer Mitgliedschaftsrechte erforderlich ist.
  • Eine weitere Neuerung betrifft die Simultaninsolvenz, d.h. die gleichzeitige Insolvenz sowohl der KG als auch ihres persönlich haftenden Gesellschafters. Danach scheidet der einzige persönlich haftende Gesellschafter trotz seiner Insolvenz nicht aus der KG aus, wenn auch über das Vermögen der KG ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist oder zumindest eröffnet werden könnte. Diese Änderung soll insbesondere die Sanierung einer GmbH & Co. KG bei gleichzeitiger Insolvenz der KG und ihrer Komplementär-GmbH ermöglichen.
  • Die Einheits-GmbH & Co. KG wird mit § 170 Abs. 2 HGB n.F. erstmals ausdrücklich im Gesetz erwähnt und deren Willensbildung geregelt: Künftig werden die Rechte der Kommanditgesellschaft in der Gesellschafterversammlung der Komplementär-Kapitalgesellschaft nicht von der Komplementärin, sondern von den Kommanditisten wahrgenommen. 

5. Personenhandelsgesellschaften als künftige Rechtsform für Freiberufler

Die Gesellschaftsformen der oHG und der KG werden für den Rechtsstand der freien Berufe geöffnet. Voraussetzung für die Gründung einer solchen Freiberufler-Personenhandelsgesellschaft ist, dass die jeweiligen berufsrechtlichen Bestimmungen die Eintragung zulassen. Für die Praxis relevant wird insoweit vor allem die Möglichkeit der Gründung einer GmbH & Co. KG durch Angehörige freier Berufe.

III. Handlungsbedarf in der Praxis

Das MoPeG setzt eine große Menge von Regelungsmaterien umfassend, durchdacht und strukturiert um. Gleichwohl ist im Rahmen der Reform an anderen Stellen Regelungsbedarf nicht gesehen oder es ist bewusst auf entsprechende gesetzliche Vorschriften verzichtet worden, sodass die Neuerungen durch das MoPeG bereits jetzt zu erheblichem Handlungsbedarf in Bezug auf bestehende Gesellschaften führen:

  • Regelungslücken der Reform – zum Beispiel die Beschränkung des neu eingeführten Beschlussmängelrechts auf Personenhandelsgesellschaften – sollten durch bestehende Personengesellschaften identifiziert und ihre Gesellschaftsverträge entsprechend angepasst werden. So sollten GbR beispielsweise erwägen, dieses Beschlussmängelrecht auch auf ihre Beschlüsse für anwendbar zu erklären. Zudem begnügt sich das MoPeG im Hinblick auf die nicht rechtsfähige GbR mit Verweisen auf das Recht der rechtsfähigen GbR, sodass insoweit konkrete vertragliche Regelungen getroffen werden sollten.
  • Darüber hinaus sollte untersucht werden, ob in Bezug auf bestehende GbR eine Eintragung in das Gesellschaftsregister sinnvoll ist – diese wird sich etwa insbesondere für Familienpools und vermögensverwaltende GbR anbieten. Auch wird zu prüfen sein, ob eine faktische Eintragungspflicht besteht, weil die GbR etwa Grundstücke oder Anteile an einer GmbH erwerben möchte. Konkret muss auch überlegt werden, ob und wann eine Eintragung von GbR, welche bereits solche Rechte halten, erforderlich oder sinnvoll ist.
  • Zudem sollte bereits jetzt geprüft werden, ob es gegebenenfalls vorteilhaft wäre, wenn bestehende Gesellschaften nach Inkrafttreten des MoPeG in andere Gesellschaftsformen umgewandelt würden – insbesondere angesichts der neu eingeführten Umwandlungsfähigkeit der GbR und der Möglichkeit des Betriebes einer Freiberufler-Personenhandelsgesellschaft. Insoweit werden vor allem haftungsrechtliche Gesichtspunkte zu untersuchen sein. 
  • Unter anderem in steuer- und insolvenzrechtlicher Hinsicht sollte auch die neu geschaffene Möglichkeit der freien Sitzwahl konkret in den Blick genommen werden.

Auch bei Neugründungen von Gesellschaften sollten die neuen gesetzlichen Regelungen bereits jetzt beachtet und Gesellschaftsverträge diesen entsprechend gestaltet werden, um sicherzustellen, dass zum Inkrafttreten des MoPeGkeine weiteren Anpassungen erforderlich sein werden. Hierbei werden zudem die Freiberufler-Personenhandelsgesellschaft und – wohl häufiger als vor der Reform – auch die Rechtsform der GbR in Betracht kommen, sodass diese bei Neugründungen verstärkt in den Blick zu nehmen sein werden.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Das Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts – ein erster Überblick

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Isabella Liermann-Koch

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Update zum dualen Vertrieb – Kommission legt Bewertungskonzept zum Informationsaustausch vor

#GMW-Blog: Aktuelle Rechtsentwicklung

Update zum dualen Vertrieb – Kommission legt Bewertungs­konzept zum Informations­austausch vor 

11. Februar 2022

Bereits in unseren Blogbeiträgen vom 18. November 2021 (hier) und vom 20. Januar 2022 (hier) hatten wir das in den Entwürfen der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-Leitlinien vorgestellte Bewertungskonzept der Europäischen Kommission ("Kommission") zum dualen Vertrieb kritisch diskutiert und auf bestehende Schwachstellen und Widersprüche hingewiesen. Ein wesentlicher, auch von verschiedenen weiteren Stakeholdern geäußerter Kritikpunkt betraf das fehlende Konzept zur kartellrechtlichen Bewertung des im dualen Vertrieb bis zu einem gewissen Grad unumgänglichen Informationsaustauschs. In einer Pressemitteilung vom 4. Februar 2022 (hier) hat die Kommission nunmehr bekannt gegeben, dass sie die Vertikal-Leitlinien um Ausführungen zur Bewertung des Informationsaustauschs zwischen Herstellern und Händlern im Rahmen dualer Vertriebssysteme ergänzen wird und einen entsprechenden Entwurf vorgelegt (hier). Die wesentlichen Aspekte des angedachten Konzepts haben wir im Folgenden zusammengefasst und hinsichtlich ihrer Auswirkungen in der Praxis beleuchtet.

I. Hintergrund der geplanten Ergänzung

Anlass der Initiative ist die erhebliche Kritik am bisherigen Vorschlag der Kommission. Dieser sieht bei (möglichen) Marktanteilen von über 10%, aber nicht mehr als 30% vor, dass der Informationsaustausch nicht mit freigestellt ist, sondern einer Einzelfallprüfung am Maßstab der Horizontal-Leitlinien unterzogen werden muss (vgl. Art. 2 Abs. 5 des Entwurfs der Vertikal-GVO). Hiergegen wurde zum einen vorgebracht, dass die Horizontal-Leitlinien zur Bewertung des Informationsaustauschs in der Sonderkonstellation des dualen Vertriebs (bisher) keine Hinweise enthalten, der Verweis also ins Leere geht. Zum anderen wurde konstatiert, dass es sich anbieten würde, den Informationsaustausch im dualen Vertrieb aufgrund größerer Sachnähe unmittelbar in den Vertikal-Leitlinien zu regeln (Möller/Weise, Dualer Vertrieb auf dem Prüfstand, November 2021).

Angesichts der zahlreichen Kritik hat die Kommission ein Expertengutachten zur Frage des Informationsaustauschs in dualen Vertriebssystemen in Auftrag gegeben und nunmehr einen ersten Entwurf für eine Ergänzung der Vertikal-Leitlinien vorgelegt. Dieser befindet sich noch bis zum 18. Februar 2022 in der öffentlichen Konsultation.

Ausweislich ihres Entwurfs möchte die Kommission bei der Bewertung des Informationsaustauschs im Rahmen dualer Vertriebssysteme zukünftig wie folgt vorgehen.

II. Duale Vertriebssysteme, die in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fallen

Soweit ein (nicht-wechselseitiges) duales Vertriebssystem in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fällt (Art. 2 Abs. 1 und 4 S. 2 Vertikal-GVO), soll auch der Austausch von Informationen im Rahmen dieses Vertriebssystems von der Freistellung profitieren. Voraussetzung ist, dass der konkrete Austausch erforderlich ist, um die Produktion oder den Vertrieb der Vertragswaren zu verbessern (Rn. 9). Diese Voraussetzung soll auch in der Vertikal-GVO verankert werden (Einleitung des Entwurfs).

Um die Einordnung, welche Informationen hiervon erfasst sind, zu erleichtern, hat die Kommission eine "weiße" und eine "schwarze" Liste mit Informationen, die ausgetauscht bzw. nicht ausgetauscht werden dürfen, erstellt (Rn. 13 und 14):

  • Als im Regelfall zulässig qualifiziert wird z.B. der Austausch von Informationen zur Lieferung (z.B. zur Produktion, zur Lagerhaltung etc.), Informationen zur Vermarktung (z.B. zu Werbekampagnen, neuen Produkten etc.) oder aggregierten Absatzinformationen (z.B. allgemein zum Absatz der Waren durch andere Händler).
  • Als im Regelfall nicht erforderlich angesehen wird hingegen der Austausch von Informationen zu künftigen Absatzpreisen der Händler oder des Herstellers oder der Austausch detaillierter Kundeninformationen (z.B. kundenspezifische Absatzinformationen).

Sofern Informationen ausgetauscht werden, deren Austausch nach diesen Vorgaben nicht erforderlich ist, folgt hieraus allerdings nicht unmittelbar ein Verstoß gegen das Kartellrecht. Bei einem nicht freigestellten Informationsaustausch muss vielmehr eine Einzelfallbewertung der wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen erfolgen, die sich an den allgemeinen kartellrechtlichen Maßstäben zum Informationsaustausch, u.a. der Horizontal-Leitlinien, orientiert (Rn. 15 f.).

III. Duale Vertriebssysteme, die nicht in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fallen

Soweit ein duales Vertriebssystem nicht in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fällt (z.B. bei Überschreiten der 30%-Schwellen), ist eine Einzelfallbewertung der kartellrechtlichen Zulässigkeit einschließlich des Informationsaustauschs vorzunehmen (vgl. Rn. 3).

Ob bei dieser Bewertung die skizzierte Differenzierung zwischen erforderlichen und nicht erforderlichen Informationen sowie die konkreten Beispiele herangezogen werden können, was naheliegend wäre, lässt sich dem Entwurf bisher nicht entnehmen. Der Entwurf liefert daher in der aktuellen Fassung kein abschließendes Konzept zur kartellrechtskonformen Ausgestaltung der Informationsflüsse im dualen Vertrieb. Insoweit muss die weitere Entwicklung abgewartet werden (siehe unter V.).

IV. Organisatorische Absicherung

Abschließend weist die Kommission darauf hin (Rn. 17), dass sich Unternehmen gegen das Risiko eines unzulässigen Austauschs wettbewerblich sensibler Informationen auch organisatorisch schützen können, d.h. durch eine Trennung (Chinese Walls) der verschiedenen Aktivitäten auf Seiten des Herstellers (Lieferung an Händler vs. Eigenvertrieb).

Hierin dürfte eine aus Compliance-Sicht wesentliche Stellschraube liegen, um ein duales Vertriebssystem – insbesondere bei Überschreiten der Marktanteilsschwellen der Vertikal-GVO – gegen kartellrechtliche Risiken abzusichern (dazu bereits Möller/Schulz, Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 1), Januar 2022; vgl. auch Rn. 11).

V. Einordnung und Ausblick

Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass die Kommission sich dazu entschlossen hat, die Vertikal-Leitlinien um Ausführungen zum Informationsaustausch in dualen Vertriebssystemen zu ergänzen. Der gewählte Ansatz, zwischen erforderlichen und nicht-erforderlichen Information zu differenzieren ist plausibel, die Ergänzung durch konkrete Beispiele sinnvoll. Zu bedauern ist allerdings, dass die Kommission ihre Ausführungen scheinbar auf duale Vertriebssysteme beschränkt, die in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO fallen. Es bleibt zu hoffen, dass die Kommission hier noch nachbessert und die Möglichkeit nutzt, ein über den unmittelbaren Anwendungsbereich der Vertikal-GVO hinausreichendes Konzept zur kartellrechtlichen Bewertung des Informationsaustauschs in dualen Vertriebssystemen auszuformen.

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Virtual Reality – Die virtuelle Hauptversammlung nach dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTSENTWICKLUNGEN

Virtual Reality – Die virtuelle Haupt­versammlung nach dem Referentenentwurf des Bundes­justizministeriums

10. Februar 2022

Mit dem "Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohneigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie" (COVMG) hatte der Gesetzgeber im Frühjahr 2020 erstmals eine (vorläufige) rechtliche Grundlage für die Durchführung rein virtueller Hauptversammlungen geschaffen. Aufgrund der anhaltenden pandemischen Lage wurde dieses "Notregime" anschließend mit geringen Modifizierungen mehrfach verlängert. Auf dieser Grundlage können die Aktionärstreffen nun schon im dritten Jahr in virtueller Form durchgeführt werden; allerdings läuft das Notregime am 31. August 2022 aus. Das Format der virtuellen Hauptversammlung stieß dabei in der Praxis auf derart große Zustimmung, dass der Wunsch nach einer dauerhaften Regelung immer lauter wurde.

In dieser Hinsicht ist nun ein großer Schritt getan. Das Bundesministerium der Justiz hat am 9. Februar 2022 einen entsprechenden Referentenentwurf veröffentlicht (Entwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften[1]), um die Möglichkeit zur Durchführung virtueller Hauptversammlungen dauerhaft im Aktiengesetz (AktG) zu verankern. 

Vor diesem Hintergrund gibt der vorliegende Beitrag einen ersten Überblick über die geplanten (Neu-)Regelungen.

[1] Die im Folgenden angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Entwurf.

I. Konzeptioneller Ansatz des Referentenentwurfs

Der Referentenentwurf zieht insgesamt ein positives Resümee zu den bisherigen Erfahrungen mit der virtuellen Hauptversammlung und lässt erkennen, dass er das virtuelle Format als grundsätzlich praxistauglich ansieht. Auf dieser Prämisse greift er das bisherige COVID-Notregime strukturell auf und erweitert es – insbesondere mit Blick auf die Ausübung von Aktionärsrechten – erwartungsgemäß an verschiedenen Punkten. Darüber hinaus berücksichtigt er über die Mindestanforderungen des COVMG hinausgehende Standards aus der Praxis (z.B. die Veröffentlichung von Vorstandsreden im Vorfeld der Hauptversammlung, die Möglichkeit zur Einreichung von Videobotschaften), die bislang auf freiwilliger Basis praktiziert wurden und führt diese einem rechtlichen Rahmen zu. Der Entwurf verfolgt dabei – im Einklang mit den Empfehlungen aus Wissenschaft und Praxis – insbesondere das Ziel, Informations- und Entscheidungsprozesse in das Vorfeld der Versammlung zu verlagern und hiermit eine Entzerrung des Ablaufs der Hauptversammlung zu erreichen. 

Die Präsenzversammlung nach § 118 Abs. 1 Satz 1 AktG bleibt nach dem Entwurf (zunächst) die Grundform der Hauptversammlung. Die Abhaltung einer rein virtuellen Versammlung soll jedoch als vollwertige Alternative zur Präsenzversammlung etabliert werden, die im Wege eines opt-in über eine Satzungsgrundlage gewählt werden kann (S. 13 f., 22). Kernstück des Entwurfs ist daher – der in der Systematik an § 118 AktG angelehnte – § 118a AktG-E (S. 3 f.). Danach kann die Satzung vorsehen oder den Vorstand ermächtigen vorzusehen, dass die Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre – also rein virtuell – abgehalten wird (§ 118a Abs. 1 Satz 1 AktG-E). Die fehlende physische Präsenz aller Aktionäre stellt dabei das entscheidende Merkmal dieser Versammlungsform dar. Die Grundlage in der Satzung (Satzungsregelung oder Ermächtigung des Vorstands) soll dabei auf maximal fünf Jahre befristet werden, damit die Aktionäre deren Legitimation und die wesentliche Grundentscheidung über die Art ihrer Beteiligung regelmäßig erneuern müssen (§ 118a Abs. 3 bis 5 AktG-E). 

Um den Gesellschaften die Nutzung des virtuellen Formats nahtlos zu ermöglichen, wird im EGAktG eine Übergangsregelung eingeführt, die den Vorstand ermächtigt, bis zum 31. August 2023 mit Zustimmung des Aufsichtsrats eine virtuelle Hauptversammlung nach Maßgabe der neuen Vorschriften auch ohne Satzungsermächtigung einzuberufen. Hierdurch wird sichergestellt, dass die betroffenen Gesellschaften nach dem Auslaufen des COVMG am 31. August 2022 eine entsprechende Satzungsgrundlage zur Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung schaffen können, ohne den "Umweg" über eine Präsenzhauptversammlung in der Saison 2023 nehmen zu müssen.

Erklärtes Ziel des Entwurfs ist es, den Gesellschaften künftig zwei vollwertige Versammlungsformen zur Verfügung zu stellen (S. 15, 21): Einerseits soll dies weiterhin die "klassische" Präsenzhauptversammlung sein, bei welcher der Tag der Versammlung den entscheidenden Zeitpunkt für die Ausübung einer Vielzahl von Aktionärsrechten darstellt und die ggf. um die Möglichkeit der elektronischen Teilnahme (§ 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) ergänzt werden kann. Auf der anderen Seite steht die virtuelle Hauptversammlung, bei der die Rechteausübung im Wege elektronischer Kommunikation erfolgt und zum Teil in das Vorfeld der Versammlung verlagert wird. Der Entwurf stellt dabei klar, dass die virtuelle Hauptversammlung keine "Versammlungsform zweiter Klasse" darstellt, sodass über alle Gegenstände Beschluss gefasst werden kann, die auch Gegenstand einer Präsenzveranstaltung sein können, insbesondere also auch aktien- und umwandlungsrechtliche Strukturmaßnahmen.

Von der Fortentwicklung eines Hybridmodells mit Optionen, die über die Online-Teilnahme gemäß § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG hinausgehen, sieht der Entwurf mit Verweis auf eine erhöhte Komplexität, Kostensteigerungen und potentielle Informationsasymmetrien zwischen anwesenden und elektronisch teilnehmenden Aktionären hingegen ab (S. 14). 

II. Das zukünftige Regime der virtuellen Hauptversammlung

Wie einleitend erläutert, knüpft der Referentenentwurf strukturell an das COVID-Notregime an, geht jedoch an verschiedenen Stellen über die dortigen Regelungen hinaus. Die notwendigen Voraussetzungen, unter denen die Versammlung in virtueller Form abgehalten werden kann und mit denen die Aktionärsrechte gewährleistet werden sollen, sind in § 118a Abs. 1 Satz 2 AktG-E festgelegt (ausführlich S. 22 ff.). Darüber hinaus wird mit § 130a AktG-E eine weitere Vorschrift neu eingefügt und werden weitere Regelungen für die Abhaltung von Hauptversammlungen bedarfsgerecht ergänzt. Die Ausgestaltung der Regelungen steht dabei ersichtlich unter dem Einfluss der Entwurfsziele Digitalisierung, Vorverlagerung der (Aktionärs-)Rechteausübung und Entzerrung der Versammlung (S. 14 f.).

Bild- und Tonübertragung: Nach § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG-E hat eine Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung zu erfolgen. Wie auch nach dem COVMG betrifft dies allerdings allein die Übertragung der Versammlung im Verhältnis zu den Aktionären. Inwieweit die Versammlung darüber hinaus öffentlich übertragen wird, bleibt den Gesellschaften überlassen. 

Elektronische Stimmrechtsausübung: § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AktG-E sieht vor, dass Aktionäre ihr Stimmrecht im Wege der elektronischen Kommunikation oder durch Vollmachtserteilung ausüben können müssen. Auch das entspricht der Regelung nach dem COVMG.

Antragsrecht der Aktionäre: § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG-E räumt den Aktionären das Recht ein, Anträge, die keine Gegenanträge nach § 126 AktG sind, im Wege elektronischer Kommunikation in der Versammlung zu stellen. Nach der Begründung des Referentenentwurfs (S. 23 f.) sei es zum Zwecke der Entzerrung der Versammlung sachgerecht, Gegenanträge (und Wahlvorschläge) in das Vorfeld der Versammlung zu verlagern. Die Stellung anderer Anträge, insbesondere Geschäftsordnungsanträge oder solche zur Abwahl des Versammlungsleiters, soll nach der Begründung des Entwurfs jedoch in der Versammlung möglich sein. Problematisch ist hieran, dass – anders als in einer Präsenzhauptversammlung – nur eine verschwindend geringe Anzahl von Aktionären ihr Stimmrecht inder Hauptversammlung ausüben und daher über solche Ad-hoc-Anträge abstimmen wird. Insbesondere die von der Gesellschaft benannten Stimmrechtsvertreter üben das Stimmrecht nur auf der Grundlage entsprechender Weisungen aus. Dies kann in einigen Konstellationen dazu führen, dass solche Anträge auf Basis nur sehr weniger Stimmen der (anwesenden) Minderheit Erfolg haben können. Hierin liegt ein erhebliches Missbrauchspotenzial, das der Entwurf im Hinblick auf die Stellung von Gegenanträgen gesehen und durch die Neuregelung des § 126 Abs. 4 AktG-E gelöst, an dieser Stelle jedoch nicht berücksichtigt hat (vgl. dazu noch unten). Im Hinblick auf § 118 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG-E besteht daher Nachbesserungsbedarf. 

Auskunftsrecht der Aktionäre: Die vierte Voraussetzung zur Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung ist nach § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG-E die Gewährleistung eines Auskunftsrechts der Aktionäre nach § 131 AktG im Wege der elektronischen Kommunikation. Damit wird eines der wesentlichsten Aktionärsrechte im Vergleich zu § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 COVMG erweitert. Dieser gewährt derzeit lediglich ein Fragerecht der Aktionäre, welches dem Auskunftsrecht nach § 131 AktG wegen des Vorstandsermessens im Hinblick auf die Art und Weise der Fragenbeantwortung nicht völlig gleichsteht. Korrespondierend werden für die virtuelle Hauptversammlung in § 131 AktG die neuen Absätze 1a bis 1d eingefügt. Die Regelung in Abs. 1a gibt dem Vorstand die Möglichkeit, in der Einberufung festzulegen, dass Fragen der Aktionäre bis spätestens vier Tage vor der Versammlung eingereicht werden müssen. Gegenüber dem derzeit geltenden COVID-Regime stellt dies eine Verlängerung der Vorbereitungszeit für die Gesellschaften von einem auf vier Tage dar. Dies beruht insbesondere auf den Erkenntnissen aus den virtuellen Hauptversammlungen auf Basis des COVMG, dass die Qualität der Antworten der Verwaltung mit zunehmender Vorbereitungszeit steigt. Der Umfang der Einreichung von Fragen kann in der Einberufung beschränkt werden (vgl. Abs. 1b). Im Lichte der beabsichtigten Versammlungsentzerrung ist auch die Reglung des Abs. 1c zu betrachten. Danach hat die Gesellschaft fristgerecht eingereichte Fragen bereits vor der Versammlung allen Aktionären zugänglich zu machen. Eine vollständige Vorverlagerung findet jedoch nicht statt, da Abs. 1d denjenigen Aktionären, die vorab nach Abs. 1a Satz 1 Fragen eingereicht haben, in der Versammlung ein Nachfragerecht zu den dort gegebenen Antworten einräumt. Erstmalige oder gänzlich neue Fragen wird es im Falle der Vorabeinreichung von Fragen in der virtuellen Hauptversammlung jedoch nicht geben. Allerdings dürften Abgrenzungsschwierigkeiten hier vorprogrammiert sein. Zudem stellt der Entwurf klar, dass Beschränkungen dieses Nachfragerechts auf Grundlage des § 131 Abs. 2 Satz 2 AktG möglich sind, sodass es keiner zusätzlichen Regelung bedarf. § 131 Abs. 5 Satz 2 AktG-E sieht schließlich vor, dass es dem elektronisch zugeschalteten Aktionär auch im Wege der elektronischen Kommunikation möglich sein muss, die Aufnahme einer Auskunftsverweigerung in die Niederschrift zu verlangen. 

Bericht des Vorstands: § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AktG-E normiert eine Neuerung zur bisherigen Systematik der (Präsenz-)Hauptversammlung. Nach der Vorschrift ist der Bericht des Vorstands oder dessen wesentlicher Inhalt den Aktionären bis spätestens sechs Tage vor der Versammlung zugänglich zu machen. Hiermit wird die bisherige Praxis vieler Gesellschaften aufgegriffen, die eine solche Veröffentlichung bislang auf freiwilliger Basis vornahmen. Die Regelung korrespondiert zudem mit der zuvor beschriebenen Ausweitung der Zeitspanne für die Fragenbeantwortung und der entsprechenden Frist für die Anmeldung von Redebeiträgen (siehe unten). Den Aktionären soll durch die frühzeitige Veröffentlichung des Vorstandsberichts insbesondere die Möglichkeit gegeben werden, spezifische Fragen zu dessen Inhalt noch fristgerecht stellen zu können. 

Stellungnahmen der Aktionäre: Auch § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 AktG-E greift die bisherige Vorgehensweise der Praxis auf und schafft über den Verweis auf § 130a Abs. 1 bis 3 und 8 AktG-E ein Recht für die Aktionäre, Stellungnahmen im Wege der elektronischen Kommunikation (z.B. in Textform oder per Videobotschaft) bis spätestens vier Tage vor der Versammlung an die Gesellschaft zu übermitteln, die allen Aktionären zugänglich zu machen sind. Hierdurch soll das Rederecht teilweise in das Vorfeld der Hauptversammlung verlagert und die Hauptversammlung weiter entzerrt werden. Der neue § 130a AktG-E (vgl. S. 31 ff.) regelt das Recht zur Stellungnahme der Aktionäre sowie deren Redemöglichkeit (dazu sogleich) und passt die Rechte an die Besonderheiten der virtuellen Versammlung an. 

Redemöglichkeit: § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 AktG-E räumt den Aktionären über den Verweis auf § 130a Abs. 4 bis 8 AktG-E eine Redemöglichkeit in der Versammlung im Wege der Videokommunikation ein. Ein solches "Live-Rederecht" ist von Gesellschaften bislang nur ganz vereinzelt gewährt worden. Damit soll die Interaktion zwischen Aktionären und Verwaltung in der Hauptversammlung verbessert und sichergestellt werden, dass eine direkte Ansprache der Aktionäre an die Verwaltung auch in der virtuellen Hauptversammlung möglich bleibt und nicht der Eindruck entsteht, der Ablauf virtueller Hauptversammlungen stünde von Beginn an fest. Um diese Redemöglichkeit wahrzunehmen, ist eine spezielle Anmeldung erforderlich, die spätestens vier Tage vor der Versammlung zu erfolgen hat. Gleichzeitig stellt der Entwurf ebenfalls klar, dass das Recht auch in der virtuellen Hauptversammlung nicht uferlos gilt. So kann die Gesellschaft einen angemessenen Gesamtzeitraum und eine angemessene Anzahl der Redebeiträge festlegen und die Anmeldung von Redebeiträgen auf ordnungsgemäß zur Versammlung angemeldete Aktionäre beschränken. Auch dürfen Fragen und Nachfragen nach § 131 AktG nicht in einem Redebeitrag gestellt werden. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die Gesellschaften vor dem Hintergrund steigender Teilnehmerzahlen einen rechtssicheren Rahmen haben, innerhalb dessen sie die Redemöglichkeit auf der Versammlung praxistauglich handhaben können. Zudem stellt der Entwurf klar, dass Beschränkungen des Rederechts auf Basis des bereits vorhandenen § 131 Abs. 2 Satz 2 AktG vorgenommen werden können. Die Redemöglichkeit aus § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 AktG-E und die Möglichkeit zur Stellungnahme aus § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 AktG-E schließen sich nicht aus. Der Aktionär hat vielmehr die Wahl, welche seiner Rechte er wahrnehmen will, wobei auch eine kumulative Ausübung möglich ist.

Elektronische Widerspruchsmöglichkeit: Den Aktionären muss gemäß § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 AktG-E – wie nach dem COVMG – eine Widerspruchsmöglichkeit gegen Hauptversammlungsbeschlüsse im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt werden. Der Widerspruch muss während der Versammlung eingelegt werden. 

Anwesende Personen: Gemäß § 118a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 AktG-E ist die physische Anwesenheit der Mitglieder des Vorstands, des Aufsichtsrats (vorbehaltlich einer Satzungsregelung gemäß § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG) und des Versammlungsleiters erforderlich. Ebenfalls erforderlich ist die physische Anwesenheit des Notars. Dies stellt § 130 Abs. 1a AktG-E sowohl für die virtuelle als auch für die Präsenzhauptversammlung klar. Die Stimmrechtsvertreter können gemäß § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG-E anwesend sein. Insoweit folgt der Entwurf der bisherigen Handhabung in der Praxis. 

Gegenanträge: § 126 Abs. 4 AktG-E greift die von der Praxis entwickelte Fiktionslösung auf, die in einer Revision auch Eingang in das COVMG gefunden hatte, und erweitert sie. Danach gelten (Gegen-)Anträge von Aktionären de lege ferenda ab dem Zeitpunkt der Zugänglichmachung nach § 126 Abs. 1 bis 3 AktG als gestellt. Neu ist die Verpflichtung, dass ab diesem Zeitpunkt auch eine Abstimmung über solche Anträge möglich sein und die Gesellschaft sie in ihr elektronisches Abstimmungssystem einstellen muss (vgl. S. 29). Dies entspricht der bisherigen Praxis, die hierfür die sog. "Buchstaben-Anträge" vorsieht. Mit der Neuregelung weicht der Referentenentwurf von dem zweistufigen Verfahren für Präsenzhauptversammlungen ab, wonach über einen Antrag in der Versammlung nur dann abgestimmt wird, wenn er auch in der Versammlung selbst gestellt wird. Im Gegenteil wird für virtuelle Versammlungen der Grundsatz etabliert, dass Gegenanträge in der Versammlung nicht mehr gestellt werden können. Durch diese Regelung will der Gesetzgeber verhindern, dass sich andernfalls bei spontan gestellten Anträgen Minderheiten in Mehrheiten verwandeln. Wie oben erwähnt besteht diese Gefahr nun allerdings bei Anträgen zur Geschäftsordnung, die nach dem Referentenentwurf auch in der Versammlung möglich sein sollen.

Anfechtungsrecht: Die Anpassungen § 243 Abs. 3 AktG sollen vor allem sicherstellen, dass die Gesellschaften nicht aus Sorge vor technischen Problemen von der Abhaltung virtueller Hauptversammlungen absehen. Der Entwurf stellt in dieser Hinsicht insbesondere klar, dass eine technische Störung generell keinen Anfechtungsgrund mehr darstellen soll, da ein solches Risiko der Form der virtuellen Hauptversammlung immanent ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Gesellschaft grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorzuwerfen ist. Im Übrigen bleibt es bei dem Anfechtungsregime, das auch für Beschlüsse gilt, die in Präsenzhauptversammlungen gefasst werden. Gegenüber dem derzeit geltenden COVID-Regime liegt hierin eine – erwartete – Stärkung des Anfechtungsrechts, das im Hinblick auf die Gewährleistung des Teilnahmerechts durch § 1 Abs. 7 COVMG weitgehend auf eine Anfechtung von vorsätzlichen Verstößen beschränkt war.

Über die beschriebenen Aspekte hinaus enthält der Referentenentwurf zudem eine Vielzahl an Einzelregelungen mit klarstellenden Aspekten zur virtuellen Hauptversammlung. Das betrifft beispielsweise Regelungen zum Ort der Versammlung (§ 121 Abs. 4b AktG-E), zur Führung des Teilnehmerverzeichnisses (§ 129 Abs. 1 Satz 3 AktG-E) sowie Folgeänderungen bei den Nichtigkeitsgründen und der Anfechtungsbefugnis.

III. Fazit und Ausblick

Die Regelungen des Referentenentwurfs stellen sich in der Gesamtschau als gelungen dar. Auf der einen Seite werden die praktischen Erfahrungen der pandemiebedingt virtuell durchgeführten Hauptversammlungen aufgegriffen und in den entsprechenden Regelungen berücksichtigt. Gleichzeitig verliert der Entwurf die Aktionärsrechte nicht aus dem Blick. Kleinere Unstimmigkeiten wie die problematische Regelung in § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AktG-E können noch im Gesetzgebungsverfahren behoben werden. 

Mit Blick auf die Übergangsregelung im EGAktG ist zu erwarten, dass eine Vielzahl von Gesellschaften vermutlich nicht mehr zur Präsenzhauptversammlung zurückkehren wird. Die virtuelle Hauptversammlung dürfte somit zeitnah zur "Virtual Reality" werden. Bei den Unternehmen wird dies sicherlich auf Zustimmung stoßen.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Virtual Reality – Die virtuelle Hauptversammlung nach dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums 

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Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 3)

#GMW-BLOG: AKTUELLE RECHTSENTWICKLUNGEN

Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 3)

4. Februar 2022

Dieser Beitrag bezieht sich auf die Entwurfsfassung der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL. Eine Übersicht zur finalen Fassung findet sich hier.

Am 1. Juni 2022 treten die überarbeitete Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) sowie die dazugehörigen Vertikal-Leitlinien (Vertikal-LL) der Europäischen Kommission (Kommission) in Kraft. Sie ersetzen die aktuellen Fassungen der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL, die zum 31. Mai 2022 auslaufen und nicht nur aufgrund der zunehmenden Digitalisierung dringend reformbedürftig sind.

In diesem Rahmen hat die Kommission Anfang Juli 2021 im Anschluss an ihre bereits 2018 begonnene Evaluation des geltenden Regelwerks Entwürfe für eine neue Vertikal-GVO (Vertikal-GVO-E) bzw. neue Vertikal-LL (Vertikal-LL-E) vorgelegt und interessierten Dritten bis zum 17. September 2021 die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt, wovon u.a. Unternehmen, nationale Wettbewerbsbehörden und Verbände regen Gebrauch gemacht haben. Im November 2021 veröffentlichte die Kommission schließlich eine Zusammenfassung der eingegangenen Stellungnahmen, auf deren Grundlage sie ihre bisherigen Entwürfe abschließend evaluiert und ggf. auch noch Änderungen vornimmt. Die Veröffentlichung der finalen Fassungen der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL ist für das zweite Quartal 2022 angekündigt.

Die bis zur Veröffentlichung der finalen Dokumente und dem Inkrafttreten der neuen Regelungen verbleibende Atempause nutzen wir, um die praktisch wichtigsten Themen, die die Konsultation sowie die öffentliche Diskussion in den vergangenen Monaten bestimmt haben und die Unternehmen in den nächsten Jahren maßgeblich beschäftigen werden, noch einmal aufzuarbeiten. Dabei werfen wir an geeigneter Stelle auch einen Blick in die Glaskugel und überlegen, welche Regelungen es voraussichtlich in die endgültigen Fassungen schaffen werden. 

Der Beitrag besteht aus drei Teilen. Der erste Teil, der hier abrufbar ist, beleuchtet die Neuerungen beim dualen Vertrieb sowie dem Handelsvertreterprivileg, während der zweite Teil, der hier abrufbar ist, sich dem aktuellen Stand beim Online-Vertrieb widmet. Der vorliegende und abschließende dritte Teil nimmt weitere, praktisch relevante Entwicklungen in den Bereichen Preisbindung der zweiten Hand, Alleinvertrieb und Wettbewerbsverbote in den Blick.

V. Preisbindungen der zweiten Hand

Preisbindungen der zweiten Hand werden wie bisher – unabhängig vom gewählten Vertriebssystem – als unzulässige Kernbeschränkungen eingeordnet. Abgesehen von unverbindlichen Preisempfehlungen und Höchstpreisen ist eine Einflussnahme des Herstellers auf die Preissetzungshoheit der Händler auch zukünftig unzulässig, wobei die Kommission aber praktisch relevante Feinjustierungen vornimmt.

Fulfillment Contracts

Von Unsicherheiten geprägt war bisher die Preissetzung im Rahmen sog. Fulfillment Contracts, wonach ein (Zwischen-)Händler einen bereits zwischen einem Anbieter und einem Kunden verhandelten Vertrag zu vorgegebenen Konditionen (z.B. zu fest vereinbarten Sonderpreisen) ausführt. Auch bislang sprachen bereits sehr gute Argumente dagegen, die in solchen Situationen anzutreffende Vorgabe an den (Zwischen-)Händler, zu den bereits verhandelten Konditionen zu liefern, als Preisbindung der zweiten Hand einzuordnen. Dennoch ist die jetzt vorgenommene Konkretisierung durch die Kommission willkommen. Diese stellt nunmehr klar, dass eine Preisbindung der zweiten Hand in der beschriebenen Konstellation jedenfalls dann nicht vorliegt, wenn der Kunde auf die Auswahl des erfüllenden Unternehmens verzichtet hat (Vertikal-LL-E, Rn. 178).

In der Konsultation wurde die Klarstellung zu Fulfillment Contracts ganz überwiegend positiv aufgenommen, wenngleich Konkretisierungen einzelner Punkte bzw. eine Ausweitung des Konzepts gefordert wurden (z.B. für den Fall, dass der Kunde nicht ausdrücklich auf die Auswahl des erfüllenden Unternehmens verzichtet). Es bleibt abzuwarten, ob die Kommission diesem Wunsch nachkommt.

Minimum Advertised Prices

Eine weitere Klarstellung in den Entwürfen betrifft sog. Minimum Advertised Prices (MAP), mit denen Hersteller es ihren Händlern untersagen, Preise unterhalb eines bestimmten Betrags zu bewerben. Dem Händler bleibt es in dieser Konstellation jedoch unbenommen, die Verkaufspreise frei zu setzen. Unter der bisher geltenden Vertikal-GVO ging man überwiegend davon aus, dass Vorgaben zu MAP als unzulässige Preisbindung der zweiten Hand anzusehen sind.

Der Leitlinien-Entwurf stellt nunmehr (überraschend) klar, dass reine MAP zulässig sein können, sofern sie nicht faktisch auf eine Preisbindung der zweiten Hand hinauslaufen. Entscheidend ist nach Auffassung der Kommission wohl, dass der Händler tatsächlich frei bleibt, die Produkte zu Preisen unterhalb der MAP zu verkaufen. Ihm dürfen daher z.B. keine Nachteile bei einem Unterschreiten der MAP drohen (Vertikal-LL-E, Rn. 174).

In der Konsultation wurde die (neue) Bewertung von MAP häufig aufgegriffen und überwiegend kritisch gesehen. Insbesondere Verbraucherverbände und nationale Wettbewerbsbehörden, darunter das Bundeskartellamt, haben sich dafür ausgesprochen, die bisherige Gleichsetzung von MAP und Preisbindungen der zweiten Hand beizubehalten und dies in den Vertikal-LL klarzustellen. Angesichts der erheblichen Kritik erscheint es möglich, dass die Kommission die Ausführungen zu MAP noch anpasst.

Selbst wenn die Kommission ihren Standpunkt beibehält, sollten MAP angesichts der kritischen Nähe zu verbotenen Mindestpreisen und der schwierigen Abgrenzung, wann Mindestwerbepreise in eine Preisbindung der zweiten Hand umschlagen (z.B. bei Werbung im Ladenlokal oder auf der Internetseite selbst), nur nach sorgfältiger Prüfung eingesetzt werden. Dabei wird wohl auch zu berücksichtigen sein, dass sich das Bundeskartellamt in der Konsultation ausgesprochen kritisch geäußert hat und MAP daher im Einzelfall sorgfältig auf ihre Auswirkungen prüfen wird.

VI. ALLEINVERTRIEB, SELEKTIVER VERTRIEB UND FREIER VERTRIEB

Auch beim Alleinvertrieb, selektiven Vertrieb und freien Vertrieb finden sich praktisch relevante Neuerungen in den Entwürfen:

Allgemeine Änderungen

Zunächst erweitert die Kommission die Möglichkeiten zur Kombination der unterschiedlichen Vertriebssysteme. Ausdrücklich zulässig soll zukünftig – anders als nach der bisherigen Rechtslage – die Kombination von Allein- und Selektivvertrieb sowie freiem Vertrieb in unterschiedlichen Gebieten sein:

  • Gebiete, in denen ein Alleinvertrieb vorgesehen ist, können gegen aktive Lieferungen aus Gebieten mit einem selektiven oder freien Vertrieb geschützt werden (Art. 4 lit. b) (i), c) (i), d) (i) Vertikal-GVO-E).
  • Gebiete, in denen ein selektiver Vertrieb vorgesehen ist, können gegen aktive und passive Lieferungen aus anderen Vertriebsgebieten an nicht-zugelassene Händler geschützt werden (Art. 4 lit. b) (ii), c) (i), d) (ii) Vertikal-GVO-E).

Erweiterte Möglichkeiten soll es zukünftig auch in mehrstufigen Vertriebsstrukturen geben. Während nach der bisherigen Rechtslage die Verpflichtung der Großhändler zur Weitergabe von Verkaufsbeschränkungen an ihre Abnehmer (=Einzelhändler) unzulässig war, erachtet die Kommission diesen Ansatz nun als zu restriktiv. Nach der neuen Vertikal-GVO bestünde die Möglichkeit, Verkaufsbeschränkungen an Unternehmen auf der nachgelagerten Marktstufe zum Schutz von Allein- und selektivem Vertrieb weiterzugeben (Art. 4 lit. b) (i, ii), c (i), d (i, ii) Vertikal-GVO-E; Vertikal-LL-E, Rn. 206).

Die vorgesehenen, erweiterten Möglichkeiten zur Ausgestaltung verschiedener (mehrstufiger) Vertriebssysteme sind insgesamt sinnvoll und wurden auch in der Konsultation überwiegend positiv aufgenommen. Gleichwohl sind sie in der Umsetzung kompliziert. Unternehmen, die von den neu gewonnenen Freiheiten Gebrauch machen wollen, werden um eine detaillierte Prüfung daher nicht herumkommen.

Alleinvertrieb

Beim Alleinvertrieb soll künftig – anders als nach der bisher geltenden Rechtslage – ein sog. geteilter Alleinvertrieb bzw. Gruppen-Alleinvertrieb zulässig sein. Dies bedeutet, dass eine Kundengruppe oder ein Gebiet mehreren Händlern zugleich exklusiv zugewiesen werden kann. Voraussetzung ist lediglich, dass die Anzahl der Händler im Verhältnis zum zugewiesenen Gebiet bzw. zur zugewiesenen Kundengruppe sachgerecht begrenzt wird. Die Anzahl der zugelassenen Händler muss in einem angemessenen Verhältnis zum gewünschten Investitionsverhalten stehen, um sicherzustellen, dass auf jeden Händler ein ausreichendes Geschäftsvolumen entfällt (Art. 4 lit. b) (i), c) (i), d) (i) Vertikal-GVO-E; Vertikal-LL-E, Rn. 100 ff.).

Die Erweiterung der Möglichkeiten zum Alleinvertrieb ist zu begrüßen, erlaubt sie doch der Praxis ein gewisses Maß an Flexibilität bei der (vorübergehenden) Einbindung zusätzlicher Händler, die bislang die Freistellungsfähigkeit des gesamten Alleinvertriebssystems gefährdete. Abzuwarten bleibt, wie (streng) die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden die quantitative Begrenzung ("begrenzte Anzahl Abnehmer") handhaben werden. In der Konsultation waren die Reaktionen auf die geplante Erweiterung in der Sache gemischt. Übergreifend wurden jedoch weitere Hinweise zur Festlegung der noch zulässigen Anzahl von Abnehmern angemahnt.

Positiv ist schließlich, dass die Kommission vom Kriterium eines lückenlosen Schutzes des Alleinvertriebssystems abrückt. Bisher waren Beschränkungen des aktiven Verkaufs zugunsten von Alleinvertriebshändlern nur dann freigestellt, wenn entsprechende Vorgaben lückenlos allen Händlern des Systems auferlegt wurden, was praktisch schwer erreichbar war. In den überarbeiteten Vertikal-LL fordert die Kommission nunmehr lediglich einen "angemessenen" Schutz vor aktivem Verkauf durch andere Mitglieder des Vertriebssystems und stellt den Entzug der Freistellung in Aussicht, sofern ein solcher nicht gegeben ist (Vertikal-LL-E, Rn. 205).

Selektiver Vertrieb

Zur Streichung des Äquivalenzprinzips siehe Teil 2.

VII. WETTBEWERBSVERBOTE (EVERGREEN-KLAUSELN)

Aus Praxissicht zu begrüßen ist schließlich die Flexibilisierung bei der Gestaltung von Wettbewerbsverboten (Art. 5 Abs. 1 lit. a Vertikal-GVO-E). Bisher konnten Wettbewerbsverbote nur wirksam vereinbart werden, wenn ihre Laufzeit auf maximal 5 Jahre befristet war. Wettbewerbsverbote, die sich nach 5 Jahren automatisch verlängerten, waren auch dann unwirksam, wenn dem Abnehmer ein Kündigungsrecht zustand. In der Praxis führte dies dazu, dass entweder der gesamte Vertrag oder das Wettbewerbsverbot auf 5 Jahre befristet werden musste.

Diese Notwendigkeit zur Befristung wird nunmehr abgemildert. Nach Auffassung der Kommission soll eine automatische Verlängerung des Wettbewerbsverbots nach 5 Jahren zukünftig zulässig sein, sofern dem Abnehmer die Möglichkeit eröffnet wird, das Wettbewerbsverbot nach Ablauf der fünf Jahre effektiv, d.h. innerhalb angemessener Fristen und zu angemessenen Kosten, neu zu verhandeln oder zu kündigen. Für die "Effektivität" des Kündigungs- oder Verhandlungsrechts soll eine wirtschaftliche Gesamtbetrachtung maßgeblich sein, die vor allem etwaige Beendigungshindernisse (z.B. Bindung an Darlehen) berücksichtigt (Vertikal-LL-E, Rn. 234).

In der Konsultation ist die Anpassung überwiegend positiv aufgenommen worden, sodass in der Sache keine Änderungen zu erwarten sind.

VIII. Fazit

Die Analyse zeigt, dass sich die Kommission in ihren Entwürfen nicht auf eine Feinjustierung einzelner Aspekte beschränkt, sondern sich bemüht hat, praktisch relevante Änderungen anzustoßen und erkannte Defizite in den bisherigen Vorschriften und Leitlinien abzustellen. Viele Ansätze der Kommission sind ausdrücklich zu begrüßen, wenngleich nicht alles gelingt und – vermeidbare – Unsicherheiten verbleiben. Insoweit bleibt abzuwarten, welche Anpassungen die Kommission in Ansehung der vielfältigen Eingaben im Rahmen der Konsultation noch vornimmt. Aus Sicht der Praxis wird darüber hinaus entscheidend sein, wie die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte, allen voran das Bundeskartellamt, die neuen Vorgaben auslegen und anwenden werden.

Sicher ist jedenfalls, dass die überarbeitete Vertikal-GVO sowie die Vertikal-LL die vertriebskartellrechtliche Praxis für die Dauer ihrer Geltung – aktuell der häufig als zu lang kritisierte Zeitraum bis zum 31. Mai 2034 – maßgeblich prägen werden. Viele Unternehmen werden ihre aktuellen Vertriebssysteme auf den Prüfstand stellen müssen.

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 3)

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Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 2)

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Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 2)

27. Januar 2022

Dieser Beitrag bezieht sich auf die Entwurfsfassung der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL. Eine Übersicht zur finalen Fassung findet sich hier.

Am 1. Juni 2022 treten die überarbeitete Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) sowie die dazugehörigen Vertikal-Leitlinien (Vertikal-LL) der Europäischen Kommission (Kommission) in Kraft. Sie ersetzen die aktuellen Fassungen der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL, die zum 31. Mai 2022 auslaufen und nicht nur aufgrund der zunehmenden Digitalisierung dringend reformbedürftig sind.

In diesem Rahmen hat die Kommission Anfang Juli 2021 im Anschluss an ihre bereits 2018 begonnene Evaluation des geltenden Regelwerks Entwürfe für eine neue Vertikal-GVO (Vertikal-GVO-E) bzw. neue Vertikal-LL (Vertikal-LL-E) vorgelegt und interessierten Dritten bis zum 17. September 2021 die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt, wovon u.a. Unternehmen, nationale Wettbewerbsbehörden und Verbände regen Gebrauch gemacht haben. Im November 2021 veröffentlichte die Kommission schließlich eine Zusammenfassung der eingegangenen Stellungnahmen, auf deren Grundlage sie ihre bisherigen Entwürfe abschließend evaluiert und ggf. auch noch Änderungen vornimmt. Die Veröffentlichung der finalen Fassungen der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL ist für das zweite Quartal 2022 angekündigt.

Die bis zur Veröffentlichung der finalen Dokumente und dem Inkrafttreten der neuen Regelungen verbleibende Atempause nutzen wir, um die praktisch wichtigsten Themen, die die Konsultation sowie die öffentliche Diskussion in den vergangenen Monaten bestimmt haben und die Unternehmen in den nächsten Jahren maßgeblich beschäftigen werden, noch einmal aufzuarbeiten. Dabei werfen wir an geeigneter Stelle auch einen Blick in die Glaskugel und überlegen, welche Regelungen es voraussichtlich in die endgültigen Fassungen schaffen werden. 

Der Beitrag besteht aus drei Teilen. Der erste Teil beleuchtet die Neuerungen beim dualen Vertrieb sowie dem Handelsvertreterprivileg und ist hier abrufbar. Der vorliegende zweite Teil widmet sich den Themen rund um den Online-Vertrieb, bevor der abschließende dritte Teil weitere, praktisch relevante Entwicklungen in den Bereichen Preisbindung der zweiten Hand, Alleinvertrieb und Wettbewerbsverbote in den Blick nimmt.

IV. Online-Vertrieb

Aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Online-Handels, insbesondere der sog. Plattformwirtschaft (z.B. der Amazon Marktplatz), hat sich die Kommission veranlasst gesehen, diesen Bereich im Entwurf der Vertikal-GVO und der Vertikal-LL unter Einbeziehung der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung umfassender zu adressieren.

Dabei folgt die Kommission bei ihrer Bewertung etwaiger Vorgaben für den Online-Vertrieb dem übergeordneten Grundsatz, dass es dem Hersteller – unabhängig vom gewählten Vertriebssystem – zwar gestattet ist, die Modalitäten des Online-Vertriebs seiner Produkte festzulegen, der Internetvertrieb als solcher aber dadurch nicht, auch nicht de facto, verhindert oder erheblich eingeschränkt werden darf (Vertikal-LL-E, Rn. 188 ff.).

Praktische Bedeutung erlangt der skizzierte Grundsatz insbesondere bei den folgenden Themenbereichen:

Doppelpreissysteme

Eine Konstellation, die die Kommission im Entwurf der neuen Vertikal-LL großzügiger beurteilt, sind sog. Doppelpreissysteme, bei denen Hersteller die ihren Händlern gewährten Großhandelskonditionen vom Absatzweg (offline/online) abhängig machen (z.B. unterschiedliche Preise, Differenzierung bei der Rabattgewährung oder bei Zuschüssen etc.).

Doppelpreissysteme wurden wegen der darin liegenden Benachteiligung des Online-Vertriebs bisher grundsätzlich als unzulässige Kernbeschränkungen angesehen. Zulässig sollten – jenseits der theoretisch denkbaren Einzelfreistellung – lediglich sog. Fixkostenzuschüsse sein, mit denen etwaige höhere Kosten des stationären Vertriebs ausgeglichen wurden.

In ihrem Entwurf verfolgt die Kommission einen deutlich großzügigeren Ansatz, wonach Doppelpreissysteme von einer Freistellung nach der Vertikal-GVO profitieren können. Entscheidend ist, dass die gewählte Differenzierung – in Ansehung bestehender Kostenunterschiede der unterschiedlichen Vertriebskanäle – darauf abzielt, Anreize für angemessene Investitionen in Online- bzw. Offline-Vertrieb zu schaffen bzw. diese entlohnt (z.B. Ausstattung des Verkaufsraums, Schulung des Personals etc.). Wie bisher soll jedoch eine verbotene Kernbeschränkung vorliegen, wenn die Differenzierung in der Sache darauf abzielt, den Online-Vertrieb zu verhindern (Vertikal-LL-E, Rn. 195).

Der im Entwurf der neuen Leitlinien propagierte Bewertungsansatz ist zu begrüßen, trägt er doch den praktischen Bedürfnissen nach einer Flexibilisierung der Vertriebsgestaltung Rechnung. Wie weit diese Flexibilisierung geht, wird sich jedoch in der Praxis zeigen müssen. Wo verläuft die Trennlinie zwischen noch zulässiger (beabsichtigter) Förderung des stationären Vertriebs und unzulässiger Verdrängung des Online-Vertriebs, die als Kernbeschränkung einzuordnen wäre? Wie konkret müssen unterschiedliche Kosten der Vertriebskanäle, die ausgeglichen werden sollen, belegt werden? Hier bleibt zu hoffen, dass die Kommission ihre Ausführungen – wie verschiedentlich in der Konsultation gefordert – noch nachschärft.

Sollte die Kommission ihren Ansatz beibehalten, wird sich insbesondere mit Blick auf Deutschland zudem erweisen müssen, wie sich das Bundeskartellamt positionieren wird, das bei Doppelpreissystemen bisher traditionell einen strengen Ansatz verfolgte und diesen auch jüngst noch einmal betonte. Angesichts der (vorerst) bestehenden Unsicherheiten, sollten Hersteller von einer Konditionenspaltung daher nur vorsichtig Gebrauch machen. Eine Differenzierung der Großhandelskonditionen für den Online- und Offline-Vertrieb sollte in jedem Fall an den unterschiedlichen Kostenstrukturen orientiert sein und sorgfältig auf ihre tatsächlichen Wirkungen überprüft werden, um dem möglichen Vorwurf eines unzulässigen Ausschlusses des Online-Vertriebs zu begegnen.

Äquivalenzprinzip

Für den selektiven Vertrieb praktisch relevant ist zudem die vorgeschlagene Streichung des sog. Äquivalenzprinzips, wonach – jenseits etwaiger Doppelpreissysteme – qualitative Selektionskriterien für den Online- und Offline-Vertrieb bisher im Grundsatz gleichwertig sein mussten. Durch die Streichung erkennt die Kommission an, dass es sich bei Online- und Offline-Vertrieb um zwei grundsätzlich unterschiedliche Vertriebswege handelt, an die auch unterschiedliche Anforderungen gestellt werden können (z.B. Vorgaben zur Übernahme von Rücksendungskosten oder zum Angebot bestimmter (sicherer) Bezahloptionen im Online-Handel). Ungeachtet dessen ist allerdings zu berücksichtigen, dass die gewählten Selektionskriterien für den Online-Vertrieb auch zukünftig nicht zu einem (faktischen) Ausschluss desselben führen dürfen (Vertikal-LL-E, Rn. 221).

Die Streichung des Äquivalenzprinzips wurde in der Konsultation überwiegend begrüßt, wenngleich vielfach ergänzende Ausführungen zur Frage, wann eine zulässige Differenzierung zwischen Online- und Offline-Vertrieb in eine unzulässige Beschränkung des Internetvertriebs umschlage, gefordert wurden. Es bleibt abzuwarten, ob die Kommission hier im Detail nachlegt.

Paritätsklauseln

Eine praktisch ebenso bedeutsame Klarstellung findet sich nunmehr in Art. 5 Abs. 1 lit. d Vertikal-GVO-E, wonach sog. weite Paritätsklauseln von Online-Vermittlungsdiensten künftig von der Freistellung ausgenommen sein sollen. Im Rahmen der erfassten weiten (Einzelhandels-)Paritätsklauseln verbieten Betreiber von Online-Plattformen ihren Nutzern, die über die Plattform angebotenen Produkte/Dienstleistungen bei konkurrierenden Online-Vermittlungsdiensten zu günstigeren Bedingungen anzubieten. Nachdem derartige Klauseln u.a. vom Bundeskartellamt bei Hotelbuchungsportalen bereits als wettbewerbsschädlich eingestuft worden waren, möchte auch die Kommission sie zukünftig komplett vom Anwendungsbereich der Vertikal-GVO ausnehmen (Vertikal-LL-E, Rn. 337 ff.).

Umgekehrt stellt die Kommission klar, dass sog. enge (Einzelhandels-)Paritätsklauseln, die das Angebot günstigerer Konditionen auf einem eigenen Online-Kanal des Abnehmers (eigene Website) oder offline ausschließen, von der Freistellung durch die Vertikal-GVO gedeckt sind, sofern die 30%-Marktanteilsschwelle nicht überschritten wird. Gleiches gilt für weite und enge Paritätsklauseln, die nicht von einem Online-Vermittlungsdienst verwendet werden (Vertikal-LL-E, Rn. 333 ff., 346 ff.)

Dieser differenzierte Ansatz scheint in der Konsultation überwiegend positiv bewertet worden zu sein, wenngleich teilweise eine komplette Freistellung bzw. umgekehrt ein weiterreichender Ausschluss der Paritätsklauseln von der Vertikal-GVO gefordert wurde. Angesichts dieses Stimmungsbildes dürfte die Kommission an ihrem Vorschlag wohl festhalten.

Mit Blick auf eine mögliche Einzelfreistellung außerhalb des Anwendungsbereichs der Vertikal-GVO zeigt die Kommission zudem ein differenziertes Bewertungssystem auf, was zukünftig eine größere Sicherheit bei der Bewertung von Paritätsklauseln im Allgemeinen bieten dürfte (Vertikal-LL-E, Rn. 351 ff.). Für Deutschland ist allerdings ergänzend die eher strenge Entscheidungspraxis des BGH und des Bundeskartellamts zu berücksichtigen, sodass eine Einzelfreistellung von Paritätsklauseln voraussichtlich auch weiterhin auf hohe Hürden treffen wird.

Plattformverbote

Erfreulich klar positioniert sich die Kommission auch bei den bisher sehr kontrovers diskutierten Plattformverboten, wonach Hersteller ihren Händlern einen Verkauf über Plattformen wie den Amazon Marktplatz verbieten oder nur unter bestimmten Bedingungen erlauben. Nach Auffassung der Kommission sollen sowohl pauschale als auch bedingte Plattformverbote künftig möglich sein, und zwar unabhängig vom betroffenen Produkt oder Vertriebssystem. Es handelt sich bei Plattformverboten nach Ansicht der Kommission grundsätzlich nicht um eine unzulässige Beschränkung der effektiven Nutzung des Internets als Vertriebskanal, sondern lediglich um eine Ausgestaltung der Modalitäten des Internetvertriebs (Vertikal-LL-E, Rn. 194(a), 313 ff.). Dem Händler bleibt weiterhin die Möglichkeit z.B. über eine eigene Internetpräsenz zu verkaufen (und diese zu bewerben).

Wenngleich der eher großzügige Ansatz der Kommission im Rahmen der Konsultation teilweise kritisiert wurde, dürfte die Kommission ihren grundsätzlichen Standpunkt – auch angesichts der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Coty – wohl nicht mehr ändern. Mit Blick auf Deutschland bleibt jedoch abzuwarten, wie sich das Bundeskartellamt, das bisher einen deutlich strikteren Ansatz vertrat, positionieren wird. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Bundeskartellamt – in Teilen – bei seiner strengeren Linie bleibt.

Online-Werbung (insbesondere Preisvergleichsdienste)

Von praktisch großer Bedeutung sind auch die Ausführungen der Kommission zur Online-Werbung, die die Kommission als wesentlichen Bestandteil eines effektiven Internetvertriebs ansieht.

Beschränkungen der Online-Werbung von Händlern sind vor diesem Hintergrund daher nur freigestellt, wenn hiermit nicht die effektive Nutzung des Internets als Vertriebskanal verhindert wird. Entsprechend sieht die Kommission das (faktische) Verbot, bestimmte (wichtige) Werbekanäle zu nutzen (z.B. Ausschluss von Suchmaschinenwerbung oder das Verbot, Marken oder Warenzeichen zur Werbung im Internet zu nutzen), als unzulässige Kernbeschränkung an. Möglich bleiben allerdings qualitative Vorgaben zur Online-Werbung in den jeweiligen Kanälen (Vertikal-LL-E, Rn. 192(f), 196).

Praktisch bedeutsam sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen der Kommission zu sog. Preisvergleichsdiensten (z.B. idealo). Angesichts der Bedeutung solcher Seiten, insbesondere für kleinere Händler, die ihre Produkte über ihre eigene Website verkaufen, sieht die Kommission in einem Totalverbot – auch im Rahmen selektiver Vertriebssysteme – eine nicht freistellungsfähige Beschränkung des passiven Verkaufs. Entsprechende Verbote seien geeignet, den Internetvertrieb maßgeblich zu erschweren. Im Einklang mit ihren allgemeinen Ausführungen zur Online-Werbung hält die Kommission es allerdings für zulässig, wenn Hersteller qualitativ begründete Anforderungen an die Nutzung von Preisvergleichsdiensten stellen (Vertikal-LL-E, Rn. 192(f), 323 ff.).

Angesichts der gemischten Stellungnahmen im Rahmen der Konsultation erscheinen zwar Klarstellungen im Detail nicht ausgeschlossen, an der grundsätzlichen Position der Kommission wird sich allerdings voraussichtlich nichts ändern. Hersteller, die Vorgaben zur Nutzung von Preisvergleichsseiten bzw. allgemein zur Werbung im Internet machen, werden daher zukünftig genau prüfen müssen, ob ihre Vorgaben sich noch im Bereich der Qualitätssicherung bewegen. Entscheidend wird dabei insbesondere sein, ob sie geeignet sind, die Möglichkeit der Händler zu Werbung im Internet übermäßig einzuschränken, und daher ggf. als unzulässige Kernbeschränkung eingestuft werden könnten (z.B., weil die Qualitätsanforderungen so gestaltet sind, dass wesentliche Online-Werbedienste unabhängig vom Bemühen des Händlers nicht genutzt werden können).

Online-Vermittlungsdienste

Schließlich bringen die Entwürfe der Vertikal-LL bzw. der Vertikal-GVO bedeutsame Veränderungen bei der kartellrechtlichen Bewertung des Vertriebs über Online-Vermittlungsdienste.

Praktisch relevant ist, dass die Kommission Online-Vermittlungsdienste nunmehr wohl auch mit Blick auf die Verkäufe über die Plattform (und nicht nur mit Blick auf die Vermittlungsleistungen) als "Anbieter" einordnet. Ziel dieser Definition ist es, Verhaltensspielräume von Online-Vermittlungsdiensten gegenüber ihren Nutzern im Vergleich zum Status quo stärker zu kontrollieren. Das hat Folgen insbesondere bei der Bewertung von Preisbindungen bzw. bei der Möglichkeit, Plattformen als echte Handelsvertreter zu qualifizieren (Vertikal-LL-E, Rn. 60 ff.).

  • Unter der bisherigen Vertikal-GVO waren Vorgaben des Betreibers einer Online-Plattform zur Preissetzung der Verkäufer auf dieser Online-Plattform bei Marktanteilen von nicht mehr als 30% vom Kartellverbot freigestellt. Die nunmehr erfolgte Einordnung der Plattformbetreiber als "Anbieter" (auch) der verkauften Ware, hätte zur Folge, dass Fest- oder Mindestpreisvorgaben gegenüber den über die Plattform ihre Produkte oder Dienstleistungen anbietenden Verkäufern als unzulässige Preisbindung der zweiten Hand zu qualifizieren wären (Vertikal-LL-E, Rn. 179).
  • Schließlich führt die Einordnung von Plattformbetreibern als "Anbieter" nach Auffassung der Kommission dazu, dass diese grundsätzlich nicht mehr als echte Handelsvertreter der Verkäufer angesehen werden können. Etwaige Regelungen im Verhältnis Plattform/Verkäufer wären daher ohne Ausnahme am Kartellverbot zu messen und müssten bei Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung die Voraussetzungen der Vertikal-GVO erfüllen (Vertikal-LL-E, Rn. 44).

Während das Ziel der Kommission, Plattformanbieter stärker zu kontrollieren, durchaus auf Zustimmung stieß, wurde der "definitorische Kunstgriff", Plattformen – entgegen der wettbewerblichen Wirklichkeit – grundsätzlich als Anbieter zu qualifizieren, überwiegend kritisiert. Angesichts der erheblichen Kritik ist nicht ausgeschlossen, dass die Kommission hier – jedenfalls im Detail – noch nachbessert. In der Sache dürfte sich allerdings kaum etwas ändern. Betreiber und Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten sollten daher die Entwicklungen im Blick halten.

Fazit

Die Neuerungen beim Online-Vertrieb sind weitreichend und standen in der Konsultation dementsprechend im Fokus vieler Eingaben. Vor diesem Hintergrund wird es interessant sein zu sehen, welche Änderungen die Kommission ggf. in letzter Minute noch vornimmt. Bereits jetzt wird jedoch deutlich, dass viele Hersteller und Händler ihre gegenwärtigen Ansätze beim Online-Vertrieb auf den Prüfstand stellen müssen.

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 3 finden Sie hier.

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Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 1)

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Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 1)

20. Januar 2022

Dieser Beitrag bezieht sich auf die Entwurfsfassung der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL. Eine Übersicht zur finalen Fassung findet sich hier.

Am 1. Juni 2022 treten die überarbeitete Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) sowie die dazugehörigen Vertikal-Leitlinien (Vertikal-LL) der Europäischen Kommission (Kommission) in Kraft. Sie ersetzen die aktuellen Fassungen der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL, die zum 31. Mai 2022 auslaufen und nicht nur aufgrund der zunehmenden Digitalisierung dringend reformbedürftig sind.

In diesem Rahmen hat die Kommission Anfang Juli 2021 im Anschluss an ihre bereits 2018 begonnene Evaluation des geltenden Regelwerks Entwürfe für eine neue Vertikal-GVO (Vertikal-GVO-E) bzw. neue Vertikal-LL (Vertikal-LL-E) vorgelegt und interessierten Dritten bis zum 17. September 2021 die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt, wovon u.a. Unternehmen, nationale Wettbewerbsbehörden und Verbände regen Gebrauch gemacht haben. Im November 2021 veröffentlichte die Kommission schließlich eine Zusammenfassung der eingegangenen Stellungnahmen, auf deren Grundlage sie ihre bisherigen Entwürfe abschließend evaluiert und ggf. auch noch Änderungen vornimmt. Die Veröffentlichung der finalen Fassungen der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL ist für das zweite Quartal 2022 angekündigt.

Die bis zur Veröffentlichung der finalen Dokumente und dem Inkrafttreten der neuen Regelungen verbleibende Atempause nutzen wir, um die praktisch wichtigsten Themen, die die Konsultation sowie die öffentliche Diskussion in den vergangenen Monaten bestimmt haben und die Unternehmen in den nächsten Jahren maßgeblich beschäftigen werden, noch einmal aufzuarbeiten. Dabei werfen wir an geeigneter Stelle auch einen Blick in die Glaskugel und überlegen, welche Regelungen es voraussichtlich in die endgültigen Fassungen schaffen werden.

Der Beitrag besteht aus drei Teilen. Der vorliegende erste Teil beleuchtet die Neuerungen beim dualen Vertrieb sowie dem Handelsvertreterprivileg. Der zweite Teil wird sich den Themen rund um den Online-Vertrieb widmen, bevor der abschließende dritte Teil weitere, praktisch relevante Entwicklungen in den Bereichen Preisbindung der zweiten Hand, Alleinvertrieb und Wettbewerbsverbote in den Blick nimmt.

I. AUSGANGSLAGE UND ZIELE

Die Vertikal-GVO bzw. die Vertikal-LL sind in der kartellrechtlichen Praxis von besonderer Relevanz, da sie die zentralen Vorgaben der Kommission zur kartellrechtlichen Bewertung von Vertriebssystemen enthalten. Die Grundkonzeption der Vertikal-GVO bleibt in den Entwürfen der Kommission zwar unverändert. So sind vertikale Vereinbarungen, die keine Kernbeschränkungen enthalten und deren Parteien die 30%-Marktanteilsschwelle nicht überschreiten, weiterhin freigestellt. Es ist aber davon auszugehen, dass die geplanten Neuerungen in verschiedenen Teilbereichen der Vertikal-GVO und der Vertikal-LL erhebliche praktische Auswirkungen haben werden.

Die Kommission verfolgt mit ihrer Überarbeitung der Vertikal-GVO bzw. der Vertikal-LL drei Hauptziele:

  • Erstens, die Verbesserung der Passgenauigkeit der Freistellung (Safe Harbour) in den Bereichen dualer Vertrieb, Paritätsklauseln, Beschränkungen des aktiven Verkaufs und Online-Vertrieb.
  • Zweitens, die Erweiterung und Verbesserung der Regelungen bzw. Hinweise zum Online-Vertrieb, einschließlich der Plattformwirtschaft.
  • Drittens, eine Reduktion der Regelungskomplexität, um damit die Rechtsbefolgung für betroffene Unternehmen zu erleichtern und die damit verbundenen Kosten zu senken.

Ob die Kommission diesen Ansprüchen insgesamt gerecht wird, wird sich angesichts der Vielgestaltigkeit der unterschiedlichen Regelungsbereiche wohl erst in den kommenden Jahren zeigen. Bereits jetzt lässt sich aber festhalten, dass sich in den Entwürfen zwar erfreuliche Klarstellungen finden, die Rechtssicherheit schaffen, aber auch neue Stolpersteine entstanden sind, die – sofern die Kommission hier keine Änderungen mehr vornimmt – Handlungsbedarf bei vielen Unternehmen begründen dürften.

Mit Blick auf die weitere Entwicklung ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Vertikal-LL zwar praktisch von großer Bedeutung sind, weil sie die Rechtsauffassung der Kommission niederlegen, aber als solche für die nationalen Gerichte und Behörde nicht rechtlich verbindlich sind. Insoweit bleibt daher abzuwarten, wie die nationalen Wettbewerbsbehörden, allen voran das Bundeskartellamt, die Ausführungen der Kommission in den einzelnen Bereichen in ihre bisherige Praxis integrieren werden.

II. Dualer Vertrieb

Ein Schwerpunktthema in den Entwürfen zur Vertikal-GVO bzw. den Vertikal-LL und der Diskussion der vergangenen Monate ist der duale Vertrieb, dessen praktische Bedeutung angesichts der Relevanz des Online-Handels in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat und den die Kommission vermehrt kritisch sieht.

Hintergrund ist, dass mit dem dualen Vertrieb aufgrund der Doppelrolle, die der Hersteller einnimmt, d.h. er ist zugleich Vertragspartner der Vertriebshändler (Vertikalverhältnis) und deren Wettbewerber (Horizontalverhältnis), das Risiko möglicher wettbewerbsbeschränkender Wirkungen einhergeht. Jenseits möglicher Absprachen auf horizontaler Ebene (Kollusion) resultieren diese Bedenken insbesondere aus dem (zu einem gewissen Grad) unvermeidlichen Informationsaustausch im Vertikalverhältnis, der Auswirkungen auf das Horizontalverhältnis haben kann.

Ungeachtet dieser Ausgangslage war der duale Vertrieb nach bisheriger Rechtslage bei Einhaltung der 30%-Marktanteilsschwellen und des Verbots der Kernbeschränkungen freigestellt. Zur Frage, wie weit diese vertikale Freistellungswirkung angesichts der horizontalen Dimension des dualen Vertriebs reichte, hat die Kommission in der Vergangenheit nicht dezidiert Stellung genommen. Dies soll sich unter der neuen Vertikal-GVO ändern. Zwar behält die Kommission ihren grundsätzlichen Ansatz bei, auch den dualen Vertrieb unter bestimmten Voraussetzungen der Vertikal-GVO zu unterwerfen, sieht aber im Detail praktisch sehr bedeutsame Neuerungen vor (eine vertiefte, kritische Diskussion verschiedener Aspekte findet sich auch im Blogbeitrag Möller/Weise, Dualer Vertrieb auf dem Prüfstand (hier)).

Informationsaustausch

Für den Informationsaustausch zwischen Hersteller und Händler anlässlich des dualen Vertriebs soll zukünftig eine zusätzliche Marktanteilsschwelle von 10% auf der Einzelhandelsebene gelten:

  • Bei gemeinsamen Marktanteilen von Hersteller und Händler auf der Einzelhandelsebene von nicht mehr als 10% soll auch ein etwaiger (horizontaler) Informationsaustausch nach der Vertikal-GVO ausdrücklich freigestellt sein (Vertikal-LL-E, Rn. 87).
  • Bei (möglichen) Marktanteilen von über 10%, aber nicht mehr als 30% bleibt zwar die allgemeine Freistellung des dualen Vertriebs erhalten, der (horizontale) Informationsaustausch muss aber einer Einzelfallprüfung zugeführt werden, da dieser nicht von der Freistellung profitiert (Vertikal-LL-E, Rn. 90).

Wenngleich zu begrüßen ist, dass die Kommission erstmals skizziert, wie sie sich die Bewertung des Informationsaustauschs im dualen Vertrieb unter der Vertikal-GVO vorstellt, erscheint das gewählte Regelungskonzept nicht praktikabel und wurde im Rahmen der Konsultation von vielen Seiten kritisiert: Die zusätzliche 10% Schwelle ist sehr niedrig angesetzt und schafft in den Unternehmen neue Unsicherheiten bei der Selbstveranlagung. Marktanteile zu kalkulieren ist kompliziert und mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Es bleibt daher abzuwarten, ob die Kommission hier noch Änderungen vornimmt (z.B. die Marktanteilsschwelle erhöht).

Zudem lässt die Kommission bisher ein konkretes Bewertungskonzept für den Informationsaustausch oberhalb von 10% Marktanteil vermissen. Die Horizontal-Leitlinien, auf die die Kommission ausdrücklich Bezug nimmt (Art. 2 Abs. 5 Vertikal-GVO-E, Vertikal-LL-E, Rn. 90), enthalten bisher keine Ausführungen für den Sonderfall des dualen Vertriebs, bei dem zur Vertriebsorganisation ein Austausch von Informationen zu einem gewissen Grad unumgänglich ist. Die derzeitige Überarbeitung der Horizontal-LL ist noch nicht bis zur Veröffentlichung eines Entwurfsstands fortgeschritten. Erst mit Vorliegen des überarbeiteten Entwurfs der Horizontalleitlinien, mit dem in der ersten Jahreshälfte 2022 zu rechnen ist, werden die Folgen des neuen Regelungskonzepts daher vollständig sichtbar werden.

Mehrstufiger Vertrieb

Wichtige Neuerungen enthalten die Entwürfe auch beim mehrstufigen, dualen Vertrieb.

Die Kommission stellt in ihren Entwürfen zunächst klar, dass auch der duale Vertrieb zwischen Importeuren/Großhändlern auf der einen und Einzelhändlern auf der anderen Seite der Vertikal-GVO unterfallen soll (Vertikal-LL-E, Rn. 88 f.). Die Vertikal-GVO wäre – anders als bisher – nicht auf das Verhältnis Hersteller/Einzelhändler beschränkt. Diese Ausweitung des Anwendungsbereichs ist zu begrüßen, zumal die Differenzierung der verschiedenen Vertriebsstufen in der Praxis häufig nicht sicher durchführbar ist.

Unglücklich ist hingegen, dass die Kommission im Gegenzug das Verhältnis zwischen Hersteller und Großhändler/Importeur nicht (mehr) in den Anwendungsbereich der Vertikal-GVO einbezieht. Ein Wettbewerbsverhältnis darf nur auf Einzelhandelsebene bestehen. Ein dualer Vertrieb auf Großhandels- bzw. Importeursebene, d.h. der Hersteller tritt z.B. neben eigenständigen Großhändlern selbst als Großhändler auf, ist nach den Entwürfen nicht (mehr) von der Freistellung nach der Vertikal-GVO erfasst. Diese Differenzierung ist in der Sache nicht nachvollziehbar und angesichts der Abgrenzungsschwierigkeiten mit Blick auf die unterschiedlichen Vertriebsstufen auch nicht praxisgerecht. Es bleibt zu hoffen, dass die Kommission ihre Position – wie vielfach in der Konsultation gefordert – noch revidiert und auch den dualen Vertrieb auf Großhandelsebene einbezieht.

Bezweckte Wettbewerbsbeschränkung

Ein (neuer) Unsicherheitsfaktor liegt schließlich darin, dass die Kommission die Freistellung daran knüpfen will, dass Vereinbarungen zum dualen Vertrieb keine bezweckten Beschränkungen des Wettbewerbs zwischen Hersteller und Händler enthalten (Art. 2 Abs. 6 Vertikal-GVO-E). Die praktische Schwierigkeit dieses zusätzlichen Kriteriums liegt darin, dass die Abgrenzung zwischen bezweckten und bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen in Grenzfällen nicht gesichert ist und typischerweise nicht ohne eine konkrete Bewertung des wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhangs auskommt. Die Kommission untergräbt damit – ohne Not – die klar strukturierte Prüfung der in Art. 4 Vertikal-GVO-E abschließend aufgezählten Kernbeschränkungen und setzt sich in Widerspruch zu ihren Reformzielen. Es bleibt abzuwarten, wie die Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden dieses Kriterium – sollte es beibehalten werden – in der Praxis handhaben werden und ob sich eine praxisgerechte Lösung etabliert.

Hybride Online-Plattformen

Mit Blick auf den Internetvertrieb sieht die Entwurfsfassung der Vertikal-GVO schließlich eine Sonderregel für sog. hybride Online-Plattformen vor. Darunter sind Plattformen zu verstehen, auf denen der Betreiber im Wettbewerb mit den Nutzern der Vermittlungsdienste Waren/Dienstleistungen verkauft (wie z.B. Amazon Marktplatz, Zalando oder Otto).

Art. 2 Abs. 7 Vertikal-GVO-E sieht vor, dass Vereinbarungen mit hybriden Online-Vermittlungsdiensten im Rahmen dualer Vertriebssysteme unabhängig von den Marktanteilen nicht gruppenfreistellungsfähig sind. Praktisch bedeutet dies, dass Betreiber hybrider Online-Vermittlungsdienste – sofern eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt – nur bei Erfüllung der Kriterien für eine Einzelfreistellung rechtssicher in ein duales Vertriebssystem einbezogen werden können (dazu Vertikal-LL-E, Rn. 91 f.). 

Die Reaktionen auf den Ausschluss hybrider Plattformen fallen unterschiedlich aus. Während die Pauschalität des Ausschlusses und die damit einhergehenden Unsicherheiten bei der Einbeziehung hybrider Online-Vermittlungsdienste kritisiert wurden, findet der Ausschluss bei vielen nationalen Wettbewerbsbehörden, u.a. beim Bundeskartellamt, Unterstützung. Eine Kehrtwende durch die Kommission erscheint vor diesem Hintergrund eher fernliegend.

Fazit

Die überarbeitete Vertikal-GVO wird voraussichtlich bedeutende Neuerungen bei der kartellrechtlichen Bewertung dualer Vertriebssysteme bringen, wenngleich angesichts der teilweise erheblichen Kritik an der Neukonzeption (Detail-)Änderungen in letzter Minute nicht ausgeschlossen erscheinen. Ungeachtet dessen sollten Unternehmen, die gegenwärtig auf ein duales Vertriebssystem setzen, sich bereits jetzt mit den zu erwartenden Änderungen auseinandersetzen. Die Frist zur Umsetzung der Anforderungen der Vertikal-GVO läuft bei bestehenden Vertriebssystemen bis zum 31. Mai 2023. Ab dem 1. Juni 2023 müssen auch bereits implementierte duale Vertriebssysteme den Vorgaben der neuen Vertikal-GVO entsprechen.

Ein besonderes Augenmerk wird dabei perspektivisch auf der kartellrechtskonformen Organisation des in einem dualen Vertriebssystems unerlässlichen Informationsaustauschs zwischen Hersteller und Händler liegen müssen, um dem Risiko eines kartellrechtswidrigen Informationsaustauschs wirksam zu begegnen. Ggf. müssen geschäftlich unabdingbare Informationsflüsse zusätzlich durch organisatorische Maßnahmen wie räumliche und personelle Trennungen sowie die Nutzung separater IT-Systeme (Chinese Walls) abgesichert werden, um die Compliance des Vertriebssystems zukünftig zu gewährleisten.

III. HANDELSVERTRETER

Für die in der Praxis bedeutsamen Handelsvertreterverträge enthält der Entwurf der Vertikal-LL wichtige Klarstellungen (Vertikal-LL-E, Rn. 17 ff.).

Echte Handelsvertreter zeichnen sich dadurch aus, dass sie beim Vertrieb der Produkte für ihren Prinzipal – im Gegensatz zu unechten Handelsvertretern oder eigenständigen Händlern – keine oder nur unbedeutende unternehmerische Risiken tragen. In der Folge sind sie dem Prinzipal zuzurechnen und nicht als eigenständige Marktteilnehmer anzusehen. Das Kartellverbot findet daher zwischen Prinzipal und Handelsvertreter mit Blick auf den Vertrieb der Produkte des Prinzipals keine Anwendung, womit z.B. Preisvorgaben des Prinzipals gegenüber dem echten Handelsvertreter, anders als gegenüber Vertriebshändlern, zulässig sind (sog. Handelsvertreterprivileg).

Wenngleich die Grundsätze des Handelsvertreterprivilegs anerkannt sind, begegnet die rechtskonforme Ausgestaltung von echten Handelsvertretersystemen erheblichen praktischen Herausforderungen. Dabei bereiten insbesondere die Organisation und die Verteilung der betrieblichen Risiken in Randbereichen Schwierigkeiten. In ihrem Entwurf der Vertikal-Leitlinien nimmt die Kommission zu einigen praktisch bedeutsamen Problembereichen Stellung und bietet so wertvolle Hilfestellungen für die Praxis:

  • Zunächst stellt die Kommission klar, dass ein zwischenzeitlicher Eigentumserwerb an den verkauften Waren durch den Handelsvertreter der Einordnung als echter Handelsvertreter und damit der Anwendbarkeit des Handelsvertreterprivilegs nicht entgegensteht (Vertikal-LL-E, Rn. 31(a)).
  • Praktisch bedeutsam ist auch, dass die Kommission nunmehr verschiedene Ansätze zum Ausgleich etwaiger finanzieller Risiken bzw. Kosten beim Handelsvertreter erläutert und anerkennt. Danach soll es z.B. zukünftig möglich sein, etwaige Kosten des echten Handelsvertreters über prozentuale Pauschalsätze zu entgelten, sofern diese Pauschalsätze so angesetzt sind, dass sie die zu erwartenden produkt- und vertragsspezifischen Kosten des Handelsvertreters abdecken (Vertikal-LL-E, Rn. 33).
  • Zusätzlich stellt die Kommission erfreulicherweise klar, dass auch sog. Handelsvertreter mit Doppelprägung zulässig sind. Von einer Doppelprägung spricht man, wenn der Handelsvertreter für ein- und denselben Hersteller zugleich als eigenständiger Händler und echter Handelsvertreter tätig wird. Voraussetzung ist nach Auffassung der Kommission, dass die in der jeweiligen Tätigkeit vertriebenen Produkte hinreichend klar voneinander abgegrenzt werden können. Unproblematisch ist dies in Fällen, in denen die als Vertriebshändler bzw. als Handelsvertreter vertrieben Produkte offensichtlich unterschiedlichen Märkten angehören. Bei der (möglichen) Zugehörigkeit zu einem einheitlichen Markt muss hingegen genau geprüft werden, ob die in der jeweiligen Funktion vertriebenen Produkte objektiv (hinreichend) unterscheidbar sind, z.B. aufgrund ihrer technischen oder qualitativen Eigenschaften oder ihrer Funktionalität. Sofern eine hinreichende Abgrenzbarkeit bejaht wird, muss zudem sichergestellt werden, dass der Abnehmer in seiner Rolle als Handelsvertreter – trotz der Doppelprägung – kein relevantes unternehmerisches Risiko trägt. Die insoweit von der Kommission vorgesehene Risikoverteilung und -abgrenzung gerät allerdings sehr komplex, und es wird sich zeigen müssen, ob sie praktisch handhabbar ist (Vertikal-LL-E, Rn. 34 ff.).

Die Ergänzungen der Kommission sind grundsätzlich zu begrüßen, sie bieten mehr Orientierung und Sicherheit und eröffnen neue Gestaltungsoptionen, wenngleich sicher im Detail Verbesserungsbedarf besteht. Diese Einschätzung wird im überwiegenden Teil der Stellungnahmen im Rahmen der Konsultation geteilt. Ungeachtet der grundsätzlich positiven Bewertung gilt auch zukünftig, dass die kartellrechtskonforme Ausgestaltung von Handelsvertretersystemen eine Herausforderung darstellt: Fehler führen in Anbetracht der gegenüber dem Handelsvertreter typischen Preisbindungen, die bei regulären Händlern als Kernbeschränkungen verboten sind, unmittelbar in einen bußgeldrelevanten Bereich. Unternehmen, die ein Handelsvertretersystem betreiben oder ein solches aufsetzen wollen, sollten die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben daher sorgfältig prüfen.

Teil 2 finden Sie hier.

Teil 3 finden Sie hier.

Der Blogbeitrag steht hier für Sie zum Download bereit: Entwürfe der Vertikal-GVO und Vertikal-Leitlinien – Was erwartet uns? (Teil 1)

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Dr. Max Schulz

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